Die reine Stimme von Aynur
Aynur sitzt mit ihrer Schwester Aysun und dem Übersetzer Cenk in einem Café am Taksim-Platz neben dem Atatürk-Kulturzentrum und lacht uns herzlich entgegen. Die Sängerin von ebenso schönen wie traurigen Klageliedern in kurdischer Sprache wirkt zugleich fragil und stark. Im schulterfreien, schlichten Kleid, die langen, gelockten Haare im Nacken locker zusammengebunden, strahlt ihre erdige Schönheit rein und natürlich wie ihre Stimme.
«Mein Schmerz ist der Schmerz Gottes», singt sie in «Ahmedo» und modelliert das O sekundenlang in einer Tonlage zwischen Flehen, Schreien, Klagen und Standhalten. «Ich bin eine Leidende mit tiefer Sehnsucht im Herzen», heisst es weiter in diesem anonymen Volkslied um Ehrenmord und unerfüllte Liebe aus der CD Kece Kurdan. Aynur schreibt auch selbst Texte und Musik, aber nichts komme an das musikalische Erbe der Tradition heran: «Neue Kompositionen kommen mir oft wie Kopien der Alten vor. Das inspiriert mich nicht. Lieber hebe ich die kostbaren Schätze der Tradition ans Licht», sagt sie.
In Istanbul ist Aynur zur Musikerin geworden, aber gesungen hat sie schon als kleines Mädchen in einem Dorf der anatolischen Provinz Tunceli, wo sie 1975 geboren wurde. «Ich nähre mich von meinem kulturellen Wurzeln, von meiner Herkunft aus dem Dorf», erzählt sie mitten im brodelnden Istanbul, wo sich Kulturen, Sprachen, Weltanschauungen und Musikstile aus aller Welt mit dem Ruf des Muezzins und dem Hupen der Autos zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie vermischen. Von diesem Lärm zieht sie sich hin und wieder in die Stille zurück, um kreativ tätig zu sein, denn sie weiss: «Das Durcheinander einer grossen Stadt lähmt die Seele, die Energie und den künstlerischen Schaffensprozess.»
Aynur hat nie davon geträumt, Musikerin zu werden und auf der Bühne aufzutreten, obwohl sie mit Musik aufgewachsen ist. «Singen gehörte immer zu meinem Leben, Musikerlebnisse waren in meinem Dorf Teil des Alltags», erzählt die Sängerin, die der alevitischen Glaubensgemeinschaft angehört, in der Türkei die zweitgrösste nach den sunnitischen Muslimen. Gesang und Musik sind in dieser Kultur eng mit dem Glauben verknüpft. «Wir Aleviten singen und tanzen unseren Glauben, der viel weiter zurückreicht als der Islam. Ein Sänger gilt uns als Vermittler oder Botschafter des Glaubens und hat daher einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft.» Wie im Sufismus tanzen sich auch die Aleviten in Trance, aber im Gegensatz zur introvertierten, inneren Reise des einzelnen Sufi zu Gott teilen die Aleviten ihre Gottesliebe in Ritualen mit anderen.
Anfang der achtziger Jahre, Aynur war gerade sieben Jahre alt geworden, begann das türkische Fernsehen in ihrer Region zu senden. «In diesem Moment entdeckte ich die Welt der Musik.» Aynur stammt aus einem kurdischen Dorf und ist erst in der Schule mit der türkischen Sprache in Berührung gekommen. «Bis dahin hatte ich geglaubt, alle Menschen auf der Welt seien Aleviten und Kurden, weil ich als Kind nichts anderes kannte. Und plötzlich realisierte ich, dass es eine andere Kultur als die unsere gibt, die türkische, und dass wir eine Minderheit sind.»
Nach dem Militärputsch von 1980 wurde in der Türkei ein Gesetz erlassen, das die Kultur, die Musik und die Sprache von Minderheiten unter Strafe stellte. «Wir waren alle Kurden in meiner Klasse und mussten in der Schule Türkisch sprechen. Unsere Muttersprache wurde unterdrückt. Wenn wir auch nur ein einziges kurdisches Wort äusserten, wurden wir bestraft.» Gerade diese Bedrohung ihrer Kultur hat die Identität der Kurden paradoxerweise gestärkt. «Wenn da nie eine Unterdrückung gewesen wäre», sinniert Aynur, «hätte ich meine Herkunft nach der Emigration vielleicht vergessen. Heute bin ich stolz auf meine Wurzeln, und ich versuche mit meiner Musik, meine Kultur zu repräsentieren.» Während sie dies anfangs nur im kurdischen Umfeld tat, tritt sie heute überall in der Türkei auf und ist jetzt im Begriff, zum internationalen Star zu avancieren. Sie tritt als Gastsängerin bei türkischen Worldbeat-Künstlern auf wie dem Elektronik-Flötisten Mercan Dede oder der Band Orient Expressions, in Europa beim Netherland Blazer Ensemble. Im Istanbul-Musikfilm Crossing the Bridge des türkisch-deutschen Regisseurs Fatih Akin singt sie mit ihrer Band in einem stillgelegten, türkischen Bad des 18. Jahrhunderts, das die erhabene Atmosphäre einer Kathedrale ausstrahlt.
Nach Istanbul kam Aynur zusammen mit ihren Eltern und den sechs Geschwistern 1993, als in der Provinz Tunceli eine Art Bürgerkrieg ausbrach. «Wir flohen vor der Gewalt und dem politischen Chaos und erhofften uns von Istanbul ein besseres und friedlicheres Leben», erzählt die Sängerin. Die Ankunft in der 15-Millionen-Stadt war für die damals 18-jährige überwältigend. «Ich hatte ein Gefühl, als sei ich betrunken. Bisher war Elazig die grösste Stadt, die ich kannte, aber plötzlich realisierte ich, dass Elazig gar keine Stadt war, nur Istanbul ist eine Stadt! Ich war völlig benommen vor Glück!» Die junge Frau, die immer davon geträumt hatte, eines Tages Anwältin zu werden, um ihre Leute und die kurdische Bevölkerung vor Unrecht zu beschützen, änderte im Schmelztiegel Istanbul ihre Meinung und begann mit einer Musik-Ausbildung. Sie lernte Gesang und verschiedene volkstümliche Instrumente wie die türkische Saz, ein Saiteninstrument, das der arabischen Oud gleicht. Ihre ersten Konzerte wurden manchmal von kurdenfeindlichen Zuhörern gestört. So riss ihr einmal ein Mann mitten im Konzert die Saz aus der Hand.
Heute, rund zehn Jahre später, kommt so etwas kaum noch vor. Dennoch: Kurdisch provoziert in der Türkei nach wie vor. Aynurs CD Kece Kurdan («Kurdisches Mädchen»), in der Türkei ebenso erfolgreich wie im Ausland, wurde 2005 von einem Gericht in der anatolischen Stadt Diyarbakir verboten, mit der Begründung, das Titelstück wiegle zum kurdischen Separatismus auf. «Das war ein Missverständnis», erklärt Aynur. «In diesem Song geht es um Frauenrechte. Er ist ein Aufruf an die Frauen, für ihre Rechte zu kämpfen und sich gegen die männliche Dominanz durchzusetzen. Weil ich in kurdischer Sprache sang, wurde es so aufgefasst, als hätte ich die Kurden zur Rebellion aufgerufen.» Schliesslich gelang es Aynur, das Gericht von der wirklichen Botschaft des Songs zu überzeugen, und das Verbot wurde aufgehoben.
Die kurdisch und türkisch gesungenen Texte sind wichtiger Bestandteil von Aynurs Musik, doch ein ausländisches Publikum versteht sie nicht. Die Sängerin widerspricht: «Wenn es um Emotionen geht, versteht man sich ohne eine spezifische Sprache.» Sie habe schon Leute im Publikum weinen sehen wegen eines gefühlvollen Songs, sagt sie. Und: «Es macht mich glücklich, wenn ich Menschen aus anderen Teilen der Welt mit meiner Musik berühren kann, denn letztlich sind wir doch alle gleich.» Aynur singt von Krieg und Frieden, Liebe, Verlust, Zerstörung und Schmerz. «Alles was ich empfinde und erlebe, fliesst in meine Musik ein.» Wie macht sie es nur, dass sie im Chaos Istanbuls und erst recht im globalisierten Sound der internationalen Musikwelt nicht den Boden verliert? «Es ist wichtig, andere Kulturen kennen zu lernen. Doch gerade wenn ich in den USA oder in Fernost unterwegs bin und die fremde Musik höre, sehne ich mich so stark nach den einfachen Musikformen meiner Tradition, dass ich mich dort, im Ausland, meinen eigenen Wurzeln noch stärker verbunden fühle als sonst», sagt Aynur. «Ich kehre dann mental in mein Dorf zurück.» Unterwegs ist Aynur nicht nur im Geist, sondern auch physisch. Nach unserem Interview geht sie Koffer packen. Am folgenden Tag gibt sie ein Konzert an der Ostgrenze der Türkei.
Biography
Published on January 25, 2009
Last updated on April 30, 2024
Topics
From political music in the GDR, the trouble of punk musicians in China and the dangerous life of kurdish folk singers in Turkey.
About Tunisian rappers risking their life to criticize politics and musicians affirming 21st century misery in order to push it into its dissolution.
From westernized hip hop in Bhutan to the instrumentalization of «lusofonia» by Portuguese cultural politics.