photo: Pxhere

Der schmale Grat zwischen M.I.A. und Dschinghis Khan

Essay
by Anja Wernicke

In Erinnerung an den Musikkritiker Edward Said fand im vergangenen November an der Universität Hildesheim die Tagung «Popular Orientalism(s)» statt. Nach einer bereits zuvor publizierten Vorschau berichtet Autorin Anja Wernicke von der Hildesheimer Tagung.

Wer kennt es nicht, das ach so beliebte Idiom der «Musik als Weltsprache», die allerorts verständlich ist und auf der ganzen Erde zu den Menschen gleichermassen «spricht». Es ist der letzte Quatsch. Oder doch nicht? Musik hat natürlich die Fähigkeit auf jeden Menschen zu wirken, jedoch nicht im Sinne eines Mediums, das Bedeutungen transportiert. Musik wirkt auf unsere Körper. Wir spüren Rhythmen und Energie. Aber Musik wirkt auch auf einer kognitiven, assoziativen Ebene und da wird es gefährlich. Denn wenn es nicht einfach darum geht, dass die Rhythmen uns bewegen, sondern «diese archaischen Buschtrommeln aus der afrikanischen Steppe uns mitwippen lassen», dann haben wir ein Problem. Es ist das Problem der Unterscheidung. Was ist authentisch und was ist künstlich? Und wie wird uns was als authentisch verkauft, das in Wirklichkeit hoch-künstlich ist?

Mit genau diesen Problemen beschäftigen sich derzeit und seit einigen Jahren Forscher und Forscherinnen aus den Bereichen der cultural studies, der sound studies und der Musikethnologie. Immer mit dabei der Gründungsvater der kritischen Betrachtung von Orientalismen in der Populären Musik: Edward Said. Selbst ein Heimatloser, interessierte er sich für die Repräsentationen und Vorurteile, welche in der westlichen Welt mit dem «Orient» verbunden wurden und fasste seine Erkenntnisse in dem Buch Orientalismus (1978) zusammen. Er prägte damit eine kritische Denkweise, die Überlegenheitspositionen des Orients zum Okzident entlarvt und letztlich auf alle Lebensbereiche, so auch auf jeden Musikstil anwendbar ist.

Edward W. Said – Orientalism

Die einen Forscher und Forscherinnen untersuchen im klassischen musikethnologischen Sinn eine «traditionelle» Musikkultur, zum Beispiel die Joiks der Sami. Die nächsten haben den deutschen Schlager als Untersuchungsgegenstand und wundern sich, woher die Vorurteile und Diskriminierung gegenüber Schlagerfans eigentlich kommen. Oder sie analysieren, wie der europäischen Diskomusik der 1970er Jahre mit musikalischen und vertrieblichen Mitteln ein «Hauch Exotismus» übergestülpt wurde.

Bestes Beispiel: ‪Dschinghis Khan‪: «Dschinghis Khan» (1979)‬

Man könnte heute darüber lachen. Wie die sich da einen abkaspern... Ein bisschen wildes Tanzen, energisch ausgestossens «Hu! HA!» und chromatisch abfallende Melodie-Fetzen und schon ist der Exotik-Effekt fertig. Bei diesem «historischen» Beispiel scheint die Situation klar. Wir erleben da eine hochgradig klischierte Sicht auf eine im weitesten Sinne «fernöstliche» Kultur. Dem Anführer der Mongolen und seinen Gefolgsleuten werden einige prägnante Eigenschaften (Saufen, Mut, Frauenheld) zugeschrieben. Der Unterschied zu «uns», dem europäischen Publikum wird damit deutlich betont. So scheint es jedenfalls auf den ersten Blick. Recherchiert man etwas weiter, so stösst man auf Vermutungen, dass Dschinghis Khan mit diesem comichaft überzeichneten Song, auch gesellschaftskritisch sein wollte. Eine Selbst-Persiflage? Ironie? Da diese jedoch zu den meisten Rezipienten nicht durchgedrungen sein dürfte, löst sich das Problem dadurch nicht in Wohlwollen auf.

Im Allgemeinen ist es ein schmaler Grat: auf der einen Seite schmiegen sich diejenigen Künstler an die rettende Bergwand, die als authentisch betrachtet werden, auf der anderen Seite werden alle jene – wie Dschinghis Khan – hinabgestossen, denen man das vernichtende Urteil «Kitsch & Klischees» aufdrückt. Als positives Beispiel wird von Aleksander G. Weheliye (Professor für African American Studies an der Nortwestern University) die Künstlerin M.I.A. angeführt.

M.I.A.: «Bad Girls» (2012)

Grosses Aufatmen: Einmal werden im Video keine typischen Orient-Klischees à la Tausendundeine Nacht bedient, sondern moderne Saudis gezeigt. Frauen sind nicht nur dazu in der Lage Männer per Schleiertanz zu verführen, sondern fahren Auto und vollführen gefährliche Stunts. M.I.A. inszeniert sich nicht plump als «eine von ihnen» sondern präsentiert sich als transkultureller Hipster mit starken Hip-Hop-Einflüssen in ihrem Style (musikalisch wie kleidungstechnisch). Die aus Sri Lanka stammende und in London aufgewachsene Künstlerin verbindet so im Video Hip-Hop-Elemente mit Momenten der arabischen Kultur. Musikalisch haben wir zwar wieder die typischen Melodielinie: kleine, meist chormatische Intervall-Schritte, viele Verzierungen, eine schwebend-flimmernde Klangfarbe.

Diese musikalischen Elemente werden allerdings im Video nicht mit einer rückständigen Kultur oder dem westlichen Kitsch-Traumbild des «Orients» in Verbindung gebracht, sondern mit einem Sampling aus Moderne (Autos, Stunts) und Tradition (Kleidung). Dabei wird das «Andere» der saudi-arabischen Kultur nicht überstrapaziert. Mal abgesehen von dem sich aufbäumenden Pferd, das zugegeben, schon ein bisschen aus der Rolle fällt, aber schliesslich in der Video-Dramaturgie nicht weiterverfolgt wird. Es wird also kein «Othering» betrieben, in dem die anderen als so anders betrachtet werden, dass man sie gar nicht verstehen könnte.

Musik zum Träumen

Es ist eine Sache, die Anderen nicht zu «verandern». Ein weiterer Punkt ist die «Selbst-Veranderung», wie sie beispielsweise Jochen Bonz beschreibt. Nein, «Veranderung» ist kein Druckfehler. Es impliziert nicht die tatsächliche Veränderung, die ein Individuum an sich selbst vornehmen könnte (Haare färben oder Lebensweise ändern). Sondern steht für das mentale Weg-Imaginieren aus dem Alltag. Ein Sich-Identifizieren mit dem Gehörten und Gesehenen und ein daraus resultierendes Spiel mit der Verwandlung der eigenen Identität. Es geht darum, sich in der «Veranderung» an einen imaginären Ort zu begeben, wo die Gesetze des Alltags ausgehebelt sind, wo sich das erwachsene Individuum beispielsweise wieder als Kind fühlt oder das kindliche Individuum als erwachsen.

Es geht um solche «anderen» Zustände, die aus irgendeinem Grund für das Individuum begehrenswert sind. Jochen Bonz stellte diese Tendenz übrigens auch bei dem grossen Orientalismus-Kritiker Edward Said selbst fest. In seiner Biografie beschreibe Said wie er sich als Kind Geschichten zu Menschen und Szenen, denen er auf der Strasse begegnete, ausdachte, um seinen unangenehmen Familienalltag zu vergessen. Die künstlerisch-kulturellen Ausdrucksmittel wie Geschichten (Prosa) oder Klänge (Musik) können hierbei Medium der «Selbst-Veranderung» sein. Das «Sich-Wegträumen» mit der Musik ist ein Aspekt des Musik-Erlebens, der schwer einzuordnen ist: ereignet er sich auf einer rein individuellen, körperlichen Ebene? Oder spielt das kognitiv-assoziative und damit das von der Umwelt geprägte nicht auch eine entscheidende Rolle?

Susanne Binas-Preissendörfer verdeutlicht dieses Problem anhand einer Erfahrung, die sie als Kind mit folgendem Lied machte:

«In meinem Kinderzimmer drehte ich mich wie ein Derwish zu Gilbert Bécauds Lied ‹Nathalie›. Damals habe ich mir natürlich nichts dabei gedacht.» Diese Anekdote stammt von der Musik- und Kulturwissenschaftler Susanne Binas-Preisendörfer und steht exemplarisch für den Umgang mit Musik, der sich in erster Linie körperlich ereignet. Ohne daran zu denken, was mit diesem Lied für Inhalte transportiert werden, ohne dass starke Assoziationen damit verknüpft werden. «Es ging für mich rein um den körperlichen Spass am Tanzen. Ich hatte vielleicht auch eine Matrushka in meinem Zimmer, die mein Vater mal von einer Reise nach Moskau mitgebracht hat, aber damit habe ich nicht wirklich etwas verbunden.»

Binas-Preissendörfer, mittlerweile Professorin am Lehrstuhl für Musik und Medien der Universität Oldenburg, beschreibt wie die Musik – unabhängig von tradierten Klischees – ihr kindlich-fantasievolles Empfinden anregte. Auch später hatte sie solche körperlich-emotionalen Empfindungen, als ihr beispielsweise «ein Schauer über den Rücken lief» beim Konzert der aus Südafrika stammenden Kalahari Surfers, deren Musik starke politische Statements und Kritiken enthielt. Es stellt sich hier allerdings die Frage, ob dieser Schauer, tatsächlich rein sonischer Natur war, also nur durch die Musik hervorgerufen wurde? Ohne Binas-Preissendörfer etwas zu unterstellen, als DDR-Bürgerin, dürfte sie jedoch für den Klassenkampf stark sensibilisiert und in gewisser Weise emotional dadurch berührt gewesen sein, dass diese Kalahari Surfers, auf ihre Weise an diesem politischen Klassenkampf teilnehmen, ganz egal auf welcher Seite sie dabei auch immer standen.

Wie Traditionen neu geschaffen werden

Sicherlich muss man beachten, dass die internationalen Künstler nicht immer ohne Hintergedanken in die DDR eingeladen wurden, zumal die Kalahari Surfers bei einer Veranstaltungsreihe mit dem Titel Musik & Politik auftraten. Heute ist das allerdings kein bisschen anders. Denn das, was auf irgendeinem Wege als «authentische» Musik zum Beispiel aus dem westafrikanischen Raum auf den europäischen Musikmarkt gelangt, ist mit Vorsicht zu geniessen. Diese Erkenntnis erschloss sich aus dem Erfahrungsbericht des Norient-Autors Jay Rutledge beim Hildesheimer Symposium, der das Label Outhere Records mit den beiden Untersparten «Roots» und «Urban» betreibt.

Mit viel Enthusiasmus und kleinem Budget ist er beispielsweise in Westafrika auf der Suche nach interessanten Bands. Diese lädt er dann ein eine CD für den europäischen Markt aufzunehmen und organisiert für sie eine Promo-Tour in Europa. Persönlich interessieren ihn dabei besonders die Ausdrucksformen der Jugend, die meistens Hip-Hop oder Rap machen. Frei nach dem Motto «Ich höre auch keinen chinesischen Reggae» musste er allerdings für seine anfänglichen Compilations viel Kritik einstecken. Seitdem orientiert er sich, um sein Geschäft aufrecht zu erhalten, stärker an der Nachfrage des europäischen Marktes.

Positiv gesehen profitieren alle davon: die Bands erhalten eine Chance bekannter zu werden und das Publikum entdeckt neue Musik, die sie sonst nur vor Ort finden würde und die auch noch gut produziert ist. Rutledge weist allerdings auch selbst auf die Nachteile hin: der europäische Markt mag es exotisch und traditionell. Da müssen die Bands schon mal ihr Instrumentarium anpassen, um die Erwartungen zu erfüllen. Ist das Ergebnis also verfälscht?

Das Problem reicht tiefer: Denn Tradition ist überwiegend ein westliches Konzept. Die Archivierung und Aufbewahrungskultur des Westens wurde von Ethnologen in die ganze Welt exportiert. Absurderweise werden so einige «Traditionen» überhaupt erst neu erfunden. Genau wie das Konzept des «Orients« mit all seinen Klischees eine Erfindung des Westens ist.

Biography

Anja Wernicke lebt in Basel und ist als Kulturjournalistin sowie als Kulturmanagerin für verschiedene Projekte im Bereich der zeitgenössischen Musik tätig. Follow her on LinkedIn.

Published on April 30, 2014

Last updated on April 30, 2024

Topics

Belonging
Ethnomusicology
Othering
Tradition
All Topics

Snap

print as pdf