Alternative Musik in Kairo: Aufbruch & Verwirrung
Die alternativen Musikszenen in Kairo sind in den letzten Jahren stark gewachsen. Metal, Indie Rock, Punk, Rap, Elektronika, Mahragan – es sollen rund 600 Bands, Kollektive und DJs sein. Die Musikerinnen und Künstler erzählen, wie sie künstlerisch auf die politischen Umstürze in Ägypten reagieren und wo sie Chancen und Hürden für ihre Zukunft sehen. Der Artikel blickt zudem zurück in die Geschichte der alternativen Musik in Kairo: auf 1944, wo Halim El-Daph die Musique Concrète erfand; und auf die 1990er Jahre, in denen Metal-Musiker als Satanisten gebrandmarkt wurden.
Vor der Revolution: Eine kurze Geschichte alternativer und experimenteller Musik in Kairo
«Ein Blick in die Musikgeschichte zeigt es: Mit die spannendste Musik ist in turbulenten Zeiten entstanden, etwa in Italien im 19. Jahrhundert.»
Mohammed Antar, 8.3.2013
1944 schleichen sich Halim El-Daph (*1921) und sein Freund Kamal Iskander in Frauenkleidern in eine Zar-Zeremonie, die traditionellerweise Frauen für Frauen ausführen. El-Daph nimmt das Heilungsritual mit einem modernen Drahtrekorder auf, manipuliert die Klänge im Studio und bringt sie in einer Galerie in Kairo zur Uraufführung. «The Expression of Zaar» ist nicht bloss für Kairo revolutionär, sondern gilt heute als erstes Tondokument der Musique Concrète weltweit.
24 Jahre später, 1968, schreibt sich ein weiterer Ägypter auf die internationale Landkarte der modernen Musik ein. Der ägyptische Schlagzeuger Salah Eldin Ahmad Ragab (1935–2008), Major der Militärmusik, gründet die Cairo Jazz Band. Er experimentiert zwischen Eigenkompositionen und Free Jazz und musiziert unter anderem mit dem stilbildenden US-amerikanischen Sun Ra Arkestra.
Zur selben Zeit covert die ägyptische Band Wrong Notes den psychedelischen Rock- und Garagen-Sound aus den USA und England – nachzuhören auf den LPs Waking Up Scheherazade – und The Mass, The Black Coats und Les Petits Chats verarbeiten Riffs und Sounds des frühen Heavy Metal. Led Zeppelin nehmen in den Studios von Hany Mehanna in Giza auf, und Ritchie Blackmore von Deep Purple jammt mit lokalen Bands. Die Kairoer Szene wächst und wird vielfältiger. Anfang der 1990er-Jahre füllen Bands wie Terra, Andromeda, Steel Edge und Sidewinder Stadien. Sie werden von ägyptischen und multinationalen Firmen gesponsert, und sind Insidern in Europa und den USA bekannt. Fathy Salama mischt derweil arabische Musikstile, Jazz, Funk und Pop. Er nimmt 1991 sein Album «Camel Dance» beim Schweizer Label Face Music auf und tourt mit der Genfer Rockgruppe The Maniacs.
Die grosse Wende kommt 1997. Die ägyptische Regierung brandmarkt Metal-Bands und -Fans als Satanisten und lässt Hunderte von ihnen verhaften (Norient Link: Podcast «Wir sind keine Satanisten» und Artikel «Metal in Egypt»). Die Regierung ist unter grossem Druck von islamistischen Gruppierungen und will sie mit dieser Aktion wohl gnädig stimmen. Die Falschanklage trifft die Szene hart. Erst heute wächst sie langsam wieder zu ihrer damaligen Größe an.
«1996 spielten wir in Bars, auf Schiffen, ja sogar Open Airs. Wir kleideten uns wild und schmierten Make-up ins Gesicht. Die Regierung bekam Angst, sie sah die Bewegung grösser werden, sah, dass Drogen im Spiel waren, sah den Status Quo gefährdet. Viele Musiker wurden verhaftet. Das war der Tod unserer Musikszene.»
Mahmoud Refat, 2003
2003, mein erster Besuch in Kairo (Norient Link: «Leise Musiker in einer lauten Stadt»). Der pan-arabische Pop ist omnipräsent. Videoclips von Popstars wie Amr Diab flimmern Tag und Nacht über die Bildschirme saudi-arabischer Satellitensender. Der ägyptische Präsident «Gamal Abdel-Nasser [1918-1970] wollte die Bevölkerung auf der Strasse, die Saudis wollen die Bevölkerung auf dem Sofa», schreibt der Journalist Andrew Hammond über die Satelliten-TV-Revolution und die Privatisierung der Medien in den 1990er-Jahren.
Der senegalische Trommler Mouhamadou Gaye, die Elektronika-Künstler Hassan Khan und Omar Kamel, die alternative Popband Wust el Balad und der armenische Fusion-Jazz-Musiker George Kazazian, sie alle klagen in meinen Interviews über zu wenige Auftrittsorte, die Zensur, fehlende Absatzkanäle und das Desinteresse der Medien. Fathy Salama hat soeben ein Jahr lang Anträge an das Kulturministerium und den Staatssicherheitsdienst gestellt und 10.000 ägyptische Pfund – rund 2.000 Euro – bezahlt: für die Lizenz zum Publizieren von Musik.
Auf der Nilinsel Manial el-Roda besuche ich auch Mahmoud Refat. Er experimentiert mit selbstgebauten Mikrofonen, nimmt Geräusche in der Stadt und auf dem Land auf, manipuliert sie und schafft neue Hörbilder – ähnlich wie Halim El-Daph fünfzig Jahre vor ihm. Mir gefällt sein sorgfältiger und gleichzeitig unkonventioneller Umgang mit Sound. Ich schlage ihn bei der Schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia – ich sass damals im Stiftungsrat – für ein Residenzprogramm in der Schweiz vor. Dort arbeitet Refat mit dem Berner Klangkünstler Zimoun am Label-Projekt «Leerraum», und kurz danach gründet er in Kairo 100Copies: Das Label steht heute im Zentrum der alternativen Musikszene (Norient Link: «100 Copies from Cairo»).
2013 – Alternative Musik boomt wieder
März 2013. Zehn Jahre später recherchiere ich wieder zum Thema alternative Musik in Kairo – nachdem ich im April 2011 für Podcasts zum Thema Musik und Islam hier war. (Norient Link: «Islam und Musik in Kairo») Der Tahrir, Hauptschauplatz der ägyptischen Revolution von 2011, ist für den Verkehr geschlossen. Die Auswirkungen scheinen in der ganzen Stadt spürbar. Meine Planung war utopisch, denke ich bei einer der langen Taxifahrten. Vier bis fünf Musikerinnen und Musiker wollte ich pro Tag treffen, denn die alternative Musikszene ist explodiert. Metal, Indie Rock, Punk, Rap, Elektronika und vieles mehr, findet sich im Internet; es sollen rund 600 Bands sein, erzählt mir ein Musiker. Grösse und Vielfalt ähneln derjenigen in Beirut. Die Beiruter Musiker sehen ihre Stadt als Zentrum der alternative Musikkultur in der arabischen Welt, die Kairoer Musiker beanspruchen dasselbe für ihre Stadt – das merke ich sehr bald. Mein Eindruck: Beirut hat mehr Labels, Festivals und Clubs, Kairo das grössere Publikums- und Marktpotenzial (Buch-Tipp: «Local Music Scenes and Globalization – Transnational Platforms in Beirut»)
4. März 2013. Im Goethe-Institut treffe ich Tamer Abu Ghazaleh, einen sehr aktiven Musiker und Netzwerker. Spätestens seit Beginn der ägyptischen Revolution, sagt er, seien viele Ägypter auf die alternativen Musikszenen aufmerksam geworden. Das will er ausnützen:
«Der ägyptische Mainstream hat sich bis jetzt keinen Deut um neue Musik geschert. Es waren vorwiegend europäische Kulturförderinstitutionen und NGO, die uns unterstützten. Jetzt wollen wir zu einem grossen Teil selbstragend werden. 2007 haben wir das EKA3 Label gegründet. Bald waren wir auch Vertrieb und Konzertagentur, und heute lizenzieren wir unsere Musik für Filme und Werbung. Wir sind regional tätig, in Kairo, Beirut, Amman und Palästina.»
Tamer Abu Ghazaleh, 4.3.2013
Die Künstler, Musiker, DJs und Kulturinstitutionen arbeiten mit Vorliebe in der Innenstadt – und setzen so einen Kontrapunkt zur Stadtentwicklung; denn die Eliten ziehen gerne weg in die teuren Außenbezirke Heliopolis und Nasr City, oder in die neuen Satellitenstädte Madinet Sitta Oktobar und Madinet es-Sadat. Mahmoud Refat lebt jetzt in der Innenstadt. Nicht weit von seiner neuen Wohnung hat er den 100Copies Music Space eröffnet, Aufnahmestudio, Proberaum und Konzertclub in einem, dreihundert Meter vom Tahrir-Platz entfernt.
7. März 2013, ReTune Studio, 100Copies Music Space. Die fünf jungen Musikerinnen und Musiker der Band Egyptian Aliens proben mit drei Laptops, Keyboard, Schlagzeug und Schellenring. Bald soll die Musik prägnant genug klingen und dann auf Schallplatte veröffentlicht werden – die neue Vinyl-Schneidemaschine von 100Copies macht’s möglich, erzählt die Musikerin und Künstlerin Yara Mekawei:
«Seit fünfzehn Jahren wird in Ägypten kein Vinyl mehr produziert. Wir wollen diese Tradition jetzt neu beleben.»
Yara Mekawei, 7.3.2013
5. März 2013. Sound-Art-Performance in einem heruntergekommenen Wohnblock in der Innenstadt, im zehnten Stock. Ein rot-gelber Zwirbel dreht endlos auf der Leinwand. Ola Saad sitzt davor, starrt in ihren Laptop und entlockt ihm Geräusche und Klänge. Die meisten Zuhörer sind ostafrikanische Familien, die im Haus leben. Väter, Mütter und Kinder, denen diese Sounds und Bilder eher fremd erscheinen. Sie bleiben aber sitzen, diskutieren, lachen, sind vielleicht froh, dass etwas läuft. Nach der Performance rede ich mit Ola Saad über ihr Interesse an experimentellen Klängen und über die gewachsene Szene. Sie verweist auf Ahmed Basiony als Hauptinitiator. Er hatte seit 2006 an der Helwan-Universität, im Department for Art Education Workshops zu Sound Art durchgeführt. Sie und viele andere – die Egyptian Aliens etwa – hätten daran teilgenommen:
«Zum ersten Mal habe ich dank ihm mit Sound gearbeitet. Sound ist Kunst und Politik, das hat er uns gelehrt. Mit meinen Sound-Art-Performances will ich immer auch ihm gedenken.»
Ola Saad, 5.3.2013
2011: Musizieren auf dem Tahrir-Platz
«I have a lot of hope if we stay like this. Riot police beat me a lot. Nevertheless I will go down again tomorrow. If they want war, we want peace. I am just trying to regain some of my nation’s dignity.»
Ahmed Basiony, via Facebook, 26. Januar 2011, 22 h
Ahmed Basiony starb am 28. Januar 2011 an der Folge von Schussverletzungen, zugefügt von Scharfschützen der ägyptischen Polizeieinheiten auf dem Tahrir-Platz.
24. Januar bis 11. Februar 2011. Die Ägyptische Revolution auf dem Tahrir-Platz verfolgte ich via Internet und Fernsehen – und heute, nachwirkend, kann ich mir die vielen Dokumentarfilme anschauen, die produziert worden sind. Eine ziemlich neue Situation: hautnah dabei, aber ohne Angst um das eigene Leben. Im Netz erscheint der Tahrir-Platz als akustischer Jahrmarkt unterschiedlichster Geschmäcker (Norient Link: «Im Rhythmus der Revolution»): Muslime und koptische Christen halten ihre Gottesdienste ab. Männer und Frauen trommeln, klatschen und erfinden spontan Lieder – oft über den noch immer amtierenden Staatspräsidenten Husni Mubarak:
Wer sind wir, und wer ist er? Wir sind Arbeiter und Bauern, und er ist der Dieb Ägyptens. Wer sind wir, und wer ist er? Er trägt die neueste Mode, und wir leben zu zehnt in einem Raum.
Medial entflammt ein Wettbewerb für die musikalische Hymne der Revolution. Die Band Eskenderella spielt Stücke von Sayed Darwish, dem 1923 verstorbenen Urvater des ägyptischen Protestliedes: «Um Ya Masri» (Erhebe Dich, Ägypter), oder die von ihm geschriebene Nationalhymne «Biladi, Biladi» (Mein Land, Mein Land). El-Tanbura aus Port Said erinnert an den anti-imperialistischen Widerstand im Suez-Krieg von 1956. Die Folk-Rock Gruppe Black Theama wirbt für die Kultur der Nubier, und die alternative Popband Wust el-Balad tritt wohl vor so vielen Zuschauern auf wie nie zuvor.
«Die Tage auf dem Tahrir-Platz waren die besten Tage meines Lebens. Auch wenn Menschen gestorben sind. Wir durchlebten die ganze Palette menschlicher Emotionen: weinen, lachen, in Panik wegrennen, keinen Schlaf finden, den Leuten helfen, feiern. Tag und Nacht waren wir da. Du triffst diese Gruppe, dann die nächste. Du siehst spannende Graffiti, freust Dich über eine Musik.»
Dina El-Gharib, 10.3.2013
10. März 2013. Ich treffe die Künstlerin und DJane Dina El-Gharib in ihrer Wohnung in Heliopolis. El-Gharib tritt seit vielen Jahren einmal pro Woche im After Eight auf, einem Club in der Innenstadt, den es schon 2003 gab. Im Januar und Februar 2011 sei sie hin und her gerannt, zwischen diesem Club und dem Tahrir:
«Ich legte alte und neue Revolutionslieder auf, und viele Musiker spielten ihre neuen Lieder auf der Bühne. Ich hatte immer gedacht, unsere Jugend interessiere sich nicht für Ägypten und wolle möglichst das Land verlassen. Und plötzlich waren sie alle da: Rapper, Liedermacher und Musiker. Alle kämpften mit ihren Liedern für unsere Freiheit. Sie sangen Lieder von Sheikh Imam und Sayed Darwish, aber auch von Umm Kulthum, Mohammed Abdel Wahab oder Abdel Halim Hafez. Ich war einfach nur glücklich, dass die jungen Leute diese alten Lieder noch kannten.»
Dina El-Gharib, 10.3.2013
Oh (Tahrir) Platz, dank Dir hört uns die ganze Welt, Du brachtest Nachbarn zusammen. Oh Tahrir, wo warst Du so lange.
(Cairokee, «Ya Al Midan»)
Im patriotischen Port Said hat der Widerstand der Jugend die Besetzungsarmeen zurückgeschlagen. Gratuliere, Oh Gamal
(El Tanbura, «Patriotic Port Said»)
Das Schicksal unseres Landes ist nicht in unseren Händen. Ägypten, Mutter der Wunder. Reichen wir uns die Hände und kämpfen
(Sayed Darwish, «Ahu Da Illi Sar»)
Ramy Essam: aus dem Nichts zum Weltstar
5. März 2013. Ramy Essam besucht mich im Goethe-Institut, gleich neben dem Tahrir. Er hätte einen allfälligen Preis für die Revolutionshymne schlechthin wohl gewonnen. Mit seiner Gitarre war er aus Mansoura, einer Stadt im Nil-Delta, angereist und hatte auf dem Tahrir-Platz spontan sein Lied «Irhal» (Hau ab) erfunden. Schnell skandierten viele Protester mit:
Das Volk will den Sturz des Regimes. Wir werden nicht gehen, er soll gehen. Wir sind eine Hand und wollen eine Sache: Hau ab!
(Ramy Essam, Irhal)
Mark Levine, Autor des Buches Heavy Metal Islam schickte die YouTube-Aufnahme des Liedes dem befreundeten Produzenten und multiplen Grammy-Gewinner Anton Pukshansky in Los Angeles. Der produzierte ein paar Beats und schickte das Audiofile zurück nach Kairo. Ramy Essam nahm Stimme und Gitarre in einem Studio neu auf, und seither ist er ziemlich berühmt. Die dänische NGO Freemuse («Free Musical Expression») ehrte ihn mit dem Freemuse-Award, und Time Out setzte «Irhal» auf die Liste der zehn wichtigsten politischen Songs aller Zeiten – nach Public Enemy («Fight the Power»), aber noch vor Sam Cooke («A Change is Gonna Come»), John Lennon («Imagine») oder den Sex Pistols («God Save the Queen»).
«Mein Leben hat sich extrem schnell verändert. Ein Traum ist wahrgeworden. Ich fühle heute eine grosse Verantwortung den Demonstranten gegenüber. Sie wollen, dass ich ihre Anliegen mit meinen Liedern kommentiere. Das ist nicht einfach. Und die plötzliche Flut von Medienanfragen und Angeboten von internationalen Produzenten, die war kaum zu bewältigen.»
Ramy Essam, 5.3.2013
Ramy Essam lässt sich heute von einer Freundin managen. Ein Freund ist zuständig für den Webauftritt. Diesen beiden vertraut er:
«Viele sahen bloss noch das Produkt Ramy Essam. Sie wollten Profit schlagen und hätten mich wohl bald aufgefordert, nicht immer alle Leute vor den Kopf zu stossen. Ich will aber meinen eigenen Weg gehen. Meine Lieder beschreiben die Demonstranten und die Leute von der Strasse. Die reden und denken so. Ich werde das nie ändern. Irgendwann will ich eine Metal-Band gründen.»
Ramy Essam, 5.3.2013
Darf man die Revolution vertonen?
«Ich kann mich nicht konzentrieren, mein Denken nicht abschalten. Normalerweise übersetze ich Erfahrungen aus meinem Alltag in meine Lieder, im Moment kann ich das aber nicht. Ich bin wie gelähmt. Meine Rolle als Musikerin war vor der Revolution sehr viel wichtiger. Ich habe provoziert und Fragen gestellt, die man nicht stellen durfte. Das war viel interessanter als heute.»
Maryam Saleh, 4.3.2013
Lasst uns die Heimat des Chaos verehren. So wenn wir ausgebeutet sind, dann brauchen wir nicht zu protestieren.
Maryam Saleh, «Watan El 3ak»
Die Sängerin und Musikerin Maryam Saleh spricht für viele: Wie kann eine Künstlerin ein derart grosses, einschneidendes Ereignis künstlerisch verarbeiten? Nach der Revolution sind genau darüber heftige Diskussionen entbrannt. Die Positionen sind dabei so unklar wie die politische Lage und Zukunft des Landes.
Maryam Saleh, Hussein El-Sherbini vom Elektronika-Kollektiv Wetrobots, Mahmoud Refat, Dina El-Gharib und Ramy Essam: Hier einige ihrer Antworten als Sammelkatalog:
«Ich singe von menschlichen Erfahrungen, nicht direkt von der Politik. Ich würde nicht versuchen, die Revolution zu dokumentieren, vor allem jetzt nicht, wo sie nicht zu Ende ist. Ich will sie ja nicht falsch dokumentieren. Ich bin heute vor allem Bürgerin Ägyptens.»
Maryam Saleh, 4.3.2013
«Nur weil ich Künstler bin, muss ich nicht die Revolution besingen. Ein Künstler sollte Künstler sein. Er sollte eine künstlerische Welt schaffen – ohne Richtlinien.»
Hussein El-Sherbini, 6.3.2013
«Das war die emotionalste Zeit meines Lebens. Diese Erfahrungen künstlerisch zu verarbeiten, habe ich schlicht nicht gewagt. Sie waren heilig, irgendwie, da kannst du nicht einfach einen Track draus machen. Mein Aufnahmegerät hatte ich auf dem Tahrir aber meistens mit dabei. Vielleicht werde ich die Aufnahmen irgendwann verarbeiten, ich weiss es nicht.»
Mahmoud Refat, 7.3.2013
«Viele Lieder wurden ad hoc erfunden und sind nicht für die Ewigkeit gedacht. Es ging um Redefreiheit und freien Ausdruck. Und darum waren diese Lieder wichtig.»
Dina El-Gharib, 10.3.2013
«Die Musik spielte auf dem Tahrir-Platz eine entscheidende Rolle. Sie half uns, durchzuhalten, uns zu motivieren, unsere Ängste zu besänftigen, uns überleben zu lassen.»
Ramy Essam, 5.3.2013
Von Märtyrer-Pop zu Elektro-Sha’abi
Kaum zu Wort meldeten sich während der Revolution die Stars der kommerziellen panarabischen Pop-Musik – das überrascht nicht. Wer im vor-revolutionären Ägypten ein Star sein wollte, musste sich mit den Herrschern gutstellen – auch die grosse ägyptische Sängerin Umm Kulthum war eng verbunden mit Präsident Gamal Abdel Nasser, was ihr in den 1960er-Jahren Kritik einbrachte. Tamer Hosny wagte sich als einer von wenigen Popstars auf den Tahrir-Platz. Er sprach sich für Präsident Husni Mubarak aus, musste dann aber vor den wütenden Massen fliehen. Später entschuldigte er sich im ägyptischen Fernsehen – er wollte wohl seine Karriere retten. Amr Diab, der grösste Pop-Star Ägyptens, flüchtete im Privatjet nach England. Er galt als Gefolgsmann Mubaraks und hatte ihm Lieder gewidmet:
Er, der sich für sein Land aufgeopfert hat, um uns Licht zu bringen. (...) Seine Träume sind unsere. Der Nil fliesst in seinem Blut. Er ist einer von uns.
Amr Diab, «Wahed Mnenna»
Nach der Revolution waren Amr Diab und viele Popstars auf Widergutmachung aus. Sie veröffentlichten, was Daniel Gilman «Märtyrer-Pop» nennt (Norient Link: «Martyr Pop - Made in Egypt»). In ihren Videoclips besingen sie die Gefallenen der Revolution – die Demonstranten, aber auch die Polizisten und Soldaten. Der gesamte ägyptische Markt soll zurückgewonnen werden.
Das scheint nur bedingt zu gelingen. Der neue Massensound heißt Mahragan (Festival Musik) – manchmal auch Techno-Sha’abi oder Electro-Sha’abi genannt (Norient Links: «Electro Sha’abi: Autotune-Rebels in Cairo», «Missverständnisse erwünscht» und «On the occidental perception of Sha3byton»). Mahragan ist die digitale Variante des Sha’abi-Strassenpops. Sha’abi wird von den gebildeten Eliten gelegentlich als unkultiviert kritisiert, ist aber doch in der ganzen Bevölkerung beliebt. Einige Sha’abi-Sänger – etwa Hakim, Sha‘ban ‘Abd al-Rahim, oder Ahmad ‘Adawiyya – sind denn auch längst Mainstream-Stars. Sha’abi Lieder wurden auch auf dem Tahrir-Platz laut gesungen:
Das Leben ist wie eine Schaukel, mal rauf, mal runter. Einige Menschen leben gemütlich, andere gehören nicht zu den oberen Schichten.
Amro El Saeed
Ich rauchte Hasch, Hasch, Hasch. Ich glaube, ich verlor mein Gleichgewicht. Ich wankte in der Gasse und liess die Wäsche tropfen. Die Strasse, die hinter mir war, liegt jetzt mir gegenüber.
Mahmoud El Husseiny
Ich rauchte Schischa Kohle. Oh je, oh je, oh je. Das werde ich nie wiederholen. (...) Ich ging hinunter auf die Strasse, bin durcheinander, weiß nicht mehr, wer rauf und wer runtergeht.
Hoba
Mahragan basiert auf den Rhythmen des Sha’abi, speist dazu aber Effekte der elektronischen Musik ein und manipuliert die Stimmen der Sänger mit Autotune-Effekten. Die Stimmen werden in die Höhe gepitcht, wiederholt, hart geschnitten, sind mal musikalischer Effekt, mal Träger provokativer oder ironischer Botschaften. Mahragan greift den teuer und sauber produzierten pan-arabischen Pop an allen Fronten an. Gleichzeitig bedient sich die Musik einer Ästhetik, die international im Trend liegt: im Juke, Jersey Club und Ballroom House in den USA, Shangaan Electro in Südafrika, oder im New Wave Dabké des Syrers Omar Souleyman, der mittlerweile auch in der Musik des isländischen Popstars Björk Platz gefunden hat (Norient Link: «Weltmusik 2.0: Zwischen Spass und Protestkultur»). Während die Massen auf dem Tahrir-Platz gerne nostalgisch Lieder aus dem vergangenen Jahrhundert sangen, setzen die Mahragan-Sänger auf Geringschätzung, Humor und Sarkasmus. Sie besingen nicht – wie in ägyptischen Liedern üblich – Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Verlust in poetischen Worten, sondern sie fluchen, werfen unvermittelt Slogans wie «Nieder mit dem Militär» ein, um im nächsten Atemzug ironisch von den wahren Problemen der Leute zu singen:
Die Leute wollen fünf Pfund Telefon-Kredit
DJ Amr Haha, DJ Figo, «Al-Sha‘b Yurid Khamsa Ginay Rasid»
Scheiße, ich habe meine Schuhe verloren. Scheisse, das waren doch Badelatschen. Scheisse, die waren doch noch neu. (...) Wie gehe ich jetzt in den Club?
DJ Amr Haha, «Aha al-Shibshib Da‘»
«Morsico Systems» von Ahmad Samih legt eine Rede des neuen Präsidenten Mohammed Mursi auf einen Sha’abi-Rhythmus und spielt mit seiner Stimme. Wenn Mursi behauptet, es gebe viel Unterstützung für sein Regime, wird er abrupt abgeschnitten. Eine Autotune-Stimme schreit: «Da ist ein Elefant!» – ziemlich skurril.
Die Texte entstehen oft spontan. In einem YouTube-Live-Video setzt Mahragan-Sänger Sadat urplötzlich zu einer Kritik gegen die Fälle sexueller Belästigung an Frauen auf dem Tahrir-Platz an, von denen immer häufiger berichtet wird: «Wo ist Deine Männlichkeit? Du solltest die Frauen verteidigen und beschützen.»
Ich treffe MC Sadat in der Satellitenstadt Madinet Sitta Oktobar. Er trägt eingeflochtene Rasta-Haare, kotzt beim Interview einmal über den Balkon, ist aber ein netter Typ:
«Wir singen von Sex, Drogen und Politik. Wir singen über die Revolution, die Armee, über alles, was so passiert hier.»
Sadat, 8.3.2013
Mahragan wird seit 2007 an Hochzeiten und Festen gespielt, meistens in ärmeren Vierteln. Langsam wurde die Musik von der alternativen Künstlerszene entdeckt – etwa von Hassan Khan und Maurice Louca, die seit einiger Zeit mit Mahragan-Sounds experimentieren. 2012 war Mahragan dann im Programm des Downtown Contemporary Arts Festival (D-CAF), und seither sind Amr Haha (auch 7a7a), DJ Figo und Sadat, und auch Oka Wi Ortega alias Tamanya Fil Meya (Acht Prozent) regelmäßig live in der Innenstadt zu bewundern – zum Beispiel im After Eight. Die Jungstars produzieren heute Werbespots für grosse Firmen, und sie generieren Millionen von Klicks auf YouTube.
MC Amin, ein Urgestein des Rap in Kairo, will Mahragan jetzt mit Rap zusammenbringen. Ich treffe ihn bei Sadat in Madinet Sitta Oktobar:
«Ich rappe schon lange über die Schattenseiten Ägyptens, und die Mahragan-Künstler sprechen die Sprache der Strasse. Sie produzieren den Sound des neuen Ägyptens, und sie haben eine riesige Fangemeinde. Rap und Mahragan zusammen gibt eine explosive Mischung.»
MC Amin, 8.3.2013
Die Revolution findet weiterhin statt, ohne Waffenstillstand. Ich sage es Euch direkt und klar: FUCK!! ... Er regiert weiter, auch wenn wir ihn gestürzt haben.
MC Amin, «El Wad3 Lazem Yet3’ayar»
Auch internationale Blogger, Produzenten und Festivals bekommen langsam Wind vom Mahragan-Trend.
Musikerstrategien 2013
«Es geht darum, mit wem möchtest du als Künstler arbeiten, und mit wem nicht. Ich würde im Moment nicht mit staatlichen ägyptischen Institutionen zusammenarbeiten. Das kann sich aber in wenigen Monaten wieder ändern. Es geht auch darum, was für ein Image du von dir als Künstler aufbaust und wofür du stehen willst.»
Hassan Khan
7. März 2013, ReTune Studio, 100Copies Music Space. «Alle sprühen derzeit vor Ideen», sagt Maurice Louca bei einer Probe der experimentellen Rockgruppe Bikya. Mahmoud Refat, der in der Band den Korg-R3-Synthesizer bedient, stimmt seinem Freund zu:
«Wir haben heute eine ungeheure Dynamik und Energie in Ägypten. Ich bin sehr glücklich über diesen Reflex. Lasst uns keine neuen Songs über die Revolution machen – wir haben genug davon. Aber lasst uns diese Energie nützen: Wir müssen arbeiten, spielen, aufnehmen, vorwärts gehen. Es gilt ein leeres Feld nach unseren Regeln neu zu gestalten. Jetzt oder nie! Alle warten sie auf neue Inhalte: TV-Stationen, Firmen – und die Ägypter. Alles soll neu und frisch sein.»
Mahmoud Refat, 7.3.2013
Seinen Enthusiasmus teilen nicht alle. Einige schwärmen von grossen Werbeaufträgen und dem internationalen Interesse, andere klagen: Konzerte würden abgesagt und gerade für Livemusiker sei es schwierig, Geld zu verdienen. Bei einem Essen in der Wohnung von Mahmoud Refat rufen die eingeladenen Musikerinnen und Kulturförderer in den frühen Morgenstunden wild und uneinig durcheinander, nachdem ich vom Enthusiasmus einiger Musikerinnen und Musiker berichtet habe.
4. März 2013, Café Picasso, auf der Nilinsel Zamalek. Amro Salah, Jazzmusiker und Organisator des Cairo Jazz Festival, ist glücklich, aber gestresst. Das Festival findet trotz den politischen Unruhen statt – aber bereits in einer Woche. Salah musste vielen internationalen Geldgebern absagen, erzählt er – zu viel Fördergeld, ein Novum für mich.
«Im privaten Sektor passiert im Moment sehr viel, in der Regierung nichts – aber das sind wir gewohnt. Unser Festival findet pünktlich statt, mit internationalen Künstlern. Es macht keinen Sinn, eine Revolution zu machen und dann die Party wegzulassen. Das Cairo Jazz Festival soll so wichtig werden wie dasjenige von Montreal. Wir wollen die grosse Geschichte des Jazz in Ägypten aufleben lassen. Miles Davis, Duke Ellington und Louis Armstrong haben hier gespielt! Viele Ausländer und Ägypter vermissen den Kulturplatz Kairo, wie er einmal war. Wir arbeiten daran!»
Amro Salah, 4.3.2013
Eine Stunde später treffe ich den populären Rapper Takki MTM, im selben Café. Ihm ist zum Klagen zumute.
«Vor der Revolution sind Musiker, Produzenten und Musikliebhaber aus der ganzen arabischen Welt angereist, um bei uns Songtexte und Kompositionen einzukaufen oder ganze Lieder zu produzieren. Dieser Musiktourismus bleibt jetzt aus, und das trifft viele Texter, Komponisten und Produzenten. Auf eine Musikerkariere kannst du im Moment nicht setzen. Ich war König, sass zuhause und liess die Leute zu mir kommen. Jetzt arbeite ich in einer Werbefirma und muss schon am Morgen aus dem Haus! Andere benutzen mein Können, um ihre Produkte zu verkaufen.»
Takki, 4.3.2013
6. März 2013. Ismael Hosny und Hussein El-Sherbini vom Elektronika-Kollektiv Wetrobots haben ihr eigenes Epic 101 Studio im Stadtteil Doqqi aufgebaut (Norient Link: «Die Anthithese zur Revolutionsmusik»). Sie werden mit Aufträgen überschwemmt: Aufnahmen für andere Musiker und Sängerinnen, und viele Werbespots für Radiostationen:
«Wir haben gerade Musik produziert für eine Kochsendung, für Toyota, und für einen Dokumentarfilm über Autorennen.»
Hussein
«Vieles auch für die Pharmaindustrie.»
Ismail
«Genau, für die Schweizer Multis Novartis, Pfizer und Sanofi. Wir finanzieren mit diesem Geld unser Studio und unseren Lebensunterhalt. Manchmal hasse ich es, für diese grossen Firmen zu arbeiten, es ist aber besser als irgendein anderer Job.»
Hussein, Wetrobots, 6.3.2013
Internationale Plattformen
«Als Revolutionskünstler wäre es wohl einfacher. Wir müssten nur auf den Tahrir-Platz, dort mit unseren Laptops Musik machen, die Aufnahmen auf YouTube veröffentlichen, als Tags ‹Revolution›, ‹Tahrir› und ‹Egypt› angeben, und die ganze Welt würde sich für uns interessieren.»
Hussein El-Sherbini, 6.3.2013
Die Wetrobots sehen sich nicht als Revolutionskünstler. Sie wollen einfach gute Musik machen und möglichst viel auftreten, im In- und im Ausland. Hussein hofft, dass die Szene in Kairo weiter wächst:
«Manchmal fühlen wir uns hier wie Außerirdische. Im Cairo Jazz Club rannte der Veranstalter kürzlich auf die Bühne und schrie, wir sollten sofort mit diesem Krach stoppen, die Leute würde den Club verlassen. Ein paar Wochen später spielten wir dasselbe Set vier Mal in der Schweiz: Die Leute tanzten ekstatisch!»
Hussein El-Sherbini, 6.3.2013
Im Ausland ist das Interesse an Musik aus Kairo derzeit gross. Das Mahragan-Rap-Projekt um Sadat und MC Amin wird im April 2013 beim Internationalen Festival Babel Med in Marseille auftreten und dabei vielleicht die europäische Weltmusik-Szene für sich einnehmen. Mahmoud Refat und Hassan Khan sind zu Solokonzerten beim renommierten Festival MärzMusik in Berlin eingeladen – sie kommen damit endgültig im illustren internationalen Kreis der aktuellen Musik an. Und gleich zwei Bands werden ans grosse Festival South by Southwest nach Austin in die USA reisen: das Elektro-Rap-Duo Quit Together der Sängerin Bosaina und des Produzenten Zuli, und die Rockband Massive Scar Era, mit ihrer Frontsängerin Sherine Amr.
Die neuen Metal-Bands und die Muslimbrüder
8 März 2013. Sherine Amr treffe ich im Vibe Studio in Doqqi. Sie ist Teil der wieder angewachsenen Metal-Szene, mit Bands wie Worm, Mascara, Scarab, Dark Philosophy, Stigma oder Ahl Sina. Massive Scar Era ist eine reine Frauenband, das sei aber mehr Zufall als Absicht. Sherine freut sich, macht doch die Metal-Szene heute auch international wieder auf sich aufmerksam:
«Seit der Revolution ist Ägypten im Fokus der internationalen Medien. Musik ist besonders spannend, weil die Muslimbrüder sie verbieten wollen. Metal fasziniert die Leute dabei ganz besonders, und wenn sie dann noch von einer Frauenband kommt ... Wenn du Metal und Ägypten googelst, so kommt unsere Band sehr weit oben. Das ist unser Glück. Wir geben viele Interviews und spielen immer öfter im Ausland.»
Sherine Amr, 8.3.2013
Seit den ersten Wahlen sind in Ägypten die Muslimbrüder an der Macht. Immer wieder machen sich Gerüchte breit, sie möchten Musik verbieten – eine alte Geschichte: Seit den Anfängen des Islam im siebten Jahrhundert streiten Rechtsgelehrte und Theologen über Musik. Musik stehe im Widerspruch zu islamischen Prinzipien von Bescheidenheit und Sittsamkeit, behaupten ihre Kritiker: sie verlocke zu leichtem Zeitvertrieb, unmoralischem Tanzen, Trinkgelagen, verbotenen physischen Beziehungen und Prostitution, und sie halte die Gläubigen von ihren religiösen Pflichten ab. Das ist kompletter Unsinn, finden alle Musikerinnen und Musiker in Kairo, die ich treffe. Angst vor den Muslimbrüdern haben höchstens die Veranstalter, die Musiker aber nicht. Flötist Mohammad Antar, der sich seit Jahren mit islamischer Musik beschäftigt, spricht Klartext:
«Die Muslimbrüder kümmern uns Musiker nicht. Sie sind nichts. Sie haben mit den Muskeln gespielt, aber jetzt sind sie nur schwach. Sie können nicht einmal sich selber kontrollieren.»
Mohammad Antar, 8.3.2013
Auch Yara Mekawei von den Egyptian Aliens mag nichts hören von den Drohgebärden:
«Ich bin Muslimin und trage Hijab. Die Muslimbrüder wollen unsere Gedanken verdrehen. Im Islam geht es um die Verbindung von deinem Herzen mit Gott. Keiner hat dazwischen etwas zu suchen.»
Yara Mekawei, 7.3.2013
Exit-VISA, fehlende Pässe und Künstlerlizenzen
Musikerinnen und Musiker brauchen bis heute Künstlerlizenzen von offiziellen Künstlersyndikaten, wenn sie auf einer öffentlichen Bühne oder in den Medien auftreten wollen. Tun sie das ohne Lizenz, kann ihnen ein Bussgeld auferlegt werden. Viele gehen dieses Risiko ein – für Rapper und Metal-Sänger mit ihrem typischen Growling-Stil gibt es die passende Lizenzkategorie sowieso nicht. Rapper bekommen dieselbe Lizenz wie Komiker: «Ich bin jetzt offiziell Komiker», erzählt Takki MTM. Sherine Amr will keine Lizenz beantragen: «Stell Dir vor, ich würde vor der Lizenzbehörde meine Metal-Stimme auspacken!» lacht sie.
«Brauche ich eine staatliche Erlaubnis, um singen zu dürfen? Sie wollen uns kontrollieren, denn spätestens seit der Revolution haben sie Panik vor Liedermachern, Rappern und Rockbands.»
«Hast Du manchmal Angst?»
«Nein, sicher nicht. Ägypten hat größere Probleme als mich, die ohne Lizenz singt und dabei kein Geld verdient.»
Sherine Amr, 8.3.2013
Kummer bereiten Sherine Amr, Mahmoud Refat und anderen Musikern hingegen vor allem die Bestimmungen für Ausreisevisa. Die seien, finden sie, verschärft worden. Ob das wirklich stimmt, wissen sie nicht. So wie sie vieles nicht einschätzen können, was im Moment in Ägypten passiert. Klar ist der Fall beim Protestsänger Ramy Essam:
«In Ägypten brauchst du die Erlaubnis des Militärs, um auszureisen. Das Militär ist aber gar nicht gut auf mich zu sprechen. In den letzten zwei Jahren hätte ich dreißig Auslandtourneen organisieren können; das Land verlassen durfte ich aber bloss drei Mal. Und das nächste Problem kommt bald. Wenn ich in zwei Jahren mein Studium beende, muss ich zum Militär. Das wird der größte Albtraum meines Lebens.»
Ramy Essam, 5.3.2013
10. März 2013, 18 Uhr. Im Markez-Nachtclub treffe ich den Keyboarder Islam Chipsy. Die Bauchtänzerinnen und Animierdamen trinken noch Kaffee. Wir ziehen uns zum Interview in die Garderobe zurück. Islam Chipsy hat international via YouTube und TV-Kurzportraits – etwa auf ARTE – für Aufsehen gesorgt. Er spielt auf seinem Keyboard Sha’abi, Mahragan, panarabischen Pop und arabische Kunstmusik. Er tut das aber mit rasender Geschwindigkeit, größter Virtuosität, radikal queeren Sounds und extravaganter Gestik. «Jeden zweiten Monat überrasche ich die Leute mit einer neuen Spieltechnik», erzählt er, und muss selber schmunzeln. Der Spass hört allerdings schnell auf: Islam Chipsy hat keinen offiziellen Pass. Er ist gefangen im eigenen Land. Auch er hätte in Europa und den USA auftreten können. Ein Japaner hätte ihn sogar eingeladen, mit seiner Frau in Japan zu leben. Was denn sein grösster Traum sei, frage ich ihn:
«Mein Traum ist ein Pass. Ich will reisen, meine Musik zeigen und weiterentwickeln. Ich lebe für meine Musik.»
Islam Chipsy, 10.3.2013
Diese Reportage ist erschienen im Buch «Zeitgenössische Künstler aus der Arabischen Welt - Positionen 7», herausgegeben vom Goethe Institut Kairo und dem Steidl Verlag.
Biography
Published on January 12, 2014
Last updated on April 30, 2024
Topics
Why New Yorks’ underground doesn’t give a fuck about Trump or why satirical rap in Pakistan can be life threatening.
From Muslim taqwacore to how the rave scene in Athens counters the financial crisis.
About Tunisian rappers risking their life to criticize politics and musicians affirming 21st century misery in order to push it into its dissolution.
How does Syrian death metal sound in the midst of the civil war? Where is the border between political aesthetization and inappropriate exploitation of death?
From Korean visual kei to Brazilian rasterinha, or the dangers of suddenly rising to fame at a young age.