Visuals sind bewegte Bilder, die meistens live und interaktiv zu Musik gespielt werden. Gesteuert werden sie von so genannten Visual Jockeys, kurz VJs. Die Kunstform Visuals gilt als sehr jung. Wer jedoch einen Blick in die Geschichte wirft stellt fest, dass seit Jahrhunderten Versuche unternommen werden, Klänge zu verbildlichen.
Die Geschichte der visualisierten Musik ist wahrscheinlich so alt wie die Musikgeschichte selbst. Belegt ist, dass im Zeitalter der Aufklärung erste Geräte entwickelt wurden, die Töne mit Bildern untermalen sollten. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts baute der Jesuitenmönch Louis Bertrand Castel das erste Farbencembalo. Je nach Taste, die gedrückt wurde, öffnete sich ein kleiner Vorhang. Dahinter zeigte sich dann eine Farbscheibe, die einem jeweiligen Ton zugeordnet war. Je nach Oktave war diese heller oder dunkler. Der Komponist Georg Philipp Telemann komponierte Musik für dieses Instrument. Es sollte aber noch etwa ein Vierteljahrtausend dauern, bis sich Visuals in der Musikkultur etablieren würden.
Die Geschichte von Visuals ist auch eine Geschichte der Technologie, und eine Geschichte erfindungsreicher Menschen. Einen Sprung nahm die Entwicklung folglich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, als Ton und Bild zum ersten Mal mit Hilfe von Geräten festgehalten wurden. Damals entstanden Film, Foto und Tonträger. Am Anfang waren das meist technische Spielereien. Nach dem ersten Weltkrieg, in Zeiten von DaDa, Surrealismus, Futurismus und Russischer Avantgarde, begannen Kulturschaffende mit Visuals generierenden Geräten zu arbeiten. Zum Beispiel baute der russische Maler Wladimir Baranov Rossiné Anfang der 1920er-Jahre das «Optophonische Klavier», ein elektronisches Instrument mit einer Klaviertastatur. Drehende Scheiben projizierten via Filter, Spiegel und Linsen Bilder an die Wand. Der Klang war ziemlich «blechig». Folglich war das Instrument kaum als Solo geeignet, sondern diente in erster Linie der Begleitung eines Orchesters.
Einen riesigen Sprung machte die Entwicklung erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Fernsehen entstand und somit auch die Popularisierung audio-visueller Medien. In den 1960er-Jahren experimentierten die Künstler der Hippie-Bewegung – etwa The Joshua Light Show - noch mit analogen Mitteln. Sie benutzten Hellraum-Projektoren mit Schalen mit Flüssigkeit und kreierten psychedelische Visuals. Wer nicht sowieso schon genug LSD an Grateful-Dead-Konzerten geschluckt hatte, bekam dank den Lichtkünstlern zusätzliche visuelle Halluzinationen geliefert.
In den 1970er-Jahren begann Video die Welt zu erobern. Typisch für die Geschichte von Visuals war auch hier die Personalunion von Kunstschaffenden und Tüftlern. Der koreanische Künstler Nam June Paik gilt zum Beispiel als der erste Videokünstler überhaupt. Er experimentierte schon in den 1960er-Jahren mit Video und entwickelte seine Geräte selbst. Diese landeten wiederum beim Experimental Television Center in New York. Gegründet 1971, wurde es zu einem Zentrum für neue Medienkunst. Wichtig waren aber auch Orte, wo die neue Kunstform gezeigt werden konnte. Einer dieser Orte war der Punk-, Industrial- und New Wave Club Hurrah, ebenfalls in New York. Ende der 1970er-Jahre wurden dort neben der Tanzfläche Fernseher aufgestellt, auf denen Musikvideos und Videokunst zu sehen waren.
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In den 1980er-Jahren wurde Video zur erschwinglichen Technologie. Video-Mixer erlaubten den ersten VJs filmisches Material im Takt der Musik zu steuern. Auch der Personal Computer etablierte sich langsam: nun konnten Bilder mit Rechnern kontrolliert werden. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss von MTV. Ähnlich wie die DJs beim Radio, entstand hier der Begriff «VJ». Diese VJs waren aber eher Video- als Visual Jockeys. MTV war umso bedeutender, weil Videoclips eine eigene Plattform erhielte: denn damals wurden auf MTV hauptsächlich Musikvideos gezeigt, auch Werke, die sehr experimentell waren.
Erst in den 1990er-Jahren gelang der Visuals-Kultur der wirkliche Durchbruch. Einerseits wegen besserer und billiger Technologie: Videoprojektoren (Beamer), Laptops und Software. Andererseits passten Visuals perfekt zur neuen Rave-Kultur. DJs wurden so populär wie Bands, doch was die Bühnenshow betraf boten sie meist nicht soviel wie Rockbands. VJs übernahmen die Aufgabe, dem Tanzpublikum auch visuelles Futter zum Fest zu liefern. Pioniere waren hier unter anderem die Leute des Ninja Tune Labels: Cold Cut und Hexstatic boten nicht nur ausgefeilte Visuals, sondern verkauften auch eine Software für VJs – einmal mehr also die Verschmelzung von Kreativen und technisch Begabten. Auch die Berner VJ-Pioniere des Kollektivs Optickle, VJ Mo und VJ Dig, programmierten ihre eigene Software, die dann genau die Bedürfnisse erfüllen konnte, von denen sie immer geträumt hatten.
In den VJ-Foren im Internet, den wichtigsten Austauschplattformen der Szene, war die Euphorie am Anfang des 21. Jahrhunderts sehr gross. So prophezeiten VJs, ihre Kultur würde das «nächste grosse Ding» in der Musikwelt werden. 2012 muss jedoch ernüchtert festgestellt werden, dass nach wie vor der blosse Ton dominiert – und nicht die Kombination von live gespieltem Audio und Video. Trotzdem wurde es fast schon von einer Band oder einer Clubnacht erwartet, eine starke visuelle Komponente im Programm zu haben. Zudem hat sich sowohl an den Kunsthochschulen als auch in Kulturinstitutionen die sogenannte Medienkunst einen wichtigen Stellenwert erobert. Die VJs und ihre Visuals-Kultur sind ein wichtiger Teil dieser neuen Kunstsparte. Heute können VJs ihre Kunst auf Hochschulniveau lernen – und sie können ihre Visuals-Kunst auch ausserhalb der Rave-Kultur zeigen.
Auch das 4. Norient Musikfilm Festival bietet der Visuals-Kultur eine Plattform. So begleiten die Supermafia VJs den Auftritt der National Fanfare of Kadebostany – oder Kadebostany, wie sich die Staatskappelle der fiktiven Republik Kadebostan neu nennt. Sie benutzen dazu die neueste Visuals-Technologie, nämlich sogenanntes «Mapping». Das bedeutet, dass Visuals nicht mehr bloss auf rechteckigen Leinwänden zu sehen sind, sondern auf allen erdenklichen Flächen.