Martina Kunz, Les Mémoires d’Helène (photo: Claudia Popovici).

«In der Schweiz leben wir in einem goldenen Käfig der Angst»

Interview
by Janina Neustupny

Norient Festivalkuratorin Claudia Popovici spricht über die Theater-Sound-Performance Body of Fear des transnationalen Kollektivs Les Mémoires d’Helène. Ein erstes Showing dieser radikalen Konfrontation mit menschlichen Ängsten wurde im Januar 2024 im Rahmen des 13. Norient Festivals im Tojo Theater Bern aufgeführt.

Read an English version of this interview here.

Bern, kurz nach 17 Uhr, stockfinsterer Abend, schummrig leuchten Strassenlampen beim Blick aus dem Fenster. Der kalte Dezemberregen erstarrt in dicke Schneeflocken, die den Boden matschig bedecken. Winterzeit in der Schweiz.

Chiapas, 10 Uhr. Hühnergegacker und helles Tageslicht dringt durch die Tür eines bunt gestrichenen Aufenthaltsraums, aus dem sich Festivalkuratorin Claudia Popovici in ihrer Residency in Mexiko zuschaltet. Sommerzeit in Mexiko.

[Janina Neustupny]: Verkrampfter Magen, kalter Schweiss, zittrige Hände, gelähmter Verstand. Claudia, warum habt ihr euch für ein Thema entschieden, das euch Künstler*innen ebenso wie das Publikum radikal aus der Komfortzone katapultieren wird?

[Claudia Popovici]: In der Schweiz leben wir in einem goldenen Käfig, worin Sicherheitsdenken und Kapitalismus unser Leben – und unsere Ängste bestimmen. Statt ihnen auf den Grund zu gehen, verdrängen wir sie und geben uns nach aussen hin stark und erfolgreich. Als Kollektiv wollen wir uns diesem gesellschaftlich verankerten toxischen Muster bewusst werden. Wer sich mit seinen Ängsten konfrontiert und sie kennt, kann sie überwinden.

[JN]: Was hat die Künstler*innen-Residenz in Mexiko ausgelöst?

[CP]: Diese Erfahrung war prägend. In Mexiko haben wir während der Projektentwicklung viel von der offenen Einstellung der Menschen zu persönlichen Ängsten gelernt, vor allem im Umgang mit dem Tod, der mit dem Dia de los Muertos gefeiert wird. Wir haben in einer neuen Umgebung neue Perspektiven erfahren und unsere Ängste innerhalb der Gruppe geteilt. Dieser Prozess war emotional intensiv, mit befreienden Momenten und schmerzhaften Konfrontationen mit unbewussten Ängsten. Body of Fear ist ein sehr persönliches Projekt, das sich in weiteren drei Residenzmonaten weiterentwickeln wird. Eine erste Fassung zeigen wir am Norient Festival 2024.

Martina Kunz, Claudia Popovici und Benjamin Spinnler: Mitglieder der transnationalen und interdisziplinären Kollektivs Les Mémoires d’Helène (Foto: Claudia Popovici).

[JN]: Body of Fear ist eine Theater-Sound-Performance: Welche Rolle spielen Musik und Sounds innerhalb des Stücks?

[CP]: Wir erforschen darin, wie sich Angst anhört. Welche Frequenzen, Stimmlagen und Geräusche lösen körperliche Angstreaktionen oder -gefühle aus? Auch über das Ohr kreieren wir Begegnungen mit beängstigenden Szenarien. Indem wir uns diesen akustisch annähern, gelingt es uns besser, sie einzuordnen und zu verstehen.

[JN]: Was hast du aus dieser Auseinandersetzung persönlich mitgenommen?

[CP]: Mein Migrationshintergrund hat Unsicherheiten in mir ausgelöst: Ängste, nicht dazuzugehören oder nicht den gesellschaftlichen Erwartungen zu genügen. Die Arbeit am Stück hat mir bewusst gemacht, dass ich mir überall auf der Welt ein Zuhause schaffen kann, wo auch immer ich mich befinde. Jetzt spüre ich noch das Lampenfieber vor der ersten Vorstellung. Aber ich nenne es jetzt Vorfreude.


Claudia Popovici, Curator Norient Festival, Member Les Mémoires d'Helène

Claudia Popovici ist eine globale Nomadin, die meistens in Zürich lebt. Die Fotografin und Filmemacherin bewegt sich seit Jahren mit der Kamera in der freien Theaterszene und bildet seit 2020 mit Martina «Momo» Kunz und Benjamin Spinnler den Kern des interdisziplinären Kollektivs Les Mémoires d’Helène. Als Mitglied in der internationalen Programmgruppe des Norient Festivals, das sie 2023 künstlerisch leitete, ist sie seit drei Jahren aktiv. Für Body of Fear haben sich Les Mémoires d’Helène neu erfunden: Transnational, mit der ausdrucksstarken Performerin Sofia Zambrano, Live-Musik von Nicolas Balmer alias Nico Sun, dem Szenographen Omar Ghayatt, den Videokünstlern Roman Hartl und Carroll Omuom und der visuellen Künstlerin Stefanie Steffen aus La Chaux-de-Fonds. In Body of Fear betrachtet die interdisziplinäre Gruppe das Thema Angst aus verschiedenen Blickwinkeln und ist radikale Konfrontation mit eigenen Ängsten.

Die Theater-Sound-Performance «Body of Fear» war Teil der 13. Ausgabe des Norient Festivals.

Biography

Janina Neustupny is a communications allrounder and cultural agitator, based in Bern. She has joined the Norient team as a content manager and press officer in August 2022. Follow her on Instagram, and LinkedIn.

Published on December 11, 2023

Last updated on February 02, 2024

Topics

Body
Performance
All Topics
print as pdf