MP3-Blogger in den USA und Europa sammeln alte Schallplatten und Kassetten aus Afrika, Asien und Lateinamerika und bieten sie im Internet frei und franko zum Download an. Das stösst bei Musikfreunden auf Gegenliebe, führt aber auch Kritiker auf den Plan. Ein Podcast.
Auf der Fahrt im Minibus in die nordmalische Wüstenstadt Kidal hört Christopher Kirkley sie zum ersten Mal: Die Kakophonie aus regionalen Pophits, die aus den Handys seiner Mitfahrer an seine Ohren schallen. Die Musik fasziniert ihn: «Das ist keine sanfte Weltmusik für westliche Ohren. Die Musik ist billig produziert, nimmt internationale Trends auf und hat doch einen lokalen Sound», erklärt er rückblickend. Bald tauscht Kirkley Tracks mit den Leuten in Kidal: Von seinem Computer auf ihre Handys, und von ihren Handys auf seine Harddisk. Er produziert die LPs «Music from Saharan Cellphones», heute zwei Kultplatten in der Bloggerszene. Promotion und Vertrieb laufen über seinen Blog Sahelsounds.
MP3-Blogs: Alte Platten und quere Sounds
«Sahelsounds» ist einer von unzähligen MP3-Blogs im Internet. Sie tragen klingende Namen wie «Monrakplengthai» (bezaubernde Lieder Thailands), «Excavated Shellac» (ausgebaggerte Schellack-Platten), «Awesome Tapes from Africa» (Fantastische Kassetten aus Afrika) oder «Madtrotter-Treasure-Hunt» (Irrer Schatzjäger) – nicht zu vergessen die rund einhundert Blogs zu Musik in Angola von O Toke É Esse. Die MP3-Blogger stöbern bei Strassenhändlern nach raren Kassetten, auf Flohmärkten nach Vinyl, und mit anderen Sammlern tauschen sie Schellackplatten.
Mark Teare von «Snap, Crackle & Pop» erklärt die typischen Arbeitsschritte, wenn der Tonträger schliesslich zuhause liegt: «Ich putze die neu erworbene Schallplatte, überspiele sie auf meinen Computer, schneide das Audiofile in einzelne Tracks und lade das digitale Album auf einen Online-Speicher. Auf meinen Blog setze ich das Coverbild, Informationen und den Link zu diesem Online-Speicher. Jeder kann das Album jetzt von dort gratis auf seinen Computer herunterladen». Das sei zwar kein Rock’n’Roll, sagt er, aber eine schöne Beschäftigung am Abend, wenn die Kinder im Bett lägen.
Im Fokus der MP3-Blogs stehen rare Tonträger, die entweder im Markt nicht mehr erhältlich sind oder aber von traditionellen Mainstream-Medien, nationalen Archiven oder der musikethnologischen Forschung ignoriert werden – und wurden: Funk aus Nigeria, Jazz aus Äthiopien, kubanische Musik aus dem Kongo oder Psychedelischer Rock aus der Arabischen Welt, alles Zeugen früher Globalisierungsströme der 1960er und 70er Jahre. Oder regionale Popmusik: Der billig produzierte Handy-Pop aus Mali, der die Gesangsstimmen durch eine Autotune-Software jagt und manchmal wie von einem anderen Stern klingt.
Oder der fiebrig schnelle Shangaan-Electro aus Südafrika. Blogger Wills Glasspiegel fand ihn beim Surfen auf YouTube. Er reiste nach Südafrika, traf die lokalen Produzenten und half schliesslich bei der Veröffentlichung des ersten Shangaan-Sammelalbums. New Wave Dabké aus Syrien und Mahragan aus Ägypten sind weitere Popmusikstile, die lange als Müll, Kitsch oder kulturell minderwertig abgetan wurden und jetzt massenhaft neue Hörer finden.
Jonathan Ward von «Excavated Shellac» kauft seine Schellackplatten für viel Geld. Sie drohten heute in Vergessenheit zu geraten, sagt er: «In der Geschichte der Musikindustrie aber sind sie von grosser Bedeutung». Er schwärmt: «Schellackplatten sind schwer und brechen leicht. Dass sie die Zeit überlebt haben, grenzt an ein Wunder». Die Blogger digitalisieren diese Tonträger, laden die Daten auf einen Online-Speicher, und von dort kann sie jedermann herunterladen – frei und franko.
Da sich weltweit nur wenige Länder professionelle Tonarchive leisten, kommt diesen MP3-Blogs im Hinblick auf Dokumentation und Geschichtsschreibung eine gewisse Wichtigkeit zu – auch wenn sie ein professionelles Archiv natürlich nicht ersetzen. Den Aufwand, den etwa die Schweizer Landesphonothek Fonoteka beim putzen, flicken, digitalisieren, dokumentieren und katalogisieren von Tonträgern leistet, können die Blogger schlicht nicht aufbringen.
Neuer Wind in der Musikethnologie
Schon früher haben Musikethnologen Sammlungen und Archive mit Feldaufnahmen von meist ländlicher Musik von der ganzen Welt angelegt. Christopher Kirkley von «Sahelsounds» bezeichnet sich denn auch bescheiden als «Hobby-Musikethnologen». Zur ethnographischen Forschung stellt er aber grundsätzliche Fragen: «Was heisst ‘dokumentieren’ im digitalen Zeitalter», fragt er: «Ich nahm in der Sahara mit teuren Mikrofonen einen Bluesgitarristen auf, und um mich herum schnitten Jugendliche dieselbe Musik mit ihren Handys mit. Welche Rolle bleibt mir da noch, als amerikanischer Musikethnologe?»
Während MP3-Blogging für viele Hobby bleibt, bauen andere damit Karrieren. Brian Shimkovitz vom Blog «Awesome Tapes from Africa» kaufte in Afrika Tausende von Kassetten und tritt heute als Kassetten-DJ in der ganzen Welt auf. Jonathan Ward von «Excavated Shellac» ist Herausgeber der 4CD Box 4CD Box «Opika Pende», einer Sammlung mit raren Schellackplatten aus Afrika, aufgenommen zwischen 1909 und 1960. Das Album ist für einen Grammy nominiert, als bestes historisches Album von 2012.
Rechtliche und ethische Fragen
MP3-Blogging bringt aber auch Kritiker auf den Plan. Die grossen Massenspeicher, auf denen MP3-Blogs ihre Musik hochladen und zum Download anbieten, werden immer wieder geschlossen – aufgrund gerichtlicher Verfügungen, denn zu viele von Copyrights geschützte Daten wurden hoch- und heruntergeladen. Die Blogger verstehen diese Diskussionen um Urheberrechte nur bedingt: Erstens ist die Musik auf ihren Blogs meistens sonst nirgends erhältlich, und zweitens schätzten gerade die heute aktiven Nischenmusiker diese Blogs als effektive Promotionsplattformen. Und: Bei ihren kommerziellen Veröffentlichungen klären auch die Blogger Urheberrechte ab und zahlen Lizenzgebühren. Der Erlös der LPs «Music From Saharan Cellphones» gehe zurück an die Musiker betont Kirkley: «Wir sollten Musiker aus der Sahara nicht anders behandeln als Musiker aus unserer Nachbarschaft».
Kolonialismus und andere Attacken
Die meisten Blogger seien Männer, aus den USA und Europa, weiss und heterosexuell, schreibt Portia Seddon in einem wissenschaftlichen Artikel zu MP3-Blogs auf norient.com. Kritiker setzen genau hier an: Das sei kultureller Postkolonialismus, neuzeitlicher Audio-Tourismus, oder gar akustischer Rassismus. Europäer und US-Amerikaner plünderten die Musik des Südens. Die Blogger machen sich zu diesen Fragen durchaus ihre Gedanken. Nick Barbery von «Ghost Capital» sagt, er sei selbstkritisch, und diesen komplexen Fragen gegenüber auch unsicher. Letztlich wolle er aber schlicht neue Klänge aus fernen Ländern freilegen – ob das etwa unethisch sei? Man dürfe doch nicht verbieten, Globale Musik zu suchen, sie zu erforschen und über sie zu diskutieren?
Natürlich bleibt die ewige Suche nach fremder und exotischer Musik auch bei MP3 Blogs präsent. Gelegentlich kommt auch tatsächlich ein schales Gefühl auf: wenn Blogger in Afrika aktuelle Popkassetten kaufen, ins Netz stellen und international ihre Karrieren als DJs und Produzenten ankurbeln. Allerdings ist dabei so wenig Geld zu verdienen, dass man die Relationen wahren sollte. Wichtiger ist, dass diese MP3-Blogs neue musikalische Schätze heben. Die MP3-Blogger sind keine grossen Institutionen mit Finanzkraft und Definitionshoheit. Wenn man Afrika, Asien und Lateinamerika nicht mehr nur als «fremd» oder «exotisch» definieren und hören will, so müssten eigentlich vor allem diese grossen Institutionen voran gehen: die noch immer überwiegend konservativen Institute für Musikethnologe, die internationale Kulturförderung, die in Nicht-Westlicher Musik immer Lokalkolorit hören will, und die internationalen NGOs, die mit Musikern aus dem «Weltsüden» nur dann arbeiten, wenn sie nicht allzu unbequeme Musik machen, sich aber dafür politisch oder sozialkritisch äussern.