Camila Vallejo (photo: Marcelo Hernandez)

Chiles neue Barden

Die Nueva Canción Chilena entstand in den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Mehr als ein halbes Jahrhundert später sind die Heroen jener Zeit im kulturellen Gedächtnis nach wie vor präsent und einige der Veteranen sogar noch aktiv. Doch viele der damaligen Probleme bestehen heute noch. Von musikalischer Seite aus schweigt man zu all dem nicht. Im Land von Víctor Jara und Violeta Parra, von Inti­Illimani und Quilapayún erheben jetzt jün­gere Cantautores ihre Stimme.

Nach fünfzehnjähriger Militärdiktatur und ersten freien Wahlen versucht man sich in Chile seit 1989 mehr schlecht als recht in der Redemokratisierung. Dass die Republik Chile seit fast einem Jahr auch bei uns wieder stärker in den Schlagzeilen steht, ist den für bessere Studienbedingungen demonstrierenden Studierenden zu verdanken. Erst kürzlich tourte Camila Vallejo, die Gallionsfigur dieser Bewegung, ausgiebig durch Europa, um für einen politischen Wandel zu werben. Würden also die Studierenden nicht so massiv auf den Putz hauen, hätte man anderswo auf der Welt womöglich noch gar nichts von Chiles rechtskonservativem Staatschef und milliardenschweren Unternehmer Sebastián Piñera mitbekommen.

Im vergangenen März, als sich Piñeras Machtantritt zum zweiten Mal jährte, wurde es wieder besonders laut auf den Straßen der Hauptstadt. Während sich die Regierung damit brüstet, dass Chile zu den Ländern mit dem größten Wirtschaftswachstum gehöre, protestieren soziale Organisationen und die Studentenbewegung vor allem gegen die extreme marktwirtschaftliche Ausrichtung des Landes und die zunehmende Kommerzialisierung aller Lebensbereiche.

Manuel Garcìa (photo: conunaayuditademisamigos)

Nicht nur in Santiago, auch im südchilenischen Aysén geht man seit Wochen gegen die neoliberale Wirtschaftspolitik des Staatschefs auf die Strasse und fordert bessere Lebensstandards ein. Beim internationalen Liedfestival Viña del Mar, einem der grössten des Subkontinents, setzte der Liedermacher Manuel García im Februar ein unüberhörbares Zeichen: Der in Chile mit Bob Dylan und Silvio Rodríguez verglichene Musiker nutzte eine selbst ihn überraschende Festivaleinladung, um vor 15.000 Konzertbesuchern einen offenen Brief an Piñera zu verlesen. Unter Applaus verwies er auf die Ereignisse in Aysén, auf die Misere der Bewohner im Erdbebengebiet und die der größten ethnischen Minderheit des Landes, der Mapuche. «Die Studierenden werden Sie nicht schlafen lassen, wenn Sie uns nicht träumen lassen! Viva Chile!» Danach intonierte García, der bei einigen der Protestmärsche dabei war, allein mit Gitarre seine poetisch­melancholische Weise vom alten, desillusionierten Kommunisten, «El Viejo Comunista».

Wie Chile klingt

Manuel García ist einer der Protagonisten der zwischen Lied, Rock und Pop sowie Folklore angesiedelten aktuellen Szene Chiles. Eine prominente Vertreterin ist auch die Sängerin und Komponistin Pascuala Ilabaca, die mit Vorliebe Akkordeon spielt. Sie trat kürzlich auch in Deutschland auf. «Um der Welt zu zeigen, wie Chile, wie Südamerika heute klingt», erklärt Ilabaca. Die 27­jährige weltgewandte Künstlertochter zog es nicht, wie so viele Kollegen, in die Hauptstadt. Ilabaca lebt und arbeitet in der Küsten­ und Künstlerstadt Valparaíso, wo Salvador Allende zur Welt kam. Die temperamentvolle Musikerin, deren langes schwarzes Haar von bunten Bändern durchwirkt ist, ähnelt ein wenig ihrem Idol Frida Kahlo. Ihr und der nicht minder charismatischen Landsfrau Violeta Parra widmet die Chilenin auch ein Lied auf ihrer aktuellen CD Diablo Rojo Diablo Verde. «Es soll die Künstlerinnen im machistischen Lateinamerika aufwerten, ihnen mehr Aufmerksamkeit verleihen.»

Ilabacas Musik, ihre Art zu denken, verkörpert etwas Panamerikanisches, eine spezielle Zuneigung zu den einheimischen, nicht selten in Frauenhand liegenden Traditionen. Mit ihrer Band Fauna, mit der sie auch beim diesjährigen TFF Rudolstadt auftreten wird, zelebriert sie einen farbenprächtigen, tanzbaren Mix aus Folklore, Rock, Jazz sowie Drum & Bass­Anleihen. Er schöpft nicht nur aus den heimischen Ressourcen, sondern enthält auch allerlei Stilelemente der Länder, in denen die neugierige Musikerin lebte, z.B. Mexiko und Indien. Das kommt klanglich sehr anmutig daher und birgt zumeist auch gewichtige Texte. «Jedem Lied liegt eine kleine Schlacht zugrunde. Das, was einen berührt, trifft, ist, was danach verlangt, musikalisch Ausdruck zu finden.» Zum einen drehen sich Ilabacas Lieder um die Psychologie menschlicher Beziehungen, um die Schwierigkeiten zwischen Mann und Frau. Zum anderen geht es um Soziopolitisches in Chile und anderswo – um den Respekt vor der indigenen Bevölkerung, vor der Erde, der Natur an sich. So wie einst Violeta Parra die ländliche Volksmusik vor dem Vergessen zu retten versuchte, so trachtet Ilabacas Generation heute danach, ihren eigenen«chilenischen Klang» zu schaffen und ins weltweite Bewusstsein zu rücken.

Pascuala Ilabaca (photo: Juan Miguel Morales)

Gesungene Manifeste

«Ich singe nicht, nur um zu singen oder weil ich eine gute Stimme habe. Ich singe, weil meine Gitarre Sinn und Verstand hat», konstatierte Chiles Nationalpoet Víctor Jara in «Manifiesto». Dieses schon dem Namen nach musikalische Testament entstand kurz vor seiner Ermordung 1973 nach dem Putsch gegen Allende. Der grosse Barde ist für viele Musiker Vorbild. So auch für Nano Stern mit seinen sozialkritischen und politischen Liedern. Der aus einer jüdischen Musikerfamilie stammende Liedermacher und Multiinstrumentalist, der im vergangenen Jahr beim Bardentreffen in Nürnberg auftrat, gilt als d i e Stimme des Protests gegen die derzeitige chilenische Regierung.

Vielleicht nicht ganz so hautnah dabei, aber allemal hochinteressant mit ihrer musikali­schen Energie ist die Sängerin und Komponistin Francesca Ancarola. «Sich bilden heisst nicht, sich zu verschulden», lautet ihr Plädoyer für das Recht auf kostenloses Studieren, das sie in einer Videobotschaft im Internet zur Unterstützung der opponierenden Studenten veröffentlichte. Doch auch die 40­jährige Sängerin vollführt in ihren Liedern einen panamerikanischen Spagat. Ihr 1999 erschienenes Debütalbum Que el canto tiene sentido («Dass der Gesang Sinn hat»), das schon im Titel die Brücke zu Víctor Jara schlägt, eröffnet mit dem bereits erwähnten «Manifiesto». Das klingt bei ihr ein Vierteljahrhundert später nicht weniger «chilenisch» oder gefühlsintensiv, dabei aber leichtfüssiger. Die Inspirationsquellen der Künstlerin in Brasilien, Kuba oder Peru sind spürbar: Milton Nascimiento, Chico Buarque, Silvio Rodríguez, Chabuca Granda. Aber natürlich auch die im eigenen Land. Violeta Parras und Víctor Jaras Lieder sind nicht wegzudenken aus Ancarolas auf nunmehr sieben CDs veröffentlichtem Repertoire. So ist ihr vorletztes Album Lonquén, benannt nach Jaras Geburtsstadt, eine einzige Verneigung vor ihrem Landsmann.

Rock'n'Roll und educación

In der erwähnten Videobotschaft richten noch weitere Musiker ihren Gruss an die Studenten, z. B. Yogui Alvarado von Emociones Clandestinas, einer Pionierband des chilenischen Rock. Er fordert gleiche Chancen bei der Bildung «für die Kinder der Arbeiterklasse, für alle vom sogenannten Mittelstand an abwärts». Mit einem nachdenklich­heiteren «Es lebe der Rock ’n’ Roll und die Bildung» endet sein unverblümtes Statement. Und auch eher im Pop beheimatete Singer/Songwriter wie María Magdalena Ortiz alias María Colores zeigen sich solidarisch. Diese junge Musikerin war vor kurzem selbst noch Studentin. Lange vor der Veröffentlichung ihres Debütalbums Llamadas perdidas konnte man sie Gitarre spielend auf der Straße erleben.

Maria Colores

In Chiles aktueller Musikszene haben etliche – vor allem junge, charismatische – Frauen das Sagen. Ana Tijoux (siehe norient-Artikel Words like hails of bullets), als Tochter von Exil­-Chilenen geboren und in Frankreich aufgewachsen, kehrte mit dreizehn Jahren ins Land der Eltern zurück. Sie war Tänzerin, bevor sie zum Rappen fand. Ihr Song «Shock» avancierte im vergangenen Jahr zur regelrechten Protesthymne der Studenten. «Dieses Lied wurde von den sozialen Bewegungen inspiriert, aus meiner Sicht als Mutter, Musikerin und Bürgerin. Ich denke, es ist wichtig, eine Hommage an diese Demonstranten zu schreiben.» Von Streicher­ und Bläser-­Samples angepeitschte Verse rechnen mit allen nur denkbaren Widrigkeiten von Gegenwart und Vergangenheit ab: «Die Stunde hat geschlagen. Wir werden nicht länger deine Schock­Doktrin zulassen...». Mit ihrem Hitpa­raden­kompatiblen Revolutionsgeist mit Sexappeal schaffte es die «Königin des chilenischen Hip­Hop» im vergangenen Jahr sogar bis zur Grammy­nominierung.

Nicht minder rebellisch gibt sich Camila Moreno – eine Singer/Songwriterin, die sich mehr von Björk inspiriert fühlt als von den Liedermacherveteranen ihres Landes. Dennoch teilt Moreno bisweilen mit ihnen die Bühne. So trat sie im Januar in Berlin bei der Veranstaltung «Gegen Banken Macht» mit Quilapayún auf, neben den niederländischen Bots und der Gruppe Neues Glas aus alten Scherben. Am Abend danach konnte sich die Chilenin allein in einem Club vor jungen, ihre Texte mitsingenden Landsleuten dann noch mal wirklich austoben. «Mir macht es Vergnügen, mein Publikum in eine unbequeme Situation zu versetzen. Würde meine Musik in einem Supermarkt als Hintergrundmusik laufen, wär das wohl sehr frustrierend», malt sich Moreno lachend aus. «Mir geht es ums Provozieren von Gefühlen – egal welchen.»

Dies gelang besonders mit dem folkrockig­ungestümen Song «Millones», einem an den Präsidenten gerichteten Schmähgesang auf den Ausverkauf in ihrem Land. Dessen Fernsehkanal zensierte daher auch ein Video dieses 2009 bei den Latin Grammy Awards nominierten Lieds. Lateinamerikanische Realität, wie sie vielleicht besonders gut in Chile gedeihen kann – in einem diktaturgebeutelten Land, dessen musikalisch­politisches Flaggschiff Inti­Illimani ausgerechnet durch Eitelkeiten und Machtgelüsten unterging, und das seit zwanzig Jahren die Honecker­s Witwe beherbergt.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen im Magazin Folker Nr. 3/12

Published on July 09, 2012

Last updated on October 08, 2020

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