Die auf Tubas und Pauken gespielte Banda-Musik stammt ursprünglich aus dem Nordwesten Mexikos. In der modernen Variante des Techno-Banda ist diese Musik in Los Angeles ab den 90er Jahren sehr populär geworden. Für die einen gilt sie als Mafia-, Banditen- und Drogenmusik, für die anderen als Ausdruck der gesellschaftspolitischen Realitäten vieler Mexikaner in den USA.
Die Massenmigration von Billiglohn-Arbeitern aus Mexiko und Zentralamerika nach Südkalifornien führte in den 1990er Jahren zu einer signifikanten kulturellen Veränderung des Gastlandes. Diese demografische Transformation machte sich insbesondere im musikalischen Leben der Latino-Viertel in den kalifornischen Grossstädten und deren Agglomerationen bemerkbar. Eine neue Generation junger Amerika-Mexikaner in Kalifornien liess sich von der «Banda-Bewegung» der frühen 1990er Jahre anstecken und begann, die Musik der mexikanischen Arbeiterklasse nicht nur zu hören und zu spielen, sondern sie als Symbol einer eigenen kulturellen Identität neu zu definieren. Speziell beliebt unter den diversen Stylen der so genannten música ranchera (ländliche Musik) ist der corrido, eine Balladenform, die heutzutage mit banda (Blasmusik von Mexikos Nordwest-Küste) oder norteño (Akkordeon-Musik von Nord-Mexiko) begleitet wird. Beide Ensembles geniessen in den Sierrastaaten Sinaloa, Durango und Chihuahua seit langer Zeit grosse Popularität — einer Gegend also, die auch für den Drogenanbau bekannt ist. Seit den 1970er Jahren haben die ökonomische sowie die politische Macht und Waffengewalt der Drogenhändler stark zugenommen — und damit auch ihre Sichtbarkeit und ihr kultureller Einfluss.
Im Zentrum dieses Essays steht das neue Repertoire der lokalen und transnationalen mexikanischen Bands, die so genannte narco-música (Musik, die von Drogenhandel und Drogenhändlern berichtet). Diese Drogenmusik ist sowohl unter der ländlichen Bevölkerung im Norden Mexikos als auch in den spanischsprachigen Immigrantengemeinden in den USA äusserst populär.
So gehören beispielsweise die norteño-Gruppen Los Tigres del Norte und Los Tucanes de Tijuana zur Zeit zu den «Top 10 Latin Artists» von Billboard, dem einflussreichen Magazin der US-Populärmusik: das Doppel-CD Album Jefe de jefes (Der Boss der Bosse) der Tigres wurde 1998 sogar für den Grammy Award nominiert. Die Tucanes sind die einzigen Artisten neben Selena, der 1995 ermordeten Tex-Mex Königin, die sechs Alben gleichzeitig auf der Billboard Liste platzieren konnten. Die Beliebt- und Bekanntheit der narco-corridos, dem Hauptgenre der Narco-Musik, hat inzwischen leidenschaftliche Diskussionen provoziert — ähnlich der «Gangsta Rap»-Debatte in den USA. Die Gegner der Narco-Musik kritisieren den negativen Einfluss, den eine Musik auf die Jugend ausübe, die den Drogenhandel und Gewalt entschuldigt oder gar verherrlicht und wollen die Narco-Musik deshalb verbieten. Die Befürworter hingegen interpretieren Narco-Musik als Spiegel des Dramas, das sich zur Zeit in der mexikanischen Politik abspielt, das heisst, als ein sensitiver, realitätswiderspiegelnder, artistischer Ausdruck. Um im internationalen Musikmarkt wettbewerbsfähig zu sein (und zu bleiben), haben auch bekannte Bandas angefangen, mehr narco-corridos in ihr Repertoire aufzunehmen — womit auch sie sich der öffentlichen Kritik aussetzten.
In der Populärmusik im Nordwesten Mexikos, insbesondere in Sinaloa, ist der Einfluss der Narco-Subkultur seit über dreissig Jahren spürbar. Mexikos Wirtschaftskrise von 1982, das Erdbeben von 1986 und die Senkung der Ölpreise stärkte den Einfluss der Drogenhändler — heute sind sie ein wichtiger Bestandteil der nationalen Wirtschaft: als Arbeitsgeber, als Investoren, als Devisenträger, als Sponsoren und als Wohltäter. Reiche Narcos organisieren Freizeitaktivitäten und Unterhaltung im Dorf und spielen deshalb eine wichtige Rolle in der lokalen Kultur. Wegen ihrer Freigebigkeit geniessen manche Narcos ein hohes soziales Ansehen sowie einen guten Ruf und sind respektierte Persönlichkeiten in ihrem Heimatsort. In den Augen mancher Armen sind Narcos sogar Robin-Hood-ähnliche Banditen — oder anders gesagt, Volkshelden. Sinaloas Geschichte ist von etlichen Männern gezeichnet, die zur Schaffung eines moralischen Bewusstseins beigetragen haben, in dem Banditenverehrung Teil der kollektiven Vorstellungskraft der Bevölkerung ist.
Der Bandit als Volksheld und als Vorbild der Narcos
Dass die massgeblich von Drogenhändlern beeinflusste Subkultur ihren gegenwärtigen Status in Sinaloas Gesellschaft erlangen konnte, verdankt sie diversen Faktoren: Die mexikanische Revolution von 1910 brachte nicht nur bedeutsame Erneuerungen in nationalen, politischen und ökonomischen Bereichen, sie verschmelzte auch verschiedene Gruppen von Leuten in eine Nation und half, eine einzigartige Identität zu kreieren. Das authentische Mexiko sah man in den Helden der Revolution verkörpert, deren Kampf für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit zum Fundament des modernen Mexiko wurde. Inspiriert von den Revolutionären und ihren heroischen Taten entstand in den Jahren während und unmittelbar nach der Revolution eine grosse Menge an Folklore, die ihrerseits später der populären Kultur, dem Film und der Musik als Grundlage diente. Trotz der persönlichen Spannungen und unerbitterlichen Kämpfe zwischen den Revolutionärsanführern bettete die post-revolutionäre Regierung alle Kämpfer vereint im Pantheon der nationalen Helden zur Ruhe. Mystifiziert und kultiviert von der neuen Regierung wurden die campesino-(Bauern)Führer in beispielshafte, gerechte und aufrechte Mexikaner transformiert. Zweifellos, die Revolution prägte die Idee des «aufrechten Mannes» — el valiente. Doch Heldenballaden und -geschichten gab es schon lange vor der Corrido-Massenproduktion in den 1910er und 20er Jahren. Viele dieser heroischen Männer kämpften für die Ideale sozialer Gerechtigkeit, widersetzten sich der herrschenden Klasse und setzten sich für das ausgebeutete und unterdrückte Volk ein. Hätte Heraclio Bernal, zum Beispiel, dreissig Jahre später gelebt, wäre er ein Revolutionär gewesen. Doch vor der Massenrebellion gegen das Regime des diktatorischen Präsidenten Porfirio Díaz (1876-1911) waren Aufständische, die gegen Unterdrückung und Armut protestierten und das Gesetz missachteten, nichts weiter als bandidos (Banditen) und Kriminelle.
In den Augen des gemeinen Volkes war ein bandido allerdings nicht zwingendermassen eine schlechte Person. Besonders dann nicht, wenn es sich um einen «sozialen Banditen» handelte, d.h. um einen, der gesetzeswidrige Taten zum Wohle der Gemeinschaft verübte. In anderen Worten (und das gilt auch heute noch): Taten, die von der Obrigkeit als gesetzeswidrig eingestuft werden, die aber von einer Sensibilität für soziale Gerechtigkeit zeugen, können von der besitzlosen Klasse durchaus als rechtschaffen betrachtet werden. Gut und böse oder richtig und falsch müssen deshalb nicht notwendigerweise Antipoden sein. Ethische Kategorien scheinen weit weniger stabil zu sein als üblich angenommen wird. Dieselbe Ambivalenz findet man auch in der Haltung der Allgemeinheit gegenüber Drogenhändlern. Wie andere Regionen Mexikos hat auch Sinaloa eine stattliche Zahl «aufrechter Männer» hervorgebracht. Einer der prominentesten Banditen ist Jesús Juárez Maza, besser bekannt als Malverde, «El bandido generoso» (Der edelmütige Bandit) oder «El rey de los pobres» (Der König der Armen). Malverde wurde angeblich 1870 in Las Milpas, im Norden Sinaloas, geboren. Laut mündlicher Überlieferung war Malverde aber nicht ein ordinärer Bandit, sondern eine Robin Hood-ähnliche Figur: Er versteckte sich in der Sierra, von wo aus er die Reichen bestahl, um den Schatz unter den Armen zu verteilen. Es wird auch erzählt, dass er dafür gesorgt habe, dass sein Kopfgeld an die Armen verteilt wurde. Der grossherzige Räuber Malverde ist ganz und gar der Archetyp des sozialen Banditen wie ein populärer corrido bestätigt:
Él fue un bandido mas nunca un asesino
cuando robaba era por necesidad
pues lo poquito o lo mucho que robaba
lo repartía con generosidad
Er war ein Bandit, aber niemals ein Mörder,
wenn er stahl, dann aus Not
denn das wenige oder viele, das er stahl,
verteilte er mit Edelmut.
Obwohl zu Malverdes Zeiten und in seiner Umgebung Gewalttaten an der Tagesordnung waren, ist es verständlich, dass die Leute ihren Helden nicht nur als aufrichtig, anständig und geachtet betrachten wollten, sondern als uneingeschränkt bewundernswert. Dieser Wunsch manifestiert sich auch im folgenden Corrido, der die Verhaftung des bandido generoso erzählt. Der ausgearbeitete Dialog zwischen Malverde und dem Offizier mit der Exekutionsorder kann als eine Art Aussöhnung der gegnerischen Parteien (Gesetz und Gesetzeslosigkeit) gedeutet werden, vor allem aber erlaubt er, Malverdes edlen Charakter zu unterstreichen:
Fusilaron en la sierra al bandido generoso
murió amarrado de un pino con un pañuelo en los ojos
el gobierno lo mató porque era muy peligroso.
En Durango y Sinaloa donde seguido robaba
para ayudar a los pobres o al que lo necesitaba
después hacía lo que el tigre al cerro se remontaba.
Cuarentiocho soldados que andaban tras de sus pasos
todos le gritaban al tiempo, ¡Sube las manos en alto
y no trates de escaparte porque te hacemos pedazos!
Le preguntaba el teniente por que iba robando
—No robo porque me guste, tampoco me estoy rajando
me duele ver inocentes que de hambre andan llorando.
—No quisiera fusilarte por tu valor y nobleza
pero en toditos los bancos tiene precio tu cabeza.
—No se preocupe, teniente, cobre usted la recompensa.
—Vas a pagar con la vida tu buena acción con la gente.
—Eso yo ya sabía y no me asusta la muerte
en el infierno nos vemos, allá le espero, teniente.
Sie erschossen den edlen Banditen in der Sierra,
er starb an einer Pinie angekettet, seine Augen mit einem Tuch verbunden,
die Regierung hat ihn umbegracht, da er als sehr gefährlich galt.
In Durango und Sinaloa pflegte er zu rauben,
um den Armen und den Bedürftigen zu helfen,
danach zog er sich wie der Tiger in die Berge zurück.
Die 48 Soldaten, die seinen Spuren folgten,
sie alle riefen zusammen: «Nimm deine Hände hoch
und versuch nicht zu fliehen, sonst müssen wir dich erschiessen.»
Der Ober-Leutnant fragte ihn, weshalb er raube.
«Ich raube nicht, weil ich es liebe, auch nicht um zu protzen,
es schmerzt mich zu sehen wie die Unschuldigen vor lauter Hunger weinen.»
«Wegen deiner Tapferkeit und Grösse möchte ich dich nicht erschiessen,
aber alle Banken haben ein Kopfgeld versprochen.»
«Sorgen sie sich nicht, Ober-Leutnant, kassieren sie die Prämie.»
«Du wirst deine guten Taten mit deinem Leben bezahlen.»
«Mit dem habe ich schon immer gerechnet, und der Tod erschreckt mich nicht,
wir werden uns in der Hölle wieder treffen, Ober-Leutnant, dort werde ich sie erwarten.»
Malverde soll kurz vor dem Ausbruch der Revolution im Jahre 1909 auf Anordnung der Regierung in Culiacán erhängt worden sein. Siebzig Jahre später erbaute ein Mann namens Eligio González León in der Nähe des angeblichen Hinrichtungsortes eine Kapelle, wie den folgenden corridos zu entnehmen ist:
A escasos metros de la capilla estaba
aquel mezquite donde habría de terminar
aquel bandido tan bueno y generoso…
Vuela, vuela palomita, párate allá en aquella vía
cerquita de la estación, allí tiene su capilla
hecha por González León, que es un hombre de valía.
Wenige Meter von der Kapelle enfernt
befand sich jener Mezquite Baum, an dem er endete,
dieser gute und edelmütige Bandit…
Flieg, flieg, kleine Taube, halt ein dort auf dem Geleise,
nahe des Bahnhofes, dort steht seine Kapelle,
gebaut von González León, einem mutigen Mann.
In Sinaloa gehören sowohl der Bandit wie der Banditenmythos zum alltäglichen Leben. Malverdes Kapelle in Culiacán ist aber zweifelsohne das auffälligste Bekenntnis zum Banditenkult. Der «edelmütige Bandit» wird in aller Öffentlichkeit wie ein Heiliger verehrt. Tausende pilgern jährlich zu seinem – von der offiziellen katholischen Kirche nicht akzeptierten — Schrein in Sinaloas Hauptstadt Culiacán. Leute beten zu Malverde mit tiefer Hingabe und bitten ihn um alle möglichen und unmöglichen Gefälligkeiten und Wundertaten. Als Dank für die Erhörung bringen manche von ihnen Geschenke, oft in Form von Musik. Meistens lungern ein paar Musiker vor der Kapelle herum, die für wenig Geld aufspielen. Manchmal werden aber komplete bandas, norteño oder mariachi Gruppen angeheurert:
De todo lo que robaba lo repartía entre los pobres
por eso es que hoy en día se le hacen grandes honores
con música y veladoras y ramilletes de flores.
Was immer er raubte, er verteilte es an die Armen,
deshalb wird er heutzutage von ihnen verehrt,
mit Musik, Kerzen und Blumensträussen.
Malverde ist überall in Sinaloa anzutreffen. Leute stellen kleine Altare mit seiner Statue, Kerzen und Blumensträussen an Busstationen, Dorfplätzen, Strassenecken oder bei sich zu Hause auf. Betrachtet man die verschiedenen Designs auf den bunten Seidenhemden der rancheros (Rancher) auf den Viehmärkten oder der Kundschaft sinaloensischer Nachtklubs in Los Angeles und an Konzerten mit Banda- und Norteñamusik, so kann man auf einigen Malverdes Porträt erkennen. Einige dieser Männer tragen auch fingerdicke goldene Halsketten mit schweren goldenen Medaillons mit dem Abbild Malverdes, der Virgen de Guadalupe (der Jungfrau von Guadalupe, die in Mexiko mehr verehrt wird als Maria) oder dem gekreuzigten Jesus. Obwohl Malverde ursprünglich ein Held der Armen war, wird er heute auch von vielen Reichen verehrt. Von einigen Neureichen sagt man, dass sie Malverde nicht nur verehren, sondern sich mit dem edelmütigen Banditen auch identifizieren. Wie bereits erwähnt, einige Narcos unterstützen die Landbevölkerung manchmal finanziell; hauptsächlich natürlich, um sich deren Loyaltät zu erkaufen, aber manchmal auch aus einem Anflug von Grossherzigkeit und Mildtätigkeit. Obwohl der Drogenhandel mit Überfällen, Entführungen und Mord einhergeht, können vereinzelte Narcos also respektierte Zeitgenossen sein. In diesem Sinne vereint der Narco dieselben entgegengesetzten Persönlichkeiten wie der edelmütige Bandit.
Der Hahn und sein Hühnerhaus
Etwas allgemein gesagt: Lieder reflektieren die Ideologien der Gesellschaft von welcher sie produziert und konsumiert werden. So finden wir das Porträt Sinaloas und seiner Bewohner in der lokalen Folklore — einer Folklore, die, wie andernorts auch, von nationalistischen, post-revolutionären Ideologien durchtränkt ist. In der Folge eines wachsenden regionalistischen Bewusstseins haben sich in Mexiko nach der Revolution (1910-20) verschiedene Musikstile und Ensembletypen herauskristallisiert. In Sinaloa war dies die banda sinaloense oder tambora, wie die regionale Windband im Volksmund auch heisst. Das charakteristische Ensemble Sinaloas wird seither gebraucht, um diese Heimatliebe wachzurufen. Sänger lassen ihre musikalische Begleitung selten unerwähnt: «Auf diesem Land bin ich geboren, das ich mit ganzer Seele liebe … und mit banda Musik besinge.»
Die Sinaloenser sind im Allgemeinen sehr stolz auf ihre Geschichte — hat der Staat doch etliche national anerkannte Helden hervorgebracht. Männer wie Ángel Flores, Juan Carrasco und Heraclio Bernal stehen exemplarisch für Mut, Tapferkeit und moralische Integrität. Sie haben nichts gemeinsam mit den revolutionären Banditen mit den über die Schulter gehängten Patronengurten oder den bis zu den Zähnen mit Pistolen bewaffneten Strauchdieben, den Helden der Leinwand der Goldenen Ära des mexikanischen Cinemas.
In der ranchera Musik, die über Jahrzehnte nationalistischen Zwecken gedient hatte, finden wir weder soziale Kritik noch die Enttäuschung über das Scheitern der Umsetzung der revolutionären Ideale noch die sozialistische Vision der Cárdenas Ära der 1930er und 40er Jahre. Unberührt von den politischen und sozialen Bewegungen wurden in der ranchera Musik die idealisierten Bilder des ländlichen Lebens in Mexiko besungen. Und mit der Zeit begann sogar die Landbevölkerung an die von der Populärkultur aufrechterhaltenen Stereotypen zu glauben. Mit der wachsenden Popularisierung der Folklore begann auch die Volksmusik einige dieser Stereotypen zu integrieren. Neuere Kompositionen sprechen denn auch von der sprichwörtlichen sinaloensischen Starrköpfigkeit, Aufschneiderei und Prahlerei.
Starrköpfigkeit ist eine der meistbesungenen Eigenschaften des Sinaloensers. Der populäre ranchera Komponist Cuco Sánchez, zum Beispiel, hat in «No soy monedita de oro» (Ich bin kein Goldstück) festgehalten: «Ich bin Sinaloenser von Kopf bis Fuss / ich bin direkt und ehrlich … ich bin starrköpfig wie ein Esel / deine Familie mag mich nicht weil ich singe / aber so wurde ich geboren, so bin ich / und wenn sie mich nicht mögen, wen kümmerts!» In «Qué retumbe la tambora» (Auf dass die Tambora erschalle), einem Lied, das patriotische und patriarchische Gefühle kombiniert, symbolisiert tambora Musik einerseits das geliebte Sinaloa und unterstützt andererseits diese Heimatliebe: tambora Musik ist unerlässlich, um sich in die richtige Stimmung zu versetzen und um auf den Heimatstaat anzustossen. Musik, Alkohol, Pistolen, Pferde, Frauen und Freunde gehören zum Image des Sinaloensers. Begleitet von der tambora zeigt dieser Mann seine Qualitäten auf seiner Sauftour:
Soy sinaloense y me gusta la tambora
Tomo tequila, mezcal o bacanora
pues con la banda me paso noche y día
porque me encanta de plano la alegría.
Soy sinaloense de hueso colorado
y tengo fama de ser enamorado
Como jinete tener buenos caballos
y en las parrandas andar con buenos gallos.
¡Ay Sinaloa, Sinaloa, Sinaloa!
yo siento el alma que me pica y que me llora
con la pistola que relumbra en la bola
y con la banda que retumbe la tambora.
Ich bin ein Sinaloenser und mir gefällt die tambora,
ich trinke Tequila, Mezcal und Bacanora.
Mit der banda verbringe ich Tag und Nacht,
weil ich die Heiterkeit von Herzen liebe.
Ich bin ganz und gar ein Sinaloenser,
denn man kennt mich als Galan.
Ich bin ein Reiter mit ausgezeichneten Pferden
und auf den Sauftouren bin ich umgeben von tüchtigen Hähnen.
Ach Sinaloa, Sinaloa, Sinaloa!
Mein Herz wird schwer,
wenn die Pistole in der Menge aufglänzt
und wenn die banda ihre tambora erdrönnen lässt.
Rancheras, bestärkt durch das popularisierte Image des singenden charro (Cowboy) in den mexikanischen Filmen der 1930er und 40er Jahre, glorifizieren die Männlichkeit und fördern gleichzeitig männliches Selbstwertgefühl und soziale Vorrechte.
Unter dem kommerziellen Druck hat sich die Idee — oder das Ideal — des aufrechten Mannes langsam, aber drastisch verändert. Die Populärkultur transformierte den hombre valiente, den aufrechten Mann der Revolution in einen simplen pistolero (Schützenhelden) und macho (wörtlich: Rüden). Der bekannte texanische Folklorist Américo Paredes bemerkte hierzu: Die Pistole ist vielleicht ein phallisches Symbol, in einem direkteren Sinn aber ist sie das Symbol von Macht — und von Machtmissbrauch. Sie ist ein Symbol der Männlichkeit des Angebers, dem Macho der Filme, der seinen Rivalen in der Mitte der Stasse niederschiesst, das Mädchen auf den Sattel hievt und auf seinem treuen Pferd in den Sonnenuntergang hineinreitet. Der «aufrechte Mann» der Revolution degeneriert zum Macho, dessen Mut sich vor allem in seinen Hoden konzentriert, und zum Prahlhans, der ungestraft Verbrechen begeht, weil er Macht, Geld und politischen Einfluss hat.
Analysieren wir ranchera-Texte aus Sinaloa, so fällt auf, dass oft Anthropomorphismen gebraucht werden. Das am weitaus häufigsten erwähnte Tier ist der Hahn — eine Metapher für den Kämpfer, der sich angesichts von Gefahr mutig und aggressiv verhält. Der Hahn, el gallo, ist nicht nur unerschrocken, sondern strotzt auch von sexueller Potenz. Seine Qualitäten mögen weiter charakterisiert sein als: valiente, bravo, fino, reconocido, afamado, jugado oder, alle diese Eigenschaften einschliessend, als un gallo muy sinaloense (ein äusserst sinaloensischer Hahn). Sein Territorium ist natürlich das Hühnerhaus. Als mutiger Kämpfer und gallanter Frauenheld weiss er auch, wie man das Leben zu geniessen hat:
La vida que vivo yo, yo la quiero disfrutar
y digan lo que digan, a mi no me va a importar
porque el día que se me acaba ya no volverá jamás.
La vida que vivo yo, nomás la traigo prestada
el día en que me la quiten, no voy a llevarme nada
nomás un montón de tierra con una cruz bien clavada.
De que sirve ser un santo si a toditos por igual
se nos acaba el camino y se nos llega el final
solo una vida tenemos y hay que saberla gozar.
Mein Leben will ich geniessen,
was auch immer andere sagen ist mir egal,
denn wenn ich sterbe, ist alles vorbei.
Mein Leben wurde mir nur geliehen,
wenn es mir genommen wird, trage ich nichts mit mir
ausser einem Berg Erde und ein genageltes Kreuz
Weshalb soll man ein Heiliger sein, wenn unsere Wege
doch für alle gleich enden.
Wir haben nur ein Leben und das sollten wir besser geniessen.
Drogenhandel und sozialer Aufstieg
Geografisch und klimatisch erweist sich die unwegsame und zerklüftete Sierra Madre der Nordwest-Staaten Sinaloa, Durango und Chihuahua als ideales Gelände um Marihuana und Opium anzubauen. Die Gegend hat demzufolge eine lange Geschichte von Drogenkultivierung und -handel. Kurz zusammengefasst: In den 1920er Jahren, und unter Druck der USA, verbot die Mexikanische Regierung Narkotika erstmals und erliess mehrere Gesetze um Produktion und Handel zu regulieren. Während dem zweiten Weltkrieg aber stieg der Konsum von Morphium, das als Schmerzmittel eingesetzt wurde, so drastisch, dass die USA sich an Mexiko wandte, um die Produktion in der Sierra Madre anzukurbeln. Schon Ende der 1940er Jahre hatte sich die illegale Drogenindustrie in Mexiko bestens etabliert. Wegen der hohen Gewinne verschärfte sich allerdings die Gewalt rund um das Geschäft mit Drogen. In den 1960er Jahren stieg der US Marihuanakonsum erneut an. Händler begannen, campesinos (Bauern) in den armen Gegenden mit Samen, Dünger, Geld und Waffen auszustatten. Viele Kleinbauern restrukturierten ihren Betrieb und stiegen in das lukrative Geschäft ein. Ein Jahrzehnt später hatten sich die Narcos bereits bestens in die Gesellschaft integriert.
Dieser soziale Wandel hatte auch Auswirkungen auf die lokale Musik — ganz speziell auf die Corrido-Produktion. Auch wenn das Bild des hombre valiente noch für die Protagonisten der kontemporären Corridos gilt, so hat sich doch die Bedeutung des Begriffes geändert. Während die Helden der Volksballaden ihre Waffen für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit erhoben, so benützen die valientes der Narco-Corridos ihr Waffenarsenal zur persönlichen Bereicherung und für ihre Machtansprüche.
Die Risiken sind für alle, die im Drogenhandel involviert sind, hoch; doch der Gewinn scheint die Gefahr wert zu sein. Arme Leute haben nichts zu verlieren, ausser ihrem Leben — ein Leben allerdings voller Härte, Mühsal und Qual. In den Corridos wird dieser Ausblick oft als Grund angegeben, weshalb jemand ins Drogengeschäft einsteigt: «Von klein auf habe ich gelernt wie hart das Leben ist / deshalb verspiele ich es in der Lotterie.» Kleine Dealer und Unterhändler, die täglich die Landesgrenze mit geringen Mengen überschreiten, träumen von einem besseren Leben: «Ich streite nicht ab, dass ich arm war, noch dass ich ein burrero (Kleinhändler; wörtlich, Packeseltreiber) war / heute aber bin ich ein einflussreicher Herr.» Während die Protagonisten einiger Corridos damit prahlen, aus Selbstinteresse zu dealen: «Ich bin gesetzeslos, ich widme mich dem Drogenhandel / ich bin nicht dafür geboren um arm zu sein», so bekunden andere mitmenschliche Gründe:
Cuando niño sufrió mucho, a su mamá le decía:
—No más que crezca poquito, te van a tener envidio.
Al parecer lo cumplió, porque le cambió la vida.
Als Kind habe ich viel gelitten, meiner Mama sagte ich:
«Wart nur bis ich etwas gösser bin, dann werden dich alle beneiden.»
Anscheinend hatte er recht, denn er änderte ihr Leben.
Oder:
De plebe sufrió pobreza, pero logró progresar
hoy es hombre de negocios y le gusta trabajar
pa’ que a sus padres queridos nada les vaya a faltar.
Als Kind litt er grosse Armut, aber er schaffte es voran.
Heute ist er ein Geschäftsmann, der gerne arbeitet,
damit es seinen geliebten Eltern an nichts fehle.
Corrido Texte implizieren, dass der Entscheid mit Drogen zu handeln, abhängig ist von der Erfahrung des Individuums mit der Armut; ein kausaler Zusammenhang, der auch von soziologischen Studien bestätigt wird. Die so genannte «Strain Theorie», zum Beispiel, argumentiert, dass Personen, denen es verwehrt ist, auf legitime Art erfolgreich zu werden, das Verbrechen als reelle Alternative erscheint. Speziell junge Männer aus ländlichen Gegenden oder aus zerfallenen Stadtteilen fühlen die Spannung zwischen den gesellschaftlichen und kulturellen Anforderungen und ihrer eigenen Unfähigkeit, diese Ziele auf legitime Art zu erreichen. In einer Gesellschaft, in welcher ökonomischer Fortschritt in direktem Zusammenhang mit sozialem Fortschritt steht und in welcher man sich so leicht bereichern kann, da entscheiden sich manche, den schnellen, aber kriminellen, Weg zu gehen:
Las dos hectáreas de tierra que me heredó mi padre
las sembraba con cariño para salir adelante
más la realidad es otra, me estaba muriendo de hambre.
Un amigo de mi infancia una tarde me propuso:
—¡Vamos saliendo de pobres, vámosle dando otro uso!
Les juro que en poco tiempo mi situación se compuso. /N Con aquellas dos hectáreas sembradas de hierba mala /N inicié una nueva vida, pues con dólares pagaban
después ya fueron doscientas las hectáreas que sembraba.
El que se mete al negocio de traficar con la hierba
vive rodeado de lujo y la gente lo respeta
bandas y grupos norteños tocan en todas las fiestas.
Die zwei Hektaren Land, die mir mein Vater vererbt hat,
die hab ich mit Liebe bebaut, um voran zu kommen,
doch in Wirklichkeit bin ich vor Hunger fast gestorben.
Eines Tages hat mir ein Kindheitsfreund vorgeschlagen:
«Lass uns der Armut entrinnen, lass uns die Erde anders benützen!»
Ich schwöre euch, innerhalb kurzer Zeit hat sich meine Situation verbessert.
Mit jenen zwei Hektaren, bepflanzt mit dem Unkraut,
begann ich ein neues Leben, denn sie bezahlten mit Dollars,
danach waren es zweihundert Hektaren, die ich bebaute.
Wer sich ins Geschäft des Grashandel einlässt,
lebt umgeben von Luxus und wird von den Leuten respektiert,
bandas und norteño Gruppen spielen an all seinen Festen.
Corridos, in denen Drogenhandel und Gewalt entschuldigt oder gar verherrlicht werden, sind ein relativ neues Phänomen. Die neuen Liedtexte beinhalten aber auch unterschwellige Botschaften, die maskuline Ideale von Männlichkeit und einen aggressiven Willen auf Macht zelebrieren. Diese Botschaften sind oft verschlüsselt. Texte mit versteckten und ambivalenten Bedeutungen sind in der Lage, Tabus zu umgehen und den offiziellen Sprachgebrauch zu untergraben.
Realität, Fantasie und Mythos
Die Popularität von kommerziellen Gruppen wie Los Tucanes de Tijuana hängt zu einem grossen Teil von «grass-root» Traditionen ab. Diese «grass-root» Musik, von Musikethnologen auch «Mikromusik» genannt, ist ihrerseits wieder von der kommerziellen Musik beeinflusst. Bilder, die von der Populärmusik-Industrie produziert werden, sickern in die Welt der Mikromusik, wo sie sich wiederum mit Realität und Fantasie vermischen. Die Fantasie von Individuen und Gruppen ist verknüpft mit den Bildern, Ideen und den Möglichkeiten, die durch die Massenmedien verbreitet werden. Die heutige Populärkultur ist im besonderen von männlichen Gewaltfantasien dominiert. Diese Fantasien werden auch von jungen Latinos absorbiert. Zwischen zwei Welten pendelnd — einer wirklichen und einer imaginären; die eine basiert auf niedrigem oder gar keinem Einkommen, die andere auf von Hollywood produzierten Gangster- und Actionfilmen — kreieren diese Jungen ihre eigene imaginäre Welt. Eine Welt, die sie wiederum in den Narco-Corridos bestätigt finden. Ein Tucanes Hit zum Beispiel erzählt die Geschichte eines kleinen Drogenhändlers, der ein gran señor geworden ist, den jedermann respektiert. In einem anderen Hit-Corrido bekennt der Protagonist: «Ich war für lange Zeit arm, von vielen Leuten gedemütigt / Als ich Geld zu verdienen begann, veränderte sich alles / Nun nennen sie mich Chef und ich habe eine Geheimnummer.»
Bevor das Genre des Narco-Corridos erfunden wurde, war die Welt der Drogenhändler nur einem kleinen Kreis von Insidern zugänglich. Auf Grund der wachsenden Zahl der im Drogengeschäft tätigen Leute und dem daraus resultierenden Überfluss an Geld ist die Narco-Subkultur während der letzten Jahrzehnte zunehmend sichtbarer geworden: Narcos führen einen extravaganten Lebensstil, bauen sich Villen, fahren in Luxusautos, tragen auffällige Kleider, teuren Schmuck und potente Waffen. Die Narcos haben als gesellschaftliche Gruppe aber nicht nur an Sichtbarkeit gewonnen, sie werden als solche auch zunehmend von der mexikanischen Gesellschaft toleriert. Die Geschichten, welche die Narcos umranken, ernähren sich aber immer noch vom Mythos des sich in der Sierra versteckenden Geächteten. In einer Tradition, in der Banditen zu Volkshelden gemacht wurden, hat sich auch der Narco — neu definiert durch die Populärkultur und verbreitet durch die Massenmedien — eine mythische Stellung ergattert.
Corridos auf Bestellung
Der Narco-Corrido scheint unter der ländlichen Bevölkerung in Nordmexiko sehr beliebt zu sein, doch das Zentrum seiner Produktion ist Los Angeles, Kalifornien. Hier werden nicht nur kommerzielle, sondern auch private Aufnahmen produziert. Jedermann, der fünf- bis siebenhundert Dollars übrig hat, kann einen Narco-Corrido komponieren und aufnehmen lassen. Dafür braucht man kein Narco zu sein. Alles, was der corridista braucht, sind einige wenige persönliche Angaben, die der Kunde selber bestimmt. Diese Daten mixt der corridista dann mit der fiktiven Welt schon vorhandener Corridos und den Grundelementen traditioneller Volksballaden. Dazu komponiert er eine Melodie, die auf einer einfachen Tonika-Dominante-Begleitung basiert. Hat man noch ein paar Hunderter übrig, kann man sich seinen Corrido in einem der einschlägigen Nachtklubs live anhören und dazu seine Freunde einladen.
Es ist offensichtlich, dass solche in Auftrag gegebene Corridos dem Kunden erlauben, der zu sein, den er sich wünscht oder sich einbildet zu sein. Im Endresultat, dem Corrido, sind Fakten und Fiktion so ineinander verwoben, dass es unmöglich ist, zwischen «authentischen» und Möchtegern-Narcos zu unterscheiden. Anders gesagt, jeder kann sich seine eigene Narco-Identität fabrizieren. Durch die Wiederverwertung von Elementen der jahrhundertalten Tradition der Volksballade profitiert der zeitgenössische Protagonist zudem vom mythischen Heldenimage, das nur ganz besonderen Persönlichkeiten zustand: dem edelmütigen Banditen und dem Helden der Revolution. Heutzutage kann jedermann, der etwas Geld besitzt, vorgeben, beides zu sein.
Chalino Sánchez und die neue corridista Generation in Los Angeles, Kalifornien
Der corridista Chalino Sánchez verkörpert wie kein zweiter die Narco-Subkultur, die Mexiko und die USA verbindet. 1978 floh der damals 18-jährige Chalino aus seinem Heimatort Sanalona, einem kleinenen Dorf dreissig Kilometer südlich von Culiacán, nachdem er angeblich seine von einem valiente («aufrechten Mann») entehrte Schwester gerächt hatte. In Kalifornien nahm Chalino verschiedene Arbeiten an, die ihn in engen Kontakt mit der Narco-Welt brachten. Seinen ersten Corrido schrieb Chalino für seinen Bruder, der in Tijuana im Gefängnis sass und später ermordet wurde. Bald begann er, Corrdios auf Bestellung hin zu komponieren. Er gründete sein eigenes Label, Rosalino Records, und verkaufte seine selbst produzierten Kassetten an Tauschmärkten, Tankstellen und Autowaschanlagen. 1989 begann er seine von Kunden bestellten Corridos mit banda und norteño Gruppen aufzunehmen. Als die Nachfrage für seine Kompositionen stieg, verkaufte er einige seiner Rechte an Cintas Aquario, ein einschlägiges Label und Studio in Long Beach, das der Unternehmer und Corrido-Sänger Pedro Rivera in 1987 gegründet hatte. Chalinos Ruhm in der Narco-Unterwelt stieg, als er 1992 während eines Auftritts in Kalifornien in einen Schusswechsel verwickelt wurde. Kaum hatte er sich von seinen Schusswunden erholt, reiste er für eine Konzerttour in seinen Heimatstaat Sinaloa. Chalino wurde am Morgen nach seinem ersten Auftritt in einem Nachtclub Culiacáns tot aufgefunden. Die Polizeiuntersuchung blieb erfolglos. Chalinos Akten wurden geschlossen, aber bis heute wird über seinen Tod spekuliert.
Chalino war ein kontroverser Sänger, einer, der auch seine Zuhörer polarisierte. Viele waren in der Tat irritiert über die enorme Akzeptanz und Popularität dieses Sängers, der zugegebenermassen gar nicht singen konnte. Chalinos dünne, nasale, gepresste und eher hohe Stimme ist auch nach mexikanischen Standarts keine «gute Singstimme»; es ist die Stimme des Ranchers, des gewöhnlichen Mannes. Chalino sprach ein Spanisch, das durchtränkt war von lokalem Slang. Oft waren die Reime seiner Corridos nicht konsonant und die Sprachakzente passten nicht auf die schweren Taktschläge. Ausserdem sang er meistens unrein. Der Schlüssel zu Chalinos Erfolg mag deshalb gerade diese Gewöhnlichkeit, diese Mittelmässigkeit gewesen sein. Oder aber, dass er auch wirklich lebte, was er sang. Chalino, so wurde vermutet, war nicht nur als Corridokomponist und -sänger in der Narco-Subkultur aktiv. So legte ein zu Chalinos Ehren geschriebener Corrido nahe: «Er lebte den Corrido singend / der Corrido war sein Tod». Chalino selber bezog nie Stellung zu diesen Vorwürfen. Im Gegenteil, er schien seine Mystifizierung zu geniessen. Nahe Bekannte von Chalino hingegen erklärten den Erfolg dieses Sängers mit seinem Charisma und der Gabe, sein eigenes Bild zu fabrizieren — ein Bild, das von der Folklore Sinaloas und dem Banditen-Helden Mythos zehrte, nicht von seiner einschlägigen Kundschaft. Die zahlreichen Corridos, die zu seinem Andenken komponiert wurden, besingen Chalino als mutigen und entschiedenen Mann, als ehrlichen und treuen Gefährten, als berühmten und verehrten Sänger, der immer von Freunden und Frauen umgeben war. Chalino wurden all die Tugenden des Corrido-Helden zugeschrieben, zusammengefasst im Ausdruck, un gallo valiente, ein unerschrockener Hahn.
In dem Jahrzehnt nach dessen gewaltsamem Tod wurde Chalinos charakteristische Stimme und sein Porträt des «Draufgängers der Berge» von zahlreichen jungen Sängern und Möchtegern-Sängern imitiert. Produzenten und Nachtclubinhaber in Los Angeles gingen auf «Talentensuche» und hielten Hörproben vor einem Live-Publikum. Die Nachfrage nach Chalinos Stil (Stimme, Musik, Ausstattung und Attitüde) kreierte eine Renaissance der mexikanischen ranchera Musik — auf der US-Seite der Grenze. Tausende von mexikanisch-amerikanischen Jugendlichen begannen, sich mit dieser einst als altmodisch und rückständig verschrienen Musik zu identifizieren. Plötzlich galt es als schick, banda und norteña Musik aus den Autostereoanlagen dröhnen zu lassen und die Nächte Polka und Walzer tanzend zu verbringen. Dieser Wandel ist umso erstaunlicher, als sich viele dieser Jugendlichen vorher ihrer Herkunft stark schämten und sich kulturell vehement von ihren mexikanischen Wurzeln losgesagt hatten. Rap Musik war ihre Wahl, insbesondere «Gansta Rap», eine gewaltsamere und äusserst umstrittene Form von Rap, die Rapper wie Eazy E und Ice Cube in den frühen 1990er Jahren an der US Westküste etablierten.
Viele Jugendliche in den schwarzen und Latino Stadtteilen von Los Angeles sind vertraut mit dem gewalttätigen Drogenmilieu und den Konsequenzen des Drogenkrieges. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass Themen wie Gewalt, körperliche Tapferkeit, und Männlichkeit auch Eingang in afro-amerikanische und mexikanische narrative Traditionen finden. Doch obwohl es in Bezug auf Liedinhalt und charakteristische Eigenschaften der Artisten und Zuhörer (Geschlecht, Alter, soziale Klasse und Wohngegend) Parallelen zwischen Gangsta Rap und Narco-Corrdios gibt, der lyrische und musikalische Ausdruck könnte nicht unterschiedlicher sein. Währenddem die Rap Artisten grammatikalische Kreativität, Wortgewandtheit und Spracherneuerung testen, beschränken sich die corridistas auf das stilisierte Vokabular und die vorgegebenen Grundelemente und Formeln des traditionellen Corridos. Währenddem die Rappers von einer rhythmisch ausgefallenen, elektronischen Musik begleitet werden, singen die corridistas zu akustischen Bands, die, wie in der amerikanischen Presse zu lesen ist, eine «ländliche», «veraltete», «spiessige», doch «schamlos fröhliche» Musik in «schunkligem Polka Rhythmus» spielen. Um ihre Aussagen klanglich zu unterstützen, haben kürzlich einige der Narco-Bands angefangen, Effekte wie Polizeisirenen, Maschinengewehrsalven und aufheulende Motoren in ihre Musik zu mischen, ohne jedoch die traditionelle akustische Musik zu verändern.
Pepe Garza, Programm-Direktor der einflussreichsten Narco-Musik Radiostation in Los Angeles, hat in einem Interview bestätigt, dass junge Leute erst auf die Narco-Musik aufmerksam wurden, als seine Station 1998 begann, Narco-Corridos mit kunstvollen Erzählungen in der ersten Person singular und mit Soundeffekten auszustrahlen. Der Grund dafür war seiner Meinung nach die Ähnlichkeit dieser Musik mit Gangsta Rap. Ein Musikvideo-Produzent und Promotor von Narco-Musik, den ich kürzlich auf das Phänomen angesprochen habe, identifizierte Lupillo Riveras Hit «El barzón» (Der Bummeler) als ein Narco-Musik/Rap Fusions Produkt. In der Tat ist dieses Stück eher ein rhythmisch gesprochener, temporeicher Zungenbrecher als ein gesungenes Lied. In Unkenntnis der Liedkultur Sinaloas mag «El barzón» vielleicht als Rap gelten, doch dieses Stück (komponiert von Miguel Muñíz) wurde durch die Interpretation des Sängers Luis Pérez Meza (1917-81), dem «Troubadour des Landes», Jahrzehnte vor der Entstehung von Rap Musik (und Narco-Musik), berühmt.
Es ist eher das Image der Sänger und die Verkaufsstrategien der Musikindustrie, die den Vergleich der beiden ungleichen Musikformen nahelegen. Die junge Generation der Narco-Sänger posiert nicht mehr vor Heuballen oder mit Pferd (wie Chalino auf seinen frühen Kassetten), sondern vor dem silberfarbenen Cadillac mit Grossstadt Hintergrund. Pistolen und schwere Waffen werden nicht mehr offen getragen; stattdessen zeigt man sich mit einem anderen, mehr kosmopolitischen, phallischen Symbol — der Zigarre. Die auffälligen, farbigen («kitschig-geschmacklosen») Narco-Hemden und Wrangler Jeans sind pasée; die jungen Sänger aus Los Angeles tragen italienisches Design wie Versace-Hemden und Armani-Anzüge. Nur der Millimeter Haarschnitt, die rasierte Glatze und die schweren Goldschmuckstücke weisen auf das Ghetto und auf die Gang-Vergangenheit hin. Die neue Generation lässt denn auch keine Gelegenheit aus, um zu zeigen, dass sie es geschafft hat. Nun darf man wieder stolz auf die eigene ethnische und kulturelle Herkunft sein.
Schlussgedanken
Es scheint kein Zufall zu sein, dass der moderne, städtische Corrido immer noch tief in der ländlichen, lokalen mexikanischen Kultur verwurzelt ist. Seit über einem Jahrhundert waren beide Ensembles, norteña und banda, in der oberen Gesellschaftsschicht verpönt und sie wurden von dieser als rückständig und vulgär bezeichnet. Obwohl Blasmusik für lange Zeit eine beliebte Freizeitunterhaltung der mexikanischen Oberschicht war, begannen die betuchteren Bürger um die Jahrhundertwende, die Blasmusik mit der Landbevölkerung und der Arbeiterklasse zu identifizieren. Der niedere gesellschaftliche Status der Blasmusiker basierte sowohl auf der, für die Ohren der Elite «vulgären», Qualität der Musik, als auch auf dem schlechten Ansehen der Lokale in den Hafenquartieren und anrüchigen Stadtteilen, wo einige der Musiker ihr Einkommen fanden. Abgelehnt und ausgegrenzt von der Oberklasse und den Massenmedien (Radio und Schallplattenindustrie), überlebten Blas- und Akkordeonmusik das Jahrhundert und erfreuten sich grosser Popularität unter der Landbevölkerung und der städtischen Arbeiterklasse.
Als banda in den frühen 1990er Jahre zu Los Angeles populärster Musik erklärt wurde, begannen die Medien, dem Phänomen Aufmerksamkeit zu schenken. Man empfand die neu entdeckte Liebe der mexikanischen Jugendlichen für ihre traditionelle und als rückständig betrachtete Musik sowohl als unvereinbar mit dem Assimilationsprozess als auch als nostalgische Wirklichkeitsflucht. Doch Jugendliche, die täglich Diskrimination und Rassismus ausgesetzt sind, mögen sich von der Gesellschaft, die sie nicht akzeptiert, eher abkehren und eine eigene ethnische, kulturelle Zugehörigkeit suchen. Diese Zugehörigkeit wird oft in der Wahl der Musik ausgedrückt.
Narco-Musik ist ein illustratives Beispiel für die Identitätssuche der mexikanisch-amerikanischen Jugendlichen: Klänge, Bilder, Sprache und Werte einer ländlichen, unberührten, idealen Welt werden mit Technologie und Aesthetik einer städtischen, postmodernen Kultur gemischt. Diese synkretische Fusion traditioneller und kontemporärer Elemente entspricht der Gefühlswelt und Identität derer, die diese Musik kreieren und konsumieren. Es überrascht deshalb nicht, dass Einspielungen wie Lupillo Riveras Despreciado (Verachtet) Nummer 5 auf Billboards «Latin music 2001» Bestseller Liste war. Auf raffinierte Weise kombiniert der 32-jährige «Narco-Sänger» das Mafioso Bild Hollywoods mit traditioneller mexikanischer Arbeiter-Musik. Riveras rohe Musik und sein grossstädtisches Erscheinen findet Anklang bei Zuhörern, die ihre sozialen Konventionen, ihre Mode und ihr Streben sowohl von der Narco-Welt, als auch von der amerikanischen Jugendkultur ableiten. Es ist eine Musik, die stark macht.
Es liegt nahe, dass Jugendliche mexikanischer Herkunft, die diese Musik ihr eigen nennen, sich bewusst oder unbewusst mit den «bösen Helden», den Banditen und den Narcos, identifizieren. Die sinaloensische Sierra hat nicht nur den von der Gesellschaft geächteten Malverde hervorgebracht, sondern auch die Drogenhändler, die sich an dieser grausamen Gesellschaft zu rächen wissen. Welche Musik würde sich also besser eignen für die marginalisierten Jugendlichen aus den Latino Ghettos von Los Angeles als die robuste Musik der Sierra, banda und norteña?