Leise Musiker in einer lauten Stadt
Der Nahe Osten gilt als politischer Brennpunkt. Davon profitiert neue Musik aus der arabischen Welt. In Kairo behauptet sie sich gegen mancherlei Widerstände.
Auf dem Nil. Schnellboote stören die romantische Zweisamkeit der Verliebten auf ihren gemieteten Feluken. Popmusik dröhnt: Laut, kommerziell, immer gleich. Brauchen die über sechzehn Millionen Einwohner Kairos überhaupt Musik? Wer die Augen schliesst, kurz ausblendet, wie der Smog die Häuser der gegenüberliegenden Flussseite verschlingt, hört das Strömen des Wassers nicht. Autos fahren an, hupen, bremsen. Muezzine rufen zum Gebet. Männer und Frauen diskutieren, lachen und streiten. Und manchmal kräht ein Hahn. «Sind Sie Amerikaner?», hört der Besucher aus Europa immer wieder. «Was halten Sie von Bush?» «Wird der Nahe Osten erneut kolonialisiert?» Der Irakkrieg ist in vollem Gange; TV-Kriegsgeräusche mischen sich in die Kakophonie der Stadt. – Für Musik scheint kein Platz zu sein. Das Ministerium für Kultur stellte während dem Irakkrieg denn auch sämtliche offiziellen kulturellen Aktivitäten des Landes ein: Wenn in Irak Menschen sterben, sollen Ägypter nicht feiern, lautete die offizielle Begründung. In Tat und Wahrheit fürchtete sich das Regime von Präsident Hosni Mubarak wohl vor allem vor grösseren Menschenansammlungen. Schliesslich hatten sich mit dem Kriegsausbruch in Kairo die ersten spontanen Grossdemonstrationen seit Jahrzehnten in gewalttätigen Ausschreitungen entladen. Tom Hartwell, ein US-Amerikanischer Fotograf, der seit über zwanzig Jahren in der ägyptischen Hauptstadt lebt, winkt ab: «Die westlichen Medien haben diese Ausschreitungen aufgebauscht und sogar von einem nahenden Staatstreich gesprochen. In Ägypten bewegt sich alles aber nur ganz ganz langsam.»
Kultur vom Staat kontrollliert
Seit der sozialistischen Ära Nassers Ende der Fünfzigerjahre wird die gesamte Kultur mehr oder weniger vom Staat kontrolliert. In den Sechzigerjahren hatte fast jeder Intellektuelle mindestens zwei Jahre im Gefängnis verbracht, um danach in hohe Staatspositionen berufen und damit mundtot gemacht zu werden. In den Achtzigerjahren, unter Sadat, hatten sich die Bedingungen für Künstler ein wenig verbessert, die Zensur jedoch blieb bestehen, und jegliche Opposition wurde weiter unterdrückt. Mit dem Aufkommen des Islamismus erweiterte sich der Kreis der Tabuthemen: der Präsident und seine Familie, die Religion, die Sexualität. Und doch: Gerade in den letzten Jahren konnte sich in Ägypten eine freie Kulturszene entwickeln, die sich im Bereich Musik heute in drei Strömungen unterteilt: die offizielle Musikkultur an Konservatorien und im Opernhaus; die private kommerzielle Popmusik-Industrie und die unabhängige nicht-kommerzielle Musikszene. Gerade sie könnte Nährboden für musikalische Entwicklungen sein und wird deshalb von den Kulturfunktionären am meisten gefürchtet. Der sympathische, etwas schläfrig in die Welt blickende Mahmoud Refat verkörpert nicht gerade das Bild eines Umstürzlers. Mit seinen Aufnahmen der Alltagsgeräusche Ägyptens stellt er seine Heimat ungefiltert, ungeschönt – anders – dar. In seinem Computer setzt er die Klangrealitäten neu zusammen und formt neue Hörbilder. Gleich realitätsnah und doch verfremdend arbeitet Refat in den Bereichen Videokunst und Tanz.
Früher ist Mahmoud Refat auch als Schlagzeuger aufgetreten. Nun schwärmt er von vergangenen Zeiten. Vor acht Jahren noch habe die alternative Musikszene in Kairo floriert: «Wir spielten in Bars, auf Schiffen, ja sogar Open Air. Wir kleideten uns wild und schmierten Make-up ins Gesicht. Die Regierung bekam Angst, sie sah die Bewegung grösser werden, sah, dass Drogen im Spiel waren, sah den Status Quo gefährdet. Mindestens fünfzig Sängerinnen und Musiker wurden verhaftet. Das war der Tod unserer Musikszene.» Über achtzig Prozent der Musiker von damals hätten ihre Instrumente an den Nagel gehängt. Und keiner wage sich mehr, Konzerte zu veranstalten. «Von diesem Schock haben wir uns bis heute nicht erholt.»
Doch zurück zum heutigen Kairo. Die palästinensische Sängerin und Oud-Spielerin Kamilya Jubran, die französische Kontrabassistin Sarah Murcia und die beiden Schweizer Werner Hasler (Elektronik) und Michael Spahr (Visuals) treten auf Einladung der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia im unabhängigen Kulturzentrum «Townhouse» auf – das offizielle Kairo hat ihren geplanten Auftritt im legendären Beit Harrawi Theater nicht genehmigt. Die Aufführung stösst auf grosse Begeisterung. Jubrans neue Art, Einflüsse ägyptischer Musikerlegenden wie Umm Kulthum, Mohammed Abdel Wahab und Sayyid Darwish umzusetzen, regt zu heftigen Diskussionen an. Vor allem für die anwesenden Musiker sei es enorm wichtig zu sehen, dass eine Musik modern, in Konzeption und Gestaltung arabisch und zugleich von höchster Qualität sein könne, schwärmt der Musiker Fathy Salama und berichtet über die Schwierigkeiten der nicht-kommerziellen, nicht-staatlichen Szene: «Es gibt für uns bloss zwei Auftrittslokale in der Stadt: der ‹Cairo Jazz Club› und das ‹After Eight›. So spielen wir für miese Gagen in Luxushotels, oder wir begleiten in den zwielichtigen Kabaretts von Gizeh Bauchtänzerinnen.»
Fathy Salama hat vor kurzem ein Label für neue, nicht-kommerzielle Musik gegründet – wahrscheinlich das einzige dieser Art in Ägypten überhaupt. Ein Jahr lang hat er Anträge an das Kulturministerium und den Staatssicherheitsdienst hin und her geschickt, um am Ende 10’000 ägyptische Pfund – 2500 Franken – zu bezahlen: «Jetzt besitze ich die Lizenz zur Produktion und zum Vertrieb von CDs. Die Hauptfrage aber bleibt: Wie bringe ich meine Produkte an die Kunden?»
Erfolgreiche Raubkopien
Fernsehen und Radio senden in Ägypten fast ausschliesslich kommerzielle Popmusik. Dominiert wird der Musikmarkt vom Tonträgergiganten «Founoon», der seine Produkte in die gesamte Welt vertreibt und in Ägypten fast ausschliesslich auf Superstars wie Amr Diab oder Samira Said setzt. Frederic Giaccardo, der französische Leiter des Unternehmens, sieht zwar ein, dass Alternativestile nötig wären, um den Mainstream immer wieder mit frischen Elementen aufzufrischen; er könne aber nichts hierfür unternehmen, denn: «Die Produkte, die wir in Ägypten verkaufen, müssen am Veröffentlichungstag einen enormen Absatz erzielen. Ab dem zweiten Tag ist unser Profit gleich null, weil in allen Kassettenläden nur noch Raubkopien stehen. Bevor wir die Piraterie nicht ausgerottet haben, werden wir keine alternativen Musikstile in unseren Katalog aufnehmen können.»
In Kairo einen Kassetten- oder gar einen CD-Laden zu finden, ist gar nicht so einfach. Musiker und Musik haben keinen grossen Stellenwert in dieser Stadt, dies versichern sie alle, die hier von ihrer Musik zu leben versuchen: sei es der Schweizer Kairo-Besucher Thomas Jeker, der Saidi-Musiker Mostafa Rezk, der senegalische Trommler Modou, der Armenier zweiter Generation George Kazazian oder der zeitgenössische Komponist Khaled Shoukri. Dabei zeigt das CD-Gestell des endlich gefundenen Ladens auf der Insel Zamalek, dass alles einmal anders gewesen war. Die Legenden des letzten Jahrhunderts, Umm Kulthum, Abdel Wahab und Co., stehen aufgereiht, daneben die Musik von heute: Pop, Pop, Pop. Auf einer einzigen CD lächelt kein Star dem potenziellen Käufer entgegen: «Shabaka», die Hülle aus Karton, zeigt einen computeranimierten Feuerwall. Auf der CD werden TV-Ansprachen mit elektronischen Sounds und Beats gemixt; einiges erinnert an Asian Underground. Per E-Mail ist der Kontakt zu Omar Karim Kamel, dem Herausgeber der CD schnell hergestellt. Wie der Multimedia-Künstler kurze Zeit später die Türe zu seinem Appartement auf der teuren Nilinsel Zamalek öffnet, springt ein Riesenvieh von einem Hund – wahrscheinlich der einzige in Kairo – an einem hoch.
Das Zimmer ist verdunkelt. Im Fernseher läuft BBC World, Computer Eins ist auf ein Chat-Forum eingeloggt, Computer zwei zeigt US-amerikanische Kriegsflugzeuge. Zurzeit ärgere er sich vor allem über den Neuanfang des Kolonialismus, meint Kamel, nebenbei bleibe ihm aber noch ein wenig Zeit, an einem Internetportal für unabhängige ägyptische KünstlerInnen (www.egyptartlink.com) zu basteln. Zu seiner kürzlich veröffentlichten CD sagt er im breitesten amerikanischen Akzent: «Sie ist von A bis Z auf dem Computer produziert. Und nur weil keine Produktionskosten mehr zu bezahlen waren, wurde sie von einem Label in den Katalog aufgenommen. Ich bin wahrscheinlich der erste Musiker Kairos überhaupt, der diesen Weg geht.»
Fehlende Kritik
Einmal pro Woche spielt Wust El Balad («Stadtzentrum»), die hoffnungsvollste alternative Popgruppe Kairos, im Cairo Jazz Club. Überrissene zwanzig Pfund (5 Franken) kostet das Bier hier. Die hier versammelte Wohlstandsjugend trägt US-Markenklamotten. Kaum arrangiert, unpräzise und oft in Überlänge bieten die zehn Mann von Wust El Balad ihre Popsongs dar – die «jeunesse dorée» scheint’s nicht zu stören. Ein Journalistenkollege jedoch, seinen Namen will er nicht nennen, ärgert sich fürchterlich: «Die Musiker in Kairo sind einfach nicht kritikfähig. Alle sind nett und höflich miteinander, die künstlerische Qualität geht damit baden. Zudem gibt es Musikkritiken in Ägypten höchstens in den gehobenen französisch- und englischsprachigen Zeitungen.»
Grund zur Hoffnung besteht aber trotzdem. Im Westen ist das Interesse an neuer arabischer Kultur parallel mit den politischen Entwicklungen seit dem elften September 2001 gestiegen. Das Festival «DisOrientation» zum Beispiel lud letzten Monat zahlreiche unabhängige KünstlerInnen aus der arabischen Welt ins Haus der Kulturen in Berlin. Und internationale Kulturorganisationen, allen voran die Holländische Botschaft, die Ford Foundation und die Pro Helvetia, setzen sich vor Ort für die unabhängigen Szenen ein. Die holländische Botschaft hat sich beim Bau des «Townhouse» und der Jesuitenzentren in Alexandria und Minja beteiligt und damit mitgeholfen, dringend benötigte neue Auftrittsorte für alternative Künstlerinnen und Künstler zu schaffen. Kritisiert wird die Förderungspolitik der einzelnen Institutionen (auch Goethe Institut, British Council etc.) trotzdem: Sie arbeiteten immer mit denselben Künstlern, sie spürten zu selten neue Talente auf, und sie operierten nach Kriterien, die in ihrem jeweiligen Heimatland ausgearbeitet würden…
«Klagen nützen nichts», meint der Oud-Spieler George Kazazian streng: «Entweder ist einer Musiker – auch unter widrigen Bedingungen -, oder er lässt es sein.» Auch der Performance-Künstler Hassan Khan mag nichts mehr hören: nichts vom Lärm der Stadt, nichts von seinen Musiker- und Künstlerkollegen. Während vierzehn Tagen sitzt er für je vier Stunden in einem schalldichten Spiegelkäfig, betrinkt sich mit Bier und gibt seine einschneidenden Erfahrungen an der American University zum besten. Spätestens nach drei Stunden ist er Abend für Abend fix und fertig. Er flucht, «wie bin ich bloss auf diese stupide Idee gekommen?!» Und wie er aus dem Spiegelkäfig rauskommt, weint er.
Biography
Published on August 17, 2003
Last updated on April 30, 2024
Topics
From political music in the GDR, the trouble of punk musicians in China and the dangerous life of kurdish folk singers in Turkey.
From Beyoncés colonial stagings in mainstream pop to the ethical problems of Western people «documenting» non-Western cultures.
Music and art that dealing with the unfinished and undefined.