Book Cover Italian Edition «Retromania» (photo: Oliver Munday, Guidemoizzi 2011)

Der Anklang als Ausklang

Review
by Ueli Bernays

Retromania ist Simon Reynolds' Buch über die Erinnerungs- und Zitatenkultur im Pop der Gegenwart. Er kommt zum nicht ganz überraschenden Schluss: In der Pop-Kultur gibt es ein Übermass an Geschichte.

Früher begeisterte sich der Mensch für Utopien, Ingenieure entwickelten zukunftsträchtige Techniken, Kosmonauten flogen durch den Weltraum, Astronauten hinauf zum Mond. Von diesem futuristischen Eifer ist wenig geblieben. Im Science-Fiction-Kino sind Helden-Epen bezeichnenderweise von apokalyptischen Plots verdrängt worden – von «Armageddon» bis «The Day After Tomorrow». Die Zukunft sei nicht mehr, was sie war, findet Simon Reynolds deshalb wohl zu Recht. Seine wehmütige Klage setzt der 48-jährige britische Pop-Publizist wirkungsvoll ans Ende seines neuen Buches Retromania. Pop Culture's Addiction to Its Own Past.

Der britische Autor Simon Reynolds.

Das Neue, das Normale

In seinem Buch schreibt der erklärte Future-Nostalgiker allerdings über ein reziprokes Thema – über das Übermass an Geschichte in der Pop-Kultur (siehe auch Interview in der taz). Lange Zeit war im Pop das Neue das Normale. Jede Dekade schien pünktlich ein oder gleich mehrere Genres hervorzubringen – in den neunziger Jahren war es Techno; den Achtzigern verdanken wir Hip Hop und New Wave; Disco geht auf die Siebziger zurück, Soul und Rock auf die Sechziger, Rock'n'Roll auf die Fünfziger. Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtausends aber ging der Pop-Musik plötzlich der Schnauf aus. Statt sich in einem neuen Stil zu manifestieren, machte es sich der Pop-Geist jetzt überall im Retro-Kult gemütlich.

Der Begriff «Retro» dominierte die Pop-Theorie der letzten Jahre. Reynolds betritt thematisch also kein Neuland, was er in der Einleitung auch gleich offenlegt. Einzigartig ist hingegen, wie er in «Retromania» als unermüdlicher Forscher, ausgerüstet mit Kennerblick und Witz, alle möglichen Retro-Symptome erfasst und sehr lebendig beschreibt. Erst bei der Einordnung der Phänomene geraten ihm die Dinge etwas durcheinander. Die Lektüre seines essayistisch angelegten Textes bietet jedenfalls viel Information und durchaus Vergnügen. Und gerade weil er das Phänomen Retro ziemlich erschöpfend darstellt, aber nur beiläufig interpretiert, regt er einen zum Weiterdenken an, provoziert er einen zum Widerspruch.

Reynolds führt einen einerseits durch die Geschichte der Pop-Musik – zu früheren Retro-Bewegungen wie dem Northern Soul oder dem Dixie-Revival; aber auch zu Punk: ein Stil, der musikalisch zunächst wenig Neues bot, vielmehr die Rückkehr zu Simplem und Bewährtem propagierte, dabei aber eine popkulturelle Bewegung lostrat. Dem Autor liegt andrerseits viel an der empathischen Beschreibung von Fan-, Nerd- und Sammler-Szenen: Den Vergangenheitskult, der hier vorherrscht, sieht er in einem analogen Verhältnis zu jener Pop-Musik, die sich aus Bruchstücken der Pop-Geschichte zusammensetzt – von Hip-Hop bis zu Dubstep.

Unbehagen gegenüber der Retro-Kultur

Reynolds macht auf seinen gedanklichen Streifzügen nun nie ein Hehl aus seinem Unbehagen an der Retro-Kultur. Er fühlt sich unwohl angesichts von Pop-Museen, Pop-Archiven oder jenen grossen anthologischen CD-Boxen, die ihn an Särge erinnern.

Wenig ist ärgerlicher als das tranige Urteil jener Subjekte, für die früher immer alles besser war. Zu diesen gehört Reynolds nicht – obwohl ihm nun mitunter der Vorwurf gemacht wird, er habe kein Gehör für die Innovationen im heutigen Pop. Die Kritik ist insoweit gerechtfertigt, als Reynolds Bands wie die White Stripes, Stilen wie Neo-Folk oder dem zeitgenössischen Urban Pop mit oberflächlicher Geringschätzung begegnet.

Im Unterschied zu seinen Kritikern weiss Reynolds aber zwischen Pop-Musik und Pop-Kultur zu unterscheiden. So bestreitet er nicht, dass da und dort immer wieder neue Klänge zu hören sind – er nennt etwa Grime und Dubstep. Entscheidend ist für ihn aber, dass diese Sounds im Hallraum der Gesellschaft keine grossen Bewegungen mehr auslösen (wie einst Techno, Hip-Hop, Punk).

«Retromania»

Die Retro-Kultur hat offenbar auch viel zu tun mit der Schwerfälligkeit des Publikums. Weil es im Banne des Alten steht – so sieht das Reynolds –, fehlt ihm die Lust für Neues. Das spiegelt sich auf der Angebotsseite dann wiederum darin, dass die Musiker zumeist den Publikumsgeschmack bedienen und «Originalität» allenfalls aus der Verknüpfung bewährter Sounds gewinnen. Trotz seinem weiten Horizont, seinem Wissen und seiner offenbaren Schlauheit erschöpft sich Reynolds' Analyse ziemlich bald. Letztlich läuft alles auf eine Gleichung hinaus: Im Pop der Gegenwart wird die Zukunft durch die Geschichte verdrängt.

Stimmt die These überhaupt?

Viel Klarheit ist damit nicht gewonnen. Und stimmt das überhaupt? Führt historisches Interesse unbedingt zu Zukunftsmüdigkeit? Wer steckte den Kopf tiefer in die Geschichtsbücher als jene Avantgardisten, die die Geschichte nicht wiederholen und die Kunst weiterführen wollten? Ohne das Alte fehlt dem Neuen aber geradezu der Kontrast. Reynolds – so könnte man zu seiner Verteidigung sagen – will die Pop-Geschichte ja auch nicht verbieten. Er plädiert lediglich für mehr Vergessen. Just der Übereifer des Erinnerns führe zum Retro-Fieber.

Tatsächlich aber festigen sich Kulturen, während überall Vergessen droht, immer im Identität stiftenden Erinnern. Das gilt für Pop erst recht. Wer ein Konzert eines Altstars besucht – zum Beispiel von Roger Waters oder Prince –, trifft kaum auf junge Hörer und Hörerinnen. Die späteren Generationen wissen oft nur noch wenig von den Idolen ihrer Eltern. Die Retro-Kultur wäre so gesehen ein verzweifeltes Bestreben, Gedächtnis-Inseln zu bilden in den nebligen Weiten der Amnesie – mittels Praktiken, die von der sogenannten Hochkultur abgeleitet sind wie Archivieren, Kuratieren, Kanonisieren.

Prince – einst Vorreiter, heute Teil einer Retrobewegung?

Zentral für das Verständnis der gegenwärtigen Pop-Kultur sind auch für Reynolds die digitalen Technologien – mithin Internet, vorab Sites wie YouTube und (vorderhand noch) Geräte wie der iPod: In der klaffenden Unendlichkeit der neuen Speichermedien scheinen das Werk und das Profil einzelner Künstler immer mehr im Meer anonymer Sounds zu zergehen. Und die Chronologie von Vergangenheit und Zukunft breitet sich in unüberschaubarer Synchronität aus.

In diesen offenen, virtuellen Zeiträumen, so scheint es fast, gibt es tatsächlich eine Art Ende der Geschichte. Der Science-Fiction-Autor William Gibson wird von Reynolds in diesem Kontext passend zitiert (obwohl er ihn nicht verstehen will): Die Jugend bewohne heute ein unendliches digitales Jetzt; sie befinde sich dabei im Zustand einer Zeitlosigkeit, die durch immer effizientere Erinnerungs-Prothesen ermöglicht werde.

Retro ist für Reynolds eine Krankheit

Ist Retro vielleicht eine kompensatorische Bewegung? Zelebrieren und feiern Retro-Institutionen und -Rituale wie Sammlungen, Museen, Bio-Pics, Band-Jubiläen nicht einfach nochmals das Individuelle – einzelne Stile, Stimmen, Stars? Es irritiert jedenfalls, dass Reynolds – obwohl er sich ab und zu auch als Geniesser nostalgischer Klänge «outet» – Retro prinzipiell kaum etwas Positives abgewinnen kann. Die Retro-Kultur ist für ihn schlicht pathologisch – ein Krebs, dessen Metastasen sich in wuchernden Zitaten, Referenzen und Anklängen bilden. Diese Geschwüre, so glaubt er allen Ernstes, könnten ein Zeichen sein für den Ausklang des Abendlandes.

Hoffentlich nicht!


Simon Reynolds: Retromania. Pop Culture's Addiction to Its Own Past. Faber and Faber, London 2011. 458 S., Fr. 37.50.

Biography

Ueli Bernays (*1964) studierte Geschichte, Russisch und Philosophie in Zürich, Paris und Moskau. Er betätigte sich jahrelang als Jazzmusiker und arbeitet heute als Musikredaktor für Pop, Jazz und Weltmusik bei der Neuen Zürcher Zeitung. Sein erster Roman «August» ist beim «Kein&Aber» Verlag erschienen. Follow him on LinkedIn and X.

Published on September 21, 2011

Last updated on May 01, 2024

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