Das sozialistische Jugoslawien lebt auf YouTube mindestens musikalisch weiter. Das Internet-Videoportal bietet deshalb fast alles, um eine musikalische Reise durch den Staat, den es nicht mehr gibt, zu unternehmen. Eine Reise auf YouTube ist jedoch wie jede Reise: An einem Ort bleibt man zu lange, andere mag man nicht sehen, oft verirrt man sich, an gewissen Städten fährt man vorbei und liest erst später in Büchern von verpasster Schönheit. Die folgende Reise beginnt in den 50ern und endet um 1990. Bewusst schliesst sie gewisse Genres aus und hebt andere hervor.
Die Jugomexikaner
Mexikanische Musik war im Jugoslawien der 50er und 60er Jahre extrem in Mode. Es gab sogar eine eigene Genrebezeichnung: YU-Mex. Und auch die Sänger besassen einen Namen: Jugomexikaner (Jugomeksikanci). Manche Jugomexikaner, die auf Spanisch aber vorwiegend auf Serbokroatisch sangen, lebten ihre Leidenschaft vollkommen – man beachte neben der Musik auch ihre jugomexikanische Tracht:
Es gibt mehrere Theorien, weshalb diese Liebe zur mexikanischen Musik entbrannte. Eine nachgewiesene Spur führt zum 1950 gedrehten Film Un día de vida (Jedan dan života, Ein Tag des Lebens) von Emilio Fernández. Über die tragische Geschichte zweier Freunde, der eine Offizier und der andere Revolutionär, weinte angeblich ganz Jugoslawien. Der stolze Revolutionär ist zum Tode verurteilt. Durch die Hilfe des Offiziers kann er aber noch einmal seine Mutter, die nichts von dem Schicksal ihres Sohnes weiss, an ihrem Geburtstag besuchen. Ein Höhepunkt des Films, der auf YouTube nur mit serbokroatischen Untertiteln existiert, ist die Szene, in der er der Mutter das Geburtstagslied singt:
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Das Lied wurde in Jugoslawien zu einem Hit und mehrfach gecovert. Unter anderem von Nikola Karović, der behauptete, Tito himself halte ihn für den besten Jugomexikaner:
Obwohl die Begeisterung für Mexiko Ende der 60er abflachte, finden sich immer wieder Spuren dieses skurrilen Genres. Die grandiose Anfangsszene des Films von Emir Kusturica Otac na službenom putu (Papa ist auf Dienstreise, 1985) ist eine davon:
Obwohl es sich hier eigentlich gar nicht um ein mexikanisches Lied handelt, liefert der Film eine Entstehungsthese, die bis heute weit verbreitet ist. Der kleine Malik erzählt nämlich gleich im Anschluss, Hausmeister Franjo sei der beste Sänger mexikanischer Lieder. Wenn Papa ihn frage, warum er denn mexikanische Lieder singe, antworte Franjo: «Das ist, Genosse Meša, heute am sichersten. So sind die Zeiten.» Der Film spielt kurz nach dem Bruch zwischen Tito und Stalin 1948. Danach war es nicht mehr erwünscht, dass man russische Lieder sang. Auf der Suche nach politisch neutralem Liedgut habe man – so die auch in einzelnen wissenschaftlichen Beiträgen geäusserte These – die mexikanische Musik entdeckt. Dies ist aber nur eine der vielen Erklärungen über die Entstehung des YU-Mex.
Eine andere Entstehungsthese bringt den Stereotyp des listigen jugoslawischen Kommunisten ins Spiel. Es sei der hohe jugoslawische Politiker Moše Pijade gewesen, der an einer Parteisitzung kurz nach 1948 aus dem Nichts verlauten liess: «Mexiko!» Darauf hätten sich alle Anwesenden verdutzt angeschaut, bis Pijade die Ähnlichkeiten zwischen Mexiko und Jugoslawien aufgezeigt und somit dem YU-Mex Tür und Tor geöffnet haben soll.
Der in New York lehrende Musikwissenschaftlers Dean Vuletić verbindet die Mexikowelle ebenfalls mit der jugoslawischen Politik. Jugoslawien habe sich als wichtiger Vertreter der Blockfreien nämlich gewünscht, dass Mexiko zu einem vollwertigen Mitglied der Bewegung werde. Die Annäherung an Mexiko habe sich dann auch in der Musik ausgedrückt (siehe Interview). Andere meinen, die Ursache für den YU-Mex seien schlichtweg die zahlreichen mexikanischen Filme gewesen, die in jugoslawischen Kinos gezeigt wurden.
Auf den YU-Mex trifft man übrigens immer wieder. So z.B. im Dokumentarfilm Orkestar über die populäre Band Plavi Orkestar (aber nur ganz kurz zwischen 6.15-6.48)
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Auch Željko Bebek, der langjährige Sänger von Bijelo Dugme, der populärsten Rockband Jugoslawiens, wurde angeblich vom YU-Mex beeinflusst. Dies äusserte er in einem Interview mit der Rockzeitschrift Džuboks, deren Ausgaben von 1974 bis 1985 nun übrigens online einsehbar sind. Natürlich fand man die Mexikowelle auch in Jugoslawien ein wenig absurd. Davon zeugt beispielsweise das Lied vom Duo Pegla (Duo Bügeleisen) «Mi imamos mnogos problemos» (auf gut Deutsch «Wir habos vielos Problemos»):
Aber Achtung! Nur lustige Seiten hat der YU-Mex nicht. Radovan Karadžić meinte beispielsweise zu Beginn des Jahres 1995 in einem Interview mit dem mexikanischen Fernsehen: «Wir haben Mexiko immer geliebt für ihre Lieder, die wir hier singen».
Wer noch nicht genug hat, dem sei die CD-Box 101 meksikanska (101 mexikanische) empfohlen: 101 Songs auf vier CDs, ein Booklet, das alle Aufnahmen der Stücke feinsäuberlich dokumentiert und ein 75-seitiger Essay über das Genre (zwar kroatisch, aber mit kurzen Zusammenfassungen auf Englisch und Spanisch). Zur weiteren Kontextualisierung des YU-Mex-Stils sei hier ausserdem auf den Artikel von Tobias Rupprecht «Die Liebe der Linken zu Lateinamerika» aus Le Monde diplomatique hingewiesen.
Zwischen den musikalischen Welten: Rock'n'Roll in den 60ern
In der jugoslawischen Musikszene tummelten sich aber nicht nur Jugomexikaner. Auch Verbindungen zu zahlreichen anderen Ländern wie Frankreich, Italien, Kongo, Deutschland, Russland oder der Schweiz lassen sich ausmachen. Nach dem Konflikt mit der Sowjetunion liefen im Radio vorwiegend französische und italienische Schlager. Bei der Plattenfirma Jugoton arbeitete der Schweizer Kurt Grieder. Dieser war zwischen 1950 und 1958 für den Ton zuständig, später arbeitete er als technischer Supervisor. Zum Durchbruch des Rock'n'Roll Ende der 50er verhalfen angeblich Italiener. Als Betreiber der meisten Karusselle in jugoslawischen Vergnügungsparks sollen sie aus Italien die neuesten Hits mitgebracht und gespielt haben. Die Rock'n'Roll-Begeisterten hörten neben Radio Luxemburg auch österreichische Sendungen wie Autofahrer unterwegs. In Makedonien und Montenegro waren die Musiksendungen von Radio Beirut populär. Dem Zuhören folgte:
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Mitte der Sechziger gab es in Jugoslawien eine äusserst lebendige Beat-Szene. Die Bands spielten zunächst vor allem instrumentelle Coverversionen. Die Belgrader Gruppe Elipse (Ellipsen) spielte beispielsweise eine Beat-Version des wohl bekanntesten Werkes von Marc-Antoine Charpentier (um 1643-1704):
Die Belgrader Zlatni Dečaci (Golden Boys) waren geradezu spezialisiert auf Covers von klassischen Werken. Angeblich erhofften sie sich dadurch, im Radio gespielt zu werden. Hier ihre Interpretation von Schwanensee:
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Die Zagreber Band Roboti coverte hingegen «Marmor, Stein und Eisen bricht»:
1966 traten die Elipse als erste Rockband vor Tito auf. Im gleichen Jahr waren sie die Gewinner des ersten grossen Rockfestivals in Belgrad, der Gitarijada. Folgender Film bietet sowohl Originalaufnahmen rund um den Auftritt vor Tito (ab min. 4.10) und von der Gitarijada (ab min. 7.30) sowie Aufnahmen von einem Konzert der Belgrader Altrocker viele Jahre später (empfehlenswert ab min. 16.30):
Die Fernsehsendung Koncert za mladi ludi svet (Konzert für die junge verrückte Welt) wurde 1967 zum ersten Mal ausgestrahlt. Hier entstanden die ersten Musikvideos in Jugoslawien:
LSD-Rock & regimefreundlicher Pop-Rock & Punk in den 70ern
In den 70ern wurde die Musik härter, die Texte erhielten mehr Gewicht. Pop Mašina aus Belgrad veröffentlichte 1973 das erste jugoslawische LSD-Album Kiselina (Säure). Um die Platte veröffentlichen zu können, änderten sie das Cover, die Texte und die Reihenfolge der Lieder. 35 Jahre später erschien dann das Album Originalna Kiselina – so hatte die Platte ursprünglich klingen sollen. Hier aber ein anderer Hit von Pop Mašina:
Die bekannteste Rockband der ersten Hälfte der 70er war Korni grupa. In einem Songtext feierten sie offen einen Helden des kommunistischen Jugoslawiens. Bei ihrem Auftritt als Vertreter Jugoslawiens beim Eurovision Song Contest 1974 spielten sie das patriotische Lied «Moja Generacija» (Meine Generation). Amüsant auch der vielsagende Kommentar des ORF-Reporters:
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Um 1977 kam auch der Punk nach Jugoslawien. Ein Punkklassiker ist «Narodna pjesma» (Volkslied) von Paraf aus Rijeka:
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Vier Professoren & Bijelo Dugme
Ende Januar 2010 erschien auf einem serbischen Internetportal der Text «Grosse Verschwörung im YU-Rock» (auf Serbisch). Die anonymen Verfasser zitieren einen angeblich langjährigen Mitarbeiter des jugoslawischen Staatssicherheitsdienstes und behaupteten, dass nahezu alle Stars der jugoslawischen Rockszene mit der Staatsicherheit zusammengearbeitet hatten. Der Plan sei gewesen, das revolutionäre Potenzial der Jugend, das sich 1968 bei den Studentenprotesten zeigte, durch die Rockmusik abzuschwächen. Der Verdacht, dass einzelne Bands enge Kontakte zum Regime hatten, existiert schon lange. Auch die Aussagen einiger serbischer Historiker gehen in diese Richtung. Beweise dafür gibt es jedoch keine.
Der oben erwähnt Artikel bietet zwar auch keine Beweise, dafür aber viel Unterhaltung. So wird beispielsweise davon berichtet, die besten Rockmusiker hätten zusammen mit Psychologen Konzeptalben entwickelt, die im Falle eines Krieges eingesetzt werden sollten. Die Alben enthielten auch Liebeslieder, die den Sexualtrieb anregende Hormone freisetzten. Im Falle eines Nuklearkriegs abgespielt, hätten diese Lieder die eingeschlossenen Bürger zum Liebesakt bewegt – und das Überleben der Bevölkerung gesichert.
Bijelo Dugme (Weisser Knopf) wurde 1974 gegründet und war die erfolgreichste Band Jugoslawiens. Die Zusammenarbeit zwischen Goran Bregović von Bijelo Dugme und der Staatssicherheit war laut diesem Artikel besonders intensiv. Um Bregović bei dem Hit «Lipe cvatu» (Die Linden blühen) zu helfen, soll die Staatssicherheit drei Professoren der Musikakademie und einen Professor der Literaturwissenschaft engagiert haben. Auch der Song kann es nicht beweisen:
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Die goldene Rockgeneration der 1980er
Jugoslawien hatte in den 1980ern eine der kreativsten Rockszenen Europas. Die sogenannte Neue Welle ist bis heute extrem populär. Nach Milan Mladenović (1958-1994) von der Kultband Ekatarina Velika (Katharina die Grosse) bzw. EKV wurden sogar Strassen benannt. Seit kurzem sind seine Liedtexte erfreulicherweise sogar in einer deutschen Übersetzung zugänglich. Hier drei Hits der Band:
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Darko Rundek von der Band Haustor aus Zagreb ist einer der eindrücklichsten Figuren der Neuen Welle. Ihre ganz unterschiedlichen Hits «Šejn» von 1985 und «Tajni grad» («Geheime Stadt») von dem gleichnamigen Album aus dem Jahr 1988 zeigen den Wandel der Band:
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Bei Električni orgazam (Elektrischer Orgasmus) aus Belgrad ist neben der Musik ebenfalls der Wandel der Band in den 80ern und zudem der Tanzstil erstaunlich. «Nebo» («Himmel») von 1981 und «Bejbe ti nisi tu» («Baby du bist nicht hier») von 1987:
Zabranjeno Pušenje (Rauchen verboten) aus Sarajevo sind die wichtigsten Vertreter des sogenannten Neuen Primitivismus. «Anarhija all over Baščaršija» ist einer ihrer Hits aus ihrem ersten Album «Das ist Walter» 1984:
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Zum Abschluss noch eine Liveaufnahme von Zabranjeno Pušenje. «Nedelja kad je otišo Hase» (Der Sonntag als Hase ging) von 1985 ist dem berühmten Sarajevoer Fussballer Asim Hase Ferhatović gewidmet. Der Text macht jedoch klar, dass auch auf die Beerdigung Titos angespielt wird:
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Einige neuere Publikationen rund um das Thema aus Kroatien und Serbien
Janjetović, Zoran: Od „Internacionale“ do komercijale. Popularna kultura u Jugoslaviji 1945-1991. Beograd 2011.
Kršić, Dejan: Velika očekivanja, bizarnosti i slijepo mjesto ideologije. Povodom knjige: Radina Vučetić: Koka-kola socijalizam – Amerikanizacija jugoslovenske popularne kulture šezdesetih godina XX veka, Službeni glasnik, Beograd 2012. http://dejankrsic.wordpress.com/2013/08/23/velika-ocekivanja-bizarnosti-i-slijepo-mjesto-ideologije/
Lokotar, Kruno: Uloga djece oficira JNA u jugoslavenskoj rock revoluciji. http://www.e-novine.com/entertainment/entertainment-tema/79140-Fender-umjesto-tandare.html
Perica, Vjekoslav / Velikonja, Mitja: Nebeska Jugoslavija. Interakcije političkih mitologija i pop-kulture [Himmlisches Jugoslawien. Interaktionen politischer Mythologien und Pop-Kultur]. Beograd 2012.
Raković, Aleksandar: Rokenrol u Jugoslaviji 1956.-1968. Izazov socijalističkom društvu. Beograd 2011.
Vučetić, Radina: Koka-kola socijalizam. Amerikanizacija jugoslovenske popularne kulture šezdesetih godina XX veka. Beograd 2012.
Vuletić, Dean: Lake note u teškim vremenima. http://www.novossti.com/2010/03/lake-note-u-teskim-vremenima/
Zubak, Marko: Pop-Express (1969.-1970.): rock-kultura u političkom omladinskom tisku. In: Časopis za suvremenu povijest, Vol. 44, Nr. 1, Juni 2012, S. 23-35. Hier herunterladbar: http://hrcak.srce.hr/83393