Zensur kennt keine Grenzen
Stellen wir uns einmal den Blick eines deutschen Beamten vor, dem ein Antrag vorgelegt wird, in dem ein «Ausländer» um Asyl bittet und als Begründung angibt, er wolle gerne entspannt die neueste CD von Shakira hören. Kann Shakira so wichtig sein?
Ich lerne Shakeb Isaar viel zu flüchtig im letzten Winter auf einer Tagung in Istanbul kennen. Er kommt aus Afghanistan und lebt seit einiger Zeit in Schweden im Asyl. In Kabul war er nach dem offiziellen Sturz der Taliban DJ und VJ bei Arman FM Radio und Tolo TV. Mit einer Freundin legte er dort neueste Popsongs auf, gerne auch von Shakira. Isaar war voller Enthusiasmus, aber nicht lange nach Programmstart erhielten sie im Sender Morddrohungen von religiösen Fanatikern. Sie spielten zu viel westliche Musik, die Videos zeigten zu viel unbedeckte Frauenhaut, und überhaupt spielten sie ja Musik. Eines Tages war die Freundin von Shakeb Isaar dann einfach tot – ein Unfall oder so, sagte man ihm. Mit Hilfe von Freemuse, einer Organisation, die sich gegen die Zensur von Musik engagiert und auf deren Weltkonferenz ich Isaar begegne, gelingt ihm die Ausreise nach Schweden. Er arbeitet jetzt von dort aus für Tolo TV – und sicher präsentiert er wieder Shakira.
Shakira? Blondiert, exotisiert, von einer immer das Gleiche bietenden Kulturindustrie global vermarktet. Wie wichtig wäre sie mir vor der Begegnung mit Shakeb Isaar gewesen? Nicht besonders, aber die Kritik an Zensur darf nicht an Qualitäten der Musik gekoppelt sein. An die Zensur darf nicht ein einziger Ton abgetreten werden.
Voller Eindrücke und mit diesem Entschluss berichte ich meinen Freunden von Isaar und Freemuse. «Johannes, Zensur ist übel, klar», bestätigen sie mich. «Aber willst du, dass die Nazis ihre Musik im Radio rauf und runter dudeln lassen dürfen?» Zensur und Rechtsrock entspringen der gleichen essenzialistischen Ausschlusslogik: Nazi und Zensor wollen beide ihre imaginierte Gemeinschaft «vom Fremden sauber» halten. Es ist eben nicht eine reine Toleranz, die ich hier proklamieren möchte. Es ist eine Kritik an allen religiösen, kulturellen, nationalistischen, ethnischen, rassistischen Bünden, die Glauben machen wollen, sie seien schon immer da gewesen und alles, was außerhalb dieser geschlossenen Gemeinschaften liege, sei «Dreck». «Rechts» ist mit seinen Strategien zur Abwertung anderer und den Einschränkungen des freien Ausdrucks selbst schon Zensur pur. Rechte Musik total abzulehnen, ist somit nur konsequente Kritik der Zensur.
Die Leidenschaft des Zensors
Wer heute Angst vor Shakiras Hüftknochen hat, entwickelt morgen vielleicht schon eine Paranoia vor bestimmten Intervallen und Akkorden. Davon weiß der Gitarrist Jason Carter zu erzählen. Er ist ein Virtuose aus England, der regelmäßig in Nahost und Südostasien auftritt. Neben seiner Gitarre, der er eine feinfühlige Fusion aus Klassik und Flamenco entlockt, hat Carter immer einen Diplomatenpass bei sich. Ohne diesen Diplomatenstatus würde man ihn als Musiker und mit einem Koffer voller CDs in Kuwait, Saudi-Arabien oder Brunei kaum ohne weiteres einreisen lassen. Man fürchtet, der Europäer könnte den Islam oder gar die herrschenden Klassen dort kritisieren. Dabei sitzt der Gitarrist nur auf einem Stuhl und singt nicht mal ein «Sterbenswörtchen». Trotzdem muss er, will er dort auf Tour sein, erst vor Kommissionen auftreten, die überprüfen, ob sich hinter seinem Zupfen nicht vielleicht doch ein Anschlag verbirgt. Man könnte meinen, niemand glaubt so sehr an die suggestive Kraft von Musik wie ihre Zensoren. Als heimliches Liebesgeständnis an die Musik interpretiert Jason Carter schließlich auch die Kommissionen, die ihn beäugen wollen. Die Herren gönnen sich so vorweg und gratis ein privates Konzert von ihm. «Abends kommen sie begeistert und mit ihren Freunden zu meinem Gig.» Carter beschreibt das Verhältnis zu seinem Instrument als freundschaftlich. In mancher Lebenslage sei die Gitarre auch schon Therapeutin für ihn gewesen. Er versucht sich in seine Musikerfreunde einzufühlen, die in Ländern leben, in denen es nicht möglich ist, sich mit seiner Musik frei auszudrücken. In Saudi-Arabien arrangiert er ein Treffen mit einigen Leuten in einem kleinen Antiquitätenladen. Die Türen und Fensterläden werden verschlossen. Dann darf er erleben, wie sich ein junger Mann unter ihnen, der sich eben noch als Computerspezialist vorstellte, in einen genialen Oudspieler verwandelt. Vielleicht machen sie sogar eine spontane Aufnahme zusammen. Doch schon bald wird der begnadete Kollege wieder auf die Straße hinausschlüpfen und ist ab diesem Augenblick kein Musiker mehr - kann es nicht sein, weil er sich nicht einfach zu Sessions mit anderen treffen oder irgendwo ein Konzert geben darf. Die Leute, die mit Carter und dem Oudspieler im Raum sassen, haben noch schnell jeden Ton in sich hineingesaugt, bevor auch sie den kleinen Laden verlassen. «Sie dürsten nach jedem Tropfen Kultur», sagt Carter.
Das Leben der Anderen
Natürlich gibt es keine zersetzenden Melodien oder so mächtige Beats, dass sie ganze Staatssysteme ins Wanken bringen könnten. Zensur ist durch einen doppelten Kurzschluss im Umgang mit Musik verursacht. Der erste Kurzschluss ist die Vereinnahmung von Musik zur Repräsentation. Die Kopplung von Musik an Kulturen, Volksgruppen, den Westen, die Weißen oder Schwarzen ist eine überall verbreitete Idee. Der zweite Kurzschluss ist eine manische Umkehrung dieser Kopplung: Durch das Verbot der Musik soll die Kultur vernichtet werden. Die Töne und Rhythmen selbst haben mit alldem eigentlich nichts zu tun. Sie werden im wahrsten Sinne des Wortes instrumentalisiert.
So wie die Musik für die Zensoren kaum eine Rolle spielt, tun es auch die Musikerinnen und Musiker nur wenig - obwohl diese am stärksten betroffen sind und manchmal sogar Haft erleiden müssen. Der Sänger und Sazspieler Ferhat Tunç beispielsweise wurde von der türkischen Polizei ins Gefängnis geworfen, weil er bei einem Auftritt so etwas wie «Hallo, da bin ich wieder» sagte. In den Ohren der Beamten klang das wohl wie «Hallo PKK». Bei seiner Verhaftung ging es zunächst nicht um diesen gewissen Herrn Tunç und auch nicht um seine Musik. Es ging um die Ideologien, den Geist, den er über die Musik verbreiten könnte. In diesem Fall lautete der Vorwurf: kurdischer Separatismus. Einige Musiker und Musikerinnen sind in der Türkei auch schon wegen des Singens in einer «nicht existenten Sprache», wie das Kurdische wohl genannt werden muss, wenn man es nicht anerkennen will, verurteilt worden.
Tunç ist wieder frei und tut das Gleiche wie zuvor – konzertieren. Er ist zum Glück ein hoffnungsloser Fall. Bei dem Musiker, der seine Songs bei Proben und im Studio schon zig Male gesungen hat, ist ohnehin jeder Winkel des Körpers mit der vermeintlich gefährlichen Ideologie kontaminiert. Die Künstler sind zwar die unmittelbar Leidtragenden, tatsächlich ist Zensur aber ein Angriff auf uns alle. Den möglichen Hörerinnen und Hörern wird durch Zensur etwas vorenthalten oder entzogen. Sie können nicht mehr selbst entscheiden, ob sie Shakira und Tunç hören wollen. Das Leben der Anderen - ist auch unseres. Das ist die Erkenntnis des Stasioffiziers, der den Autoren, den er eigentlich bespitzeln soll, schützt. Ihm selbst würde lebenswichtige Kunst und Freiheit des Denkens entzogen, verriete er den Künstler.
Zensur hat viele Gesichter: Staaten, religiöse Gemeinschaften, Musikvertriebe und Sender. Die Strategien, Künstler in ihrer Freiheit einzuschränken, reichen von brutaler Folter über Auftrittseinschränkungen für Frauen, Verweigerung von Reisevisa bis zur subtilen Selbstzensur. Es ist leider so, falls jemand ein neues Konzept für ein Festival oder Magazin über Weltmusik suchen sollte, wäre «Zensiertsein» ein sinniges Auswahlkriterium für Musikerinnen und Musiker. Wenn es überhaupt ein globales Phänomen in der Musik gibt, ist es wohl die Zensur. Von Deutschland aus können wir uns recht einfach und sogar sehr unterhaltsam gegen diesen Zwang zum Verstummen engagieren: Hören und Verbreiten!
Dieser Artikel erschien zuerst in Folker! 6/2007
Biography
Published on June 24, 2007
Last updated on April 30, 2024
Topics
From political music in the GDR, the trouble of punk musicians in China and the dangerous life of kurdish folk singers in Turkey.
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