An den Swiss Music Days spielten Musiker aus der Schweizer Szene für experimentelle und improvisierte Musik auf dem Balkan und trafen in «Improvised Encounters» auf die lokale Szene in Belgrad. Auch wenn die musikalischen Sprachen ähnlich sind, sind die Bedingungen andere. Ein Blick auf die Ungleichheiten an den Swiss Music Days.
«Er ist der Regenmacher. Wenn er will, dass etwas zu Stande kommt, dann klappt das.» sagt der Gitarrist Igor Čubrilović (siehe Teil 1) über Bojan Djordjević. Wenn es in Belgrad um experimentelle und improvisierte Musik, um Jazz und Weltmusik geht, hat Bojan mit ziemlicher Sicherheit seine Finger im Spiel. So auch bei den Swiss Music Days, die er gemeinsam mit Jonas Kocher leitet.
Während die Familien im Kalemegdan-Park ihr Eis essen, kurvt Bojan durch die lauten Strassen von Belgrad. Im ernsten Leben ist er Anwalt. Jetzt sind seine oberen Hemdknöpfe offen und es gilt andere Klienten zu versorgen: Bojan garantiert, dass alle Gäste aus der Schweiz vom Flughafen abgeholt werden und zur richtigen Zeit am richtigen Ort für Soundcheck und Konzert bereit stehen. Dass er diese Koordination mit Seelenruhe und Schweizer Pünktlichkeit ausführt, hängt mit seiner jahrelangen Erfahrung zusammen. Seit 18 Jahren ist er der künstlerische Leiter des internationalen Festivals für neue Musik Ring Ring.
Experimentalhunger nach dem Embargo
Die Swiss Music Days fügen sich in Belgrad ein in eine lange Festivaltradition für experimentelle Musik. Gerade die Anfänge des Ring Ring-Festivals sind eng mit Belgrads Geschichte verwoben. Während der UNO-Embargos von 1992 bis 1995 war die Hauptstadt von der Aussenwelt abgeschnitten: wirtschaftlich, politisch und kulturell. Bis die Macht von Slobodan Milošević brüchig wird, sollte es aber noch einige Jahre dauern. Während des Embargos strahlte zwar der oppositionelle Radiosender B92 eine Sendung für experimentelle Musik aus. Es war aber kaum möglich, Konzerte zu organisieren.
Mit dem Abkommen von Dayton und dem Ende der kulturellen Apathie kam in Belgrad viel in Gang. «Die Leute waren hungrig auf Musik aus dem Ausland.» erzählt Bojan von den Ring Ring-Anfängen. «Wir wollten aber nicht nur Leute von auswärts einladen, sondern auch der lokalen Szene ein Podium geben. Denn es war schwer zu reisen und aufzutreten». Radio B92 war damals in der Insel der Freidenker zu Hause, dem Cinema Rex - einem ehemaligen jüdischen Kulturzentrum. Dem Underground verpflichtet verbreitete das Radio die Nachricht über das neue Festival und die ersten Konzerte waren rappelvoll. Im Publikum sassen vor allem junge Leute, denn viele intellektuelle Musikerinnen und Zuhörer hatten das Land bereits verlassen.
In der Dissertation The Underground Music Scene in Belgrade, Serbia (2001) von Milan Todorovic erinnert sich der Videokünstler Milos Kukuricf an das zweite, legendäre Jahr des Ring Ring: «I remember 1997 Ring Ring festival which was brilliant, […] when those Japanese guys came, […]fucking ‘Ground Zero’ from fucking Japan made it in fucking Serbia.»
Geldströme aus dem Westen
Das Ring Ring Festival ist in Belgrad schon längst zur Institution geworden. Wie Bojan erzählt, hat es Bandgründungen angestossen und jedes Jahr Bewegung in die Belgrader Szene für experimentelle Musik gebracht. Ein fester Termin ist das Festival im Mai. Alles andere als fest ist die Finanzierung: Mit welchem Geld Bojan das Ring Ring auf die Beine stellt oder ob er es ganz unabhängig durchführt, ist jedes Jahr ein Kapitel für sich: «Auf staatliche Institutionen ist in Serbien kein Verlass: Es dauert ewig, bis die Anträge durch alle Kommissionen sind. Einige Male kam der Entscheid sogar erst Monate nach dem Festival.» Aussichten, dass die Lage besser wird, gibt es wenige: in Serbien wird ein Museum nach dem anderen geschlossen. In den Augen des Staates scheinen die wenigen Kulturgelder in nationalistischen Projekten besser angelegt zu sein – wie in einer ganzen Reihe von 100-Jahr-Feierlichkeiten des «Helden» Gavrilo Princip, der 1914 das Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand verübte (siehe DW-Artikel).
Das Geld aus der Schweiz (Pro Helvetia, Kanton Bern, République et canton de Genève, Fondation SUISA, Stadt Biel/Bienne, Ville de Genève) für die Swiss Music Days fliesst da verlässlicher. Um die Partnerschaft auch finanziell eine Partnerschaft sein zu lassen, wollten Bojan Djordjević und Jonas Kocher auch den serbischen Staat ins Boot holen: «Sobald die serbischen Kulturförderer den grossen starken Partner Schweiz im Bunde sehen, verlieren sie das Interesse.» Dabei wäre diese serbische Beteiligung hinter den Kulissen allein schon symbolisch wichtig, um den typischen Hierarchien im Kulturexport entgegen zu wirken.
Jonas Kocher geht sehr reflektiert mit diesen Ungleichgewichten um, die ihn auch vor Ort immer wieder anspringen: «Klar hören die Leute Musik, die sie sonst nicht so einfach hören würden. Aber ich finde es schon problematisch, wenn man als Schweizer hier her kommt und an einem Abend das verdient, was die Leute pro Monat bekommen.»
Die finanziellen Hierarchien bei interkulturellen Projekten dieser Art sind ambivalent und wohl kaum zu lösen. (Siehe auch Norient-Artikel über Boris Previsic von Thomas Burkhalter). Aber implizieren finanzielle Hierarchien gleich auch kulturelle Hierarchien? Leider ist er nie ganz zu vermeiden, dieser Beigeschmack des Hochmutes, wenn ein reiches Land wie die Schweiz seinen State of the art im europäischen Transformationsland Serbien präsentiert.
Ungleiche Begegnungen
Die Gefahr einer kulturimperialistischen Dynamik ist bei den Swiss Music Days aber in vielerlei Hinsicht abgepuffert: Erstens ist das Projekt auf Bojans Initiative entstanden und hat schon tiefe Wurzeln: Bojan Djordjević kennt die Schweizer Szene durch das Ring Ring-Festival. Jonas Kocher kennt den Balkan seit über zehn Jahren, pflegt die Netzwerke sorgfältig und engagiert sich – u.a. in seinem Verein Swiss Balkan Creative Music. Zweitens sorgt die Zusammenarbeit mit Bojan Djordjević dafür, dass die Musik an den richtigen Orten platziert und in der Kulturszene der Stadt wahrgenommen wird.
Und drittens schufen die «Improvised Encounters» eine offene und ehrliche Form der musikalischen Begegnung, in der auch lokale Musikerinnen und Musiker zum Zuge kamen. Doch gerade diese hätten die beiden Co-Leiter ausbauen können: Von den kurzen «Improvised Ecounters» fanden nur vier statt – und auch nur in Belgrad. So konnte man sich dem Gefühl nicht entziehen, dass die Locals nur die «Vorbands» sind. Die Konzertabende wurden zumeist ganz von Schweizer Musikern getragen – auf Augenhöhe funktionierte hingegen der Mittwochabend, an dem die Swiss Music Days in die monatliche Veranstaltungen des Kollektivs ImprovE eingebunden waren.
Ungleiche Entwicklungen
Der Mittwochabend und die «Improvised Encounters» ergaben interessante chemische Reaktionen, da hier unterschiedliche musikalische Selbstverständnisse und Generationen aufeinander trafen (Siehe Teil 1 der Reportage). Improvisierte Musik mag in ihrer Abstraktheit mehr mit Persönlichkeiten als mit Grenzen zu tun haben. Aber wie Boris Previsic im Norient-Interview mit Thomas Burkhalter feststellt, sind auch die «vermeintlich universalen Paradigmata der Neuen Musik letztlich ein Produkt der europäischen Hochkultur».
Historisch gesehen, war Belgrad immer Teil dieser europäischen Hochkultur. Gerade in den 70er Jahren war die Hauptstadt Jugoslawiens nicht nur eine unentbehrliche Austauschplattform für Künstlerinnen und Künstler westlich und östlich des eisernen Vorhangs. Sie war auch selbst eine Avantgarde-Metropole. Ein Beispiel: Vergleichbar mit dem Studio für akustische Kunst des deutschen WDR hatte das dritte Programm von Radio Belgrad offene Ohren für experimentelle und Neue Musik. In diesem Geist wurde 1972 das Studio für elektronische Musik gegründet.
Ungleiche Bedingungen
In der Schweiz fehlte so eine Institution mit öffentlicher Ausstrahlung. Dennoch gab es in der Schweiz kontinuierlich eine aktive Szene mit ihren eigenen Festivals und Hot Spots. Dieses Szene ist sicherlich auch nicht ganz unschuldig daran ist, dass experimentelle und improvisierte Musik zunehmend Teil des Curriculums der Musikhochschulen wird und in Dissertationsprojekte Einzug hält. (Siehe Norient Artikel Ist die Freie Improvisation am Ende?)
Das Repertoire, das an der Musikhochschule in Belgrad unterrichtet wird, reicht hingegen nur selten über das 19. Jahrhundert hinaus - umso wichtiger sind Festivals wie Ring Ring, das Studium im Ausland, der Austausch über das Internet oder über Kollektive – oder Workshops wie der von Diatribes an den Swiss Music Days. Nicht nur die fehlende Ausbildung, sondern auch die fehlende Förderung bremst die Weiterentwicklung der Belgrader Szene aus – viele Musikerinnen und Musiker überleben durch Brotjobs oder Engagements im Ausland (siehe Artikel Teil 1). Und diese Bedingungen wirken auch immer in die Musik hinein.
Ungleiche Genderverteilung
Die sichtbarsten Ungleichgewichte an den Swiss Music Days herrschten innerhalb der Schweizer Delegation selbst: dass Vera Kappeler die einzige Frau neben 23 männlichen Musikern war, ist schlicht antiquiert. Programmationen sollten immer gendersensibel sein, aber erst recht, wenn es um kulturelle Repräsentationen geht (diese extreme Männerdominanz ist – zum Glück – kein Abbild der Schweizer Szene für experimentelle und improvisierte Musik).
Die Belgrader Szene braucht keinen erhobenen Gender-Zeigefinger, denn dort sind fast genauso viele Männer wie Frauen präsent – sie sind nicht nur als Musikerinnen, sondern in den Kollektiven (z.B. Svetlana Maraš), Vereinen (Manja Ristic) und Ensembles (Milana Zarić) auch in der Programmierung und Organisation aktiv. Die «Improvised Encounters» mit der Belgrader Szene taten ganz nebenbei also auch der Genderdurchmischung der Swiss Music Days gut.
Bojan Djordjević parkt vor dem Hotel Slavija und atmete nochmal durch, bevor er den mit Quittenschnaps beladenen Koffer von Cyrill Bondi ins Auto hieft. Der Genfer Schlagzeuger ist müde vom vielen Umherreisen auf dem Balkan, aber erfüllt von den Konzerten und der grossen Herzlichkeit der Gastgeber. Bis Mai zum Ring Ring werden die Monate schnell vergehen - auch bis dahin wird Bojan durch Belgrad kurven, organisieren, vernetzen und den düngenden Regen noch einige mal anknipsen.