«Full Metal Village»

«Full Metal Village»

Ein Bauerndorf in Deutschland wird überschwemmt von «Wochenend-Metallern»! Ein Dokumentarfilm von Cho Sung-Hyung (Korea/Deutschland).

Wacken – für Freunde harter Gitarrenmusik ist dieser Ort untrennbar mit dem Wacken Open Air verbunden, dem grössten Heavy Metal Festival der Welt. Seit 1990 findet es jährlich am ersten Wochenende im August statt, mehr als 80’000 Menschen besuchten die Veranstaltung im Jahr 2010.

Wacken – das ist aber auch und vor allem ein 1800-Seelen-Dorf in Schleswig-Holstein, hoch oben im Norden Deutschlands, dort, wo das Land flach und der Himmel weit ist, wo das Gras saftig grün hervorspriesst, die Häuser rot geklinkert sind und die Rinder schwarz-weisse Flecken tragen, wo der Wind stürmisch durch Wald und Wiesen fegt und durch Dorfstrassen, die auch am Tag leer und unbelebt erscheinen. Von den Bewohnerinnen und Bewohnern des kleinen Örtchens Wacken handelt dieser Film.

Full Metal Village ist also kein Musikfilm, keine Heavy Metal-Dokumentation und auch keine Making-Off-Produktion des Wacken-Festivals, sondern ein «Heimatfilm» – so jedenfalls der mit einem kleinen Augenzwickern versehene Untertitel, der dennoch durchaus programmatischen Charakter hat. Mit instinktiv-sicherem Blick für interessante Charaktere und Geschichten gewährt Regisseurin Cho Sung-Hyung einen intimen Einblick in die bäuerliche Kultur Norddeutschlands nach der Jahrtausendwende und damit in eine Welt, die weiten Bevölkerungsschichten in Deutschland inzwischen kaum weniger fremd erscheinen dürfte als so manche juvenile Subkultur.

Während das Festival lediglich den Anlass für das Dorfporträt darstellt, gilt Sung-Hyungs eigentliches Interesse den Einwohnern von Wacken – eine kluge Entscheidung, würde sich doch das Wacken Open Air als eine inzwischen hochgradig kommerzialisierte Veranstaltung für eine authentische filmische Studie über die Heavy Metal Szene ohnehin nicht eignen. Zu gross sind inzwischen die Anteile an sogenannten «Wochenend-Metallern», die weniger der Musik wegen zum Wacken fahren als deshalb, um sich dort einmal so richtig gehen lassen zu können. Mittlerweile als «Ballermann des Nordens» (SpiegelOnline) verschrien, haben sich weite Teile der Heavy Metal Szene längst von diesem Festival abgewandt.

Was sind das nun für Menschen, die in Wacken leben? Wie sieht ihr Alltag aus? Und wie gehen sie mit der alljährlichen «Invasion» ihres Zuhauses durch Tausende von Festivalbesucher um?

Da ist zum Beispiel der geschäftstüchtige Bauer Trede, der den Veranstaltern des Open Airs seine Wiesen verpachtet: Schon morgens checkt er den aktuellen Stand der Aktien und rät Männern ab 65 zu mindestens einer Freundin neben der Ehepartnerin, um letztere zu «entlasten». Die 16-jährige Kathrin träumt von einer Model-Karriere in der Stadt und freut sich über das Festival in unmittelbarer Nachbarschaft, bedeutet es für junge Menschen wie sie doch eine echte Abwechslung vom ansonsten eher ereignisarmen Alltag. Bauer Plähn, den das Event eher weniger zu interessieren scheint, erklärt auf rührend geduldige Art die Unterschiede zwischen Kühen, Kälbern, Bullen und Ochsen. Und Oma Irmchen, die nach wie vor nicht recht weiss, was von den jährlich in Wacken einfallenden schwarzen Horden zu halten ist und deshalb vorsorglich in dieser Zeit verreist, präsentiert ebenso stolz wie ehrfürchtig ihre selbstgezogenen Kartoffeln.

Dem «entschleunigten» Leben in Wacken und der norddeutschen Mentalität entsprechend verzichtet Sung-Hyung in ihrem Film auf schnelle Schnitte und lässt die häufig von einer unfreiwilligen Situationskomik geprägten Sequenzen in voller Länge auf den Zuschauer wirken. Genau beobachtend, neugierig fragend, aber nie wertend gelingt es der Filmemacherin, das Vertrauen der interviewten Menschen zu gewinnen, die sich in diesem Film so frei und natürlich äussern, als würde keine Kamera zwischen ihnen und Sung-Hyung stehen. Ein tiefsinniger, liebenswerter Film, und auch wenn der «Clash der Kulturen», den die Regisseurin nach eigener Aussage eigentlich ursprünglich hatte zeigen wollen, ausbleibt: eine hochinteressante Studie über kulturell geprägte Mentalitäten und Identitäten im heutigen Deutschland – wirklich sehenswert!

«Full Metal Village»

Biography

Sarah Chaker, Musikwissenschaftlerin mit einem Faible u.a. für harte Rockmusik, arbeitet derzeit als Universitätsassistentin am Institut für Musiksoziologie der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.

Published on January 15, 2011

Last updated on June 27, 2022

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