Blatnjak sind rebellische Lieder aus Russland. Sie handeln von Gaunern, Drogen, der Liebe oder von Studenten, die Ausweise fälschen. Dieses grundlegende Genre der russischen populären Musik wurde Mitte der 30er Jahre selbst in den kulturpolitischen Knast verbannt. Ganz aus dem Underground klettern die Lieder erst mit dem Ende der Sowjetunion hervor. Gesungen wurden sie aber immer, wie Peter Rippls Dokumentarfilm Kein Vertrauen. Keine Angst. Um nichts bitten zeigt.
Im Herbst 2001 begegnete mir eine seltsame CD an einem Moskauer Musikkiosk. Das Cover von Еще раз о чорте – Noch einmal über den Teufel zeigte einen goldenen, vom Höllenfeuer angeleuchteten Teufel, der drauf und dran ist, einem liegenden Mann ein Getränk einzuflössen. Im Untertitel stand: «The Best of Soviet Restaurant Music 1975-76». Die auf der Rückseite abgebildeten Musiker wirkten zeitgemäss und der Name des schönen Mannes in der Mitte kam mir bekannt vor: Graf Hortiza. War das nicht der Bursche, der seit zwei, drei Jahren auf Radio 101 diese verrückte Musiksendung namens «Transsylvanien beunruhigt» veranstaltete?
Еще раз о чорте versammelt fünfzehn Lieder aus den 60er und 70er Jahren. Lieder, die damals jeder kannte – ohne dass sie je im Radio gespielt oder auf Schallplatten gepresst worden wären. Auf der Compilation befindet sich eine wunderbare Version von Minas «Un Anno d'Amore» und ein paar andere Coverversionen italienischer und jugoslawischer Schlager. Doch die Mehrheit der Lieder gehört ins Genre des Blatnjak, es sind Gauner- und Strassenlieder.
Die Wurzeln des Blatnjak reichen weit zurück, mindestens bis ins 19. Jahrhundert. Viele der Lieder spielen im Milieu der Gauner und Diebe. Dazu kommen Scherzlieder, Strassenlieder, Liebeslieder und vieles mehr. Geeint wird das Genre durch einen subversiven Humor und eine konsequente Missachtung aller offiziellen Autoritäten.
Von der Popularität in den Underground
In den 20er und frühen 30er Jahren erlebte der Blatnjak eine Blütezeit in den Metropolen der jungen Sowjetunion: Odessa, Kiew, Leningrad, Charkow, Moskau. Selbst Stalin war ein Fan von Odessaer Gauner-Liedern wie «Gop-so-Smykom», dank derer Leonid Utjosow zum berühmtesten Entertainer der Sowjetunion aufstieg. Trotzdem verschwand der Blatnjak Mitte der 30er Jahre aus dem offiziellen Kulturleben der Sowjetunion: Gauernlieder und sowjetischer Neo-Klassizismus vertrugen sich nicht – jedenfalls nicht in den Augen Kulturbürokratie. Doch die Lieder wurden weiter gesungen, in privatem Rahmen, in den Gefängnissen und Lagern und auch an der Front: Viele sowjetische Soldaten hatten das Lied von der legendären Gaunerbraut Murka auf den Lippen und im Ohr, als sie ihr Land gegen die Nazis verteidigten. Erst viel später wurde «Murka» zum berühmtesten russischen Chanson des 20. Jahrhunderts gewählt.
Die Goldene Ära im Underground
Anfang der 60er Jahre begann die zweite Goldene Ära des Gaunerchansons. Und das obwohl öffentliche Aufführungen der Blatnjak auf Bühnen oder im Radio verboten blieben und auch Schallplattenaufnahmen tabu waren. Doch als die Tonbandmaschinen aufkamen, konnten Undergroundproduzenten wie Rudolf Fuks in Leningrad oder Stas Jeruslanow in Odessa schon bald das ganze Land mit Aufnahmen von Sängern wie Arkadij Sewernyj, Kostja Beljajew oder Igor Erenburg versorgen. Diese inoffiziellen Alben gehören zum Besten, was die russische populäre Musik des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat.
Ein perfektes Beispiel für die Blatnjak-Kunst der späten Sowjetunion bietet der Gassenhauer «Мой приятель студент - Mein Kumpel, der Student» von Igor Erenburg, das auch auf der teuflischen CD des Grafen Hortiza nicht fehlt. Das Lied handelt von einem kleinen Ganoven, dessen studierender Freund Ausweise jener sowjetischen Behörde fälscht, die mit dem Kampf gegen Korruption und Diebstahl von Volkseigentum befasst ist. Ausgestattet mit dem hilfreichen Ausweis begibt sich der lyrische Held zu einem der Manager des GUM, dem grossen Kaufhaus am roten Platz. Dieser hat furchtbare Angst vor einer Kontrolle der Behörde, weil er seinen privilegierten Zugang zu seltenen Importwaren illegal in bare Münze verwandelt und sich damit eine Datscha baut. Und so erpresst der ausweisfälschende Student vom verschreckten Manager einen schicken finnischen Anzug. Als er in seinen neuen Kleidern auf die Strasse tritt, rennen die schönsten Moskauer Mädchen ihm mit offenen Mündern hinterher.
Vom Underground zurück an die Oberfläche
Seit dem Ende der Sowjetunion dürfen Blat-Lieder in Russland öffentlich aufgeführt werden. Das Repertoire eines ganzen Jahrhunderts erschien nach und nach auf CD und in Moskau eröffneten Klubs, in denen alte Meister wie Kostja Beljajew ihren dritten Frühling erlebten. Garik Osipow aber – wie Graf Hortiza im echten Leben heisst – hat mehr als viele andere dafür getan das Genre und seine uralten Traditionen zu popularisieren, zu modernisieren und zu bewahren. In seiner Radioshow und auf unzähligen Konzerten promotet er unermüdlich die Götter der zweiten goldenen Epoche des sowjetischen Gaunerchansons: Erenburg, Sewernyj, Beljajew und Schewalowskij.
Der russische Rock’n’Roll
Was genau ein Blat-Lied ist, darüber wird in Russland bis heute heftig gestritten. Viele Blat-Lieder sind aus der Welt der Verbrecher, aus den Gefängnissen und Lagern ins Volk gewandert. Aber es gibt auch Lieder, die den umgekehrten Weg nahmen: von den Bühnen Leningrads und Odessas ins Milieu der Verbrecher. Es gibt Blat-Lieder, die auf berühmten Gedichten beruhen, solche, die einfach Variationen älterer Nicht-Blat-Lieder sind und sogar solche, die keinerlei klare Verbindung zur kriminellen Welt haben, nicht von Kriminellen geschrieben und auch nie von Kriminellen gesungen wurden. Ein weites Feld. Sergej Schnurow, der den Blatnjak mit seiner Band Leningrad elektrisiert und ins 21. Jahrhundert gehievt hat, erklärt das so: «Im Grunde war das unser Rock 'n' Roll. Nicht im Sinne von Mode oder Stil, sondern im Sinne eines Protests, einer Ablehnung des 'normalen' Lebensstils.»
Im russischen Internet und auf Youtube kann sich mittlerweile jeder einen Überblick über die russischen Gaunerchansons und ihre Protagonisten verschaffen. Einen Dokumentarfilm wie Peter Rippls Kein Vertrauen. Keine Angst. Um nichts bitten. aber gab es bislang noch nicht: Rippl erzählt die Geschichte des Blatnjak für ein westliches Publikum und bringt dafür nicht nur Sergej Schnurow und Garik Osipow vor die Kamera, sondern auch überlebende Legenden wie Rudolf Fuks und Sergej Maklakow.
Kein Vertrauen. Keine Angst. Um nichts bitten. – der Trailer