Missverständnisse erwünscht
Cairo Liberation Front aus dem niederländischen Tilburg ist das erste westliche DJ-Kollektiv, das sich in seinen Live-Performances und Soundcloud-Mixes Electro Sha’abi aus Kairo einverleibt. Im Interview spricht Joost Heijthuijsen über seine Sha’abi-Faszination, sein Selbstverständnis als westlicher DJ und die Grenzen des Verstehens.
[Theresa Beyer]: Joost, was ging dir bei deiner Initiation mit Electro Sha’abi durch den Kopf?
[Joost Heijthuijsen]: Das war vor etwa anderthalb Jahren an einem Panel über die Zukunft des Musikjournalismus. John Doran vom Onlinemagazin The Quietus hatte da einen YouTube-Clip von Islam Chipsy gezeigt. Darin hat ein Typ Cluster auf dem Synthesizer abgefeuert, die ich so noch nie gehört hatte. Der Sound hatte eine Energie wie Aphex Twin in ihren besten Underground-Zeiten und war gemischt mit Sounds, die wir im Westen normalerweise hassen: Autotune-Effekte, billiger Euro-House, arabische Rhythmen. Alles war low-tech produziert, aber es kam so pur und intensiv daher, dass es mich neugierig gemacht hat.
[TB]: Wie bist du dieser Neugier dann nachgegangen?
[JH]: Anhand der YouTube-Klicks konnte ich erahnen, wie populär Electro Sha’abi in Kairo ist. Aber da alles abseits der westlichen Musikindustrie stattfand, war auf Englisch einfach nichts darüber zu finden. Ich kämpfte mich also mit dem Google Translator zu einigen Blogs und Foren durch, auf denen die neusten Sha’abi-Tracks ausgetauscht werden. Und dann habe ich die Musiker über Facebook angeschrieben, wir haben uns angefreundet und wurden schon bald auf die Hochzeit von MC Sadat nach Kairo eingeladen. Da sah ich das alles zum ersten Mal live – unglaublich.
[TB]: Aus den Sha’abi-Tracks, die du auf den ägyptischen Blogs und Foren flückst, macht ihr dann eigene Soundcloud-Mixes. Wie geht ihr dabei vor?
[JH]: Wir laden fleissig herunter, publizieren alles neu, wir selektieren und bündeln. Yannick macht dann ein Mixtape, so etwas wie «Die besten Hits des letzten Monats» [lacht]. Und dann suchen wir nach Ähnlichkeiten und Anknüpfungspunkten mit anderen Tracks, die wir kennen und mixen wild drauflos. Jetzt arbeiten wir gerade an unserem ersten eigenen Sha’abi-Track, der im Frühjahr rauskommt. Und der Austausch ist auch gegenseitig: MC Sadat und MC Alaa 50 Cent waren bei uns in den Niederlanden und wir haben ein MashUp gemacht – holländische Texte und Sha’abi-Beats.
[TB]: Du bist ein weisser Musiker aus den Niederlanden, der Electro Sha’abi nach Europa holt. Damit reisst du die Musik also aus dem Kontext: Sha’abi ist eine komplexe Musikkultur mit einem bestimmten Tanz, ihrem eigenen Style und ihrer Verwurzelung in Kairos Vororten und den Hochzeiten. Wie positioniert ihr euch dazu?
[JH]: Wir zeigen Respekt und zwar darüber, dass wir uns als Fans bekennen. Gleichzeitig wollen wir keine Puristen sein, denn verstehen werden wir die Electro-Sha’abi-Kultur sowieso nie – noch künstlichster wäre es wohl, wenn wir dieses Verständnis forcieren. Schon bei den Texten kommen wir mit Übersetzungen nicht sonderlich weit: es ist ein bestimmter Slang mit Anspielungen, die wir nicht entschlüsseln können. Aber sind dies Gründe, die Musik unberührt zu lassen? Ich kann doch trotzdem eine eigene Haltung dazu entwickeln und gerade auch die Missverständnisse für uns fruchtbar machen.
[TB]: Wie sieht das genau aus?
[JH]: Wir wollen nicht imitieren, sondern mutieren, etwas völlig anderes daraus machen. Bei unserem ersten Konzert in einem House-Club zogen wir arabische Kostüme an, machten eine verrückte Show mit Wasserpistolen, Wodka, Stage-Diving und Visuals.
[TB]: Und die Mittelklasse-Club-Hipster tanzen dazu?
[JH]: Ja, wieso denn nicht. Wir zeigen ihnen ja eine andere Seite Ägyptens: nicht die verklärten Revolutions-Bilder vom Tahir-Platz, sondern kreative Stimmen aus den armen Vierteln. Wir promoten Electro Sha’abi hier als echte Kunstform. Vielleicht führt diese westliche Aufmerksamkeit ja sogar dazu, dass die Electro-Sha’abi-Jungs dann auch in Kairo mehr Respekt bekommen.
[TB]: Wie schätzt du das ein, können sie im internationalen Musikmarkt bestehen?
[JH]: Problematisch für den internationalen Markt ist natürlich die Gratis-Mentalität in der Sha’abi-Kultur. Die Tracks online sind nur die Flyer – Geld gibt es für die Auftritte. Wenn westliche DJs die Tracks spielen wollen, dann brauchen sie bessere Qualität als nur umgewandelten YouTube-Mp3s. Wir erklären jetzt MC Sadat z.B. wie Spotify funktioniert, damit er seine Tracks verkaufen kann. Und er seinerseits ist dabei Englisch zu lernen.
[TB]: Was wird mit Electro Sha’abi passieren, wenn jetzt noch Hunderte von Bands wie Cairo Liberation Front dazu kommen?
[JH]: Es gibt drei Szenarien: Das erste wäre, dass Electro Sha’abi zu einer individuellen, unabhängigen künstlerischen Praxis wird, die mehr ist als ein Hype. Die Musiker aus Kairo haben die Verbreitung selbst in der Hand und verdienen damit Geld. Das zweite Szenario ist, dass Electro Sha’abi in der arabischen Welt bleibt und gar nicht erst zu uns überschwappt. Und das dritte Szenario ist, dass DJs wie Diplo nach Kairo reisen, die Musik für den neusten Schrei erklären, Copyrights stehlen und damit noch reicher werden. Ich hoffe natürlich auf das erste Szenario.
Biography
Published on January 08, 2014
Last updated on August 21, 2020
Topics
About the ups and downs of cross-cultural creativity: Korean reggae, vaporwave, and the worldwide Hindu Holi festival.
How artists deal with the practice that some call «time-travel» and others «audiotopia».