Die Umstürze in der arabischen Welt, die Occupy-Wall-Street-Demonstrationen, die Parlamentswahlen in der Schweiz, die Reithalle-Abstimmung und andere politische Ereignisse werden immer wieder von Musik untermalt. Nicht immer aber sind die lautesten Stimmen auch die spannendsten.
«Parodie, Tanz und Sex: Andere Formen des Protests», so lautet der thematische Schwerpunkt des 3. Norient Musikfilm Festivals in Bern (12-15.1.2012). Neun Filme, ein Konzert und zwei DJ-Acts thematisieren auch die grossen weltpolitischen Spannungen unserer Zeit. Viele Musiker protestieren heute allerdings nicht mehr in der Manier der Liedermacher. Sie besingen unsere «ach so schwierige Zeit» nicht in poetischen Worten, bedeutungsschwangeren Akkorden und stürmischen Refrains. Die ghanaischen Rapper FOKN Bois machen sich in ihrem Pidgin-Hip-Hop-Comedy-Musical Coz ov Moni («Wegen dem Geld») zuerst einmal lustig über unsere Vorstellungen vom «schwarzen Kontinent» Afrika. Sie zeigen ihren Alltag in Ghanas Hauptstadt Accra in allen Schattierungen. So authentisch wurde ihr Land auf der Leinwand noch nie gezeigt, fanden Ghanaer daheim und im Exil. – Als Nicht-Ghanaer können wir uns bloss fragen: ist das jetzt einfach nur Spass, oder politisches Engagement?
Wolf Biermann, U2 und Víctor Jara sind passé
Wer sich durch die Angebotsvielfalt der «Weltmusik 2.0» – der neuen Weltmusik der Digitalisierung – klickt, dem wird schnell klar: Für viele Musikerinnen und Künstler scheint heute direkter Protest – à la Wolf Biermann, U2, Víctor Jara oder Marcel Khalife – out. Direkte Protestsänger und Protestrapper stossen höchstens noch bei internationalen NGO, bei der Sensationspresse und bei Alt-68ern auf Interesse: Protestmusik soll politische und soziale Botschaften musikalisch untermalen und in prägnanten Worten untermauern. Die jungen transnationalen Musikerszenen und ihre Fans hingegen reagieren auf diese Lieder oft mit Ignoranz oder Verduss: Den NGO-Konzerten in Europa bleiben sie fern, und die medial gefeierten Protestsänger und Rapper bezichtigen sie des Opportunismus. Sie nutzten Kriege und Krisen bloss dazu, um international auf sich aufmerksam zu machen. Eine Kritik, die wohl zu kurz greift Die kritisierten Protestmusiker widersprechen denn auch vehement. Wer will es ihnen verübeln: Jeder Künstler, der zu fairen Gagen ins Ausland eingeladen wird, greift gerne zu. Nur ärgert es die Rapper dann doch, wenn sie in Europa Konzerte und Podiumsgespräche vor «mittelalterlichen Gutmenschen» absolvieren müssen, während die lokalen Rapperszenen fernbleiben.
Exotik, Ironie und multiple Identitäten
Das 3. Norient Musikfilm Festival und das Norient Online-Magazin wollen genauer hinhören und –schauen. Viele Musikerinnen, Künstler und Filmemacher – gerade auch aus Afrika, Asien und Lateinamerika – sind zu subtileren Formen des Protests übergangen. Ein Teil hat den Reiz von exotischen Klängen für sich wiederentdeckt. Im «UK Funky» spielen Diaspora-Musiker aus Afrika in London selbstbewusst mit kulturellen Stereotypen. Im Video «Tribal Skank» von Fr3e vollführen Afrikaner mit Baströcken und Handys wilde Paartänze mit britischen Geschäftsmännern und Polizisten. Der weisse Südafrikaner Xander Ferreira – alias Gazelle – übt derweil auf der Farm seiner Eltern im extravaganten Outfit die neuesten Disco-Schritte und spielt so ironisch und provokativ mit den Post-Apartheid-Traumata der schwarzen und der weissen Bevölkerung Südafrikas. Und die Ghanaer FOKN Bois stellen sich selber die Frage nach ihrer Identität: «Ich bin der: Taxifahrer-Räuber, Visum-Fälscher, Frauen-Verführer, Mangobaum-Kletterer» – die Aufzählung endet erst nach sechs Minuten.
Die Ägyptische Revolution
Im Schatten der Rapper und Protestsänger der Revolution in Ägypten drohte genau diese neue globale Pop-Avantgarde vergessen zu gehen. Sie hatte auch in der arabischen Welt lange vor den dramatischen Ereignissen an den kulturellen Veränderungen mitgewirkt – und diese Umwälzungen in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und engagierten Bürgerinnen und Bürgern in gewisser weise mit ermöglicht. Als Künstler blieben viele während der Revolution zwar stumm, sie engagierten sich aber als Bürger auf dem Tahrir-Platz – das zeigt etwa der tragische Tod des Klangkünstlers Ahmed Basiony, der nach einer Tränengas-Attacke gestorben ist. Über Jahre hinweg schon kämpften er und viele andere für vielseitige musikalische und kulturelle Positionen: In einer Welt voller Propaganda und Kommerz ist das Politik. Und das wurde von den arabischen Diktatoren und Machthabern auch durchaus so verstanden. Immer wieder sprachen und sprechen sie von einer westlichen Verschwörung: weil diese Künstler teilweise von internationalen Kulturfördergeldern oder Medienkanälen wie MTV oder ARTE East unterstützt würden – wenn auch meistens minimal. Und weil sie Facebook nutzten und sich an «westlicher» Kultur und Werten orientierten.
Ignoranz und Verschwörungstheorien
Selbst in der reichen Schweiz nimmt sich heute kaum einer mehr die Zeit, komplexere musikalische und politische Positionen auch wirklich zu finden. Sei es, weil Musiker halt letztlich nicht mehr sind als die Auflockerung einer Tagung oder eines sozial-politischen Programms. Oder: Weil Zeitungsverlage trotz Krise die Gewinne weiter steigern wollen, Stellen abbauen und Honorare für freischaffende Journalisten radikal zurückstreichen – um im gleichen Atemzug zu betonen, dieselbe Qualität erreiche man auch mit weniger Angestellten und minimalem Budget.
Wo die Zeit zur Recherche fehlt, da wird eben gehört und eingeladen, wer am lautesten schreit. Im Dachstock der Reitschule stand so kürzlich ein palästinensischer Rapper auf der Bühne, der – wenn auch bloss in einem Nebensatz – homophob über palästinensische Schwule und Lesben lästerte. Dann wiederum wird vorschnell verurteilt: «Verfällt die syrische Musikszene tatsächlich in Lethargie oder gar Gleichgültigkeit?», steht in der an sich sehr lesenswerten Zenithonline. Vom Schreibtisch aus der Ferne ist eine solche Kritik, dass Protestsänger in Syrien fehlten, schnell geschrieben. Ein syrischer Künstler aber weiss, für jede politische Äusserung kann er oder seine Familie ermordet oder irgendwo in einem Loch eingesperrt werden. Der Entscheid zum direkten Protest ist da sehr schwierig – auch, weil weder in Syrien noch vom Ausland her irgendwelche Hilfe und Unterstützung zu erwarten ist. Der Protest generiert höchstens internationale Medienberichte und viele Klicks auf seinen You-Tube-Filmen.
Neustart der Festplatte
Viele der Filme des 3. Norient Musikfilm Festivals blicken hinter die Kulissen von Bands, Genres und Szenen. Wofür stehen der oft als sexistisch und frauenfeindlich diskreditierte Daggering-Kopulations-Tanz im Dancehall, fragt der Film Hit me with Music. At Night, They Dance enthüllt ein schockierendes Sittenbild der Kairoer Bauchtanzindustrie – derweil tanzt die internationale Indie-Szene unbeschwert zu diesen und ähnlichen psychedelischen Sounds. Björk etwa hat den New Wave Dabké des Syrers Omar Souleyman für sich entdeckt (auch Souleyman hat sich nie gegen das syrische Assad-Regime gewandt; er tourt trotz Bürgerkrieg um die Welt). Der Film The Shukar Collective schliesslich schaut hinter die Kulissen eines oberflächlich erfolgreichen Austauschprojektes zwischen rumänischen DJs und Roma. Der Film zeigt, die Band ist heillos zerstritten.
Die Musiker der Weltmusik 2.0 arbeiten in internationalen Nischen-Netzwerken, und sie dürfen darum auch mit den Qualitätskriterien dieser Nischenszenen gemessen werden – kultureller Relativismus hat da wenig zu suchen. Ein Künstler soll zu uns kommen, weil er musikalisch gut ist, nicht weil er gerade in ein Konzept passt. Und natürlich ist ein Protestsänger nicht zwingend schlechter als ein ironischer Exotika-Unterhalter. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts ist kaum mehr auszumachen, was als kulturelle Widerstandsstrategie verstanden werden soll und was als kommerzielles Kalkül. Denn Obskures, Ironisches und Exotisches profitiert überproportional vom Lawineneffekt der virtuellen Mund zu Mund Propaganda auf Plattformen wie Facebook.
Lassen wir uns überraschen – etwa in Paradiso mit einer protestantisch-katholischen Tanznacht im nordirischen Derry. Der Film erzwinge einen Neustart der Festplatte, schreibt NZZ-Korrespondent Martin Alioth. Es sind genau diese Neustarts, die das Netzwerk Norient sucht.