Eine Reise durch siebzig Jahre kabylische Musik in Frankreich bringt mehr als nur Hörgenuss: In der einstigen algerischen Volksmusik spiegeln sich eindrücklich Geschichte und Politik. Und auf CD-Veröffentlichungen gibt es herausragende Musikerpersönlichkeiten zu entdecken.
Volksmusik verändert sich, und sie tut dies beeinflusst von Geschichte, Politik, Medien und einzelnen Musikerpersönlichkeiten. Auf die kabylische Musik Algeriens etwa übten die Kolonialgeschichte zwischen Frankreich und Algerien und – vor allem später – die Politik Algeriens gegenüber den Imazighen, den Berbern, grossen Einfluss aus.
Blicken wir nach Frankreich, wo wichtige Künstlerpersönlichkeiten die Musik ab den dreissiger Jahren zu einer Populärmusik machten, und unterteilen wir die Geschichte in vier prägende Phasen: in die dreissiger Jahre, in denen Cheikh El-Hasnaoui die Musik cafétauglich machte; in die vierziger und fünfziger Jahre, die von Chérif Kheddam und seinen grossen Orchestern geprägt waren; in die siebziger Jahre, in denen Idir, Aït Menguellet und der 1998 ermordete Matoub Lounes für eine neue Identität der Imazighen kämpften; und in die achtziger und neunziger Jahre, in denen Musiker wie Takfarinas endgültig in der internationalen Musikindustrie Fuss fassten. Vergessen wir allerdings nicht, dass Musikgeschichte weder in Kürze noch anhand einzelner Persönlichkeiten abgehandelt werden kann, dass diese CD-Reise also nur eine von vielen möglichen ist.
Pionier Cheikh El-Hasnaoui
1932 kommt Cheikh El-Hasnaoui nach Paris und arbeitet, wie viele Kabylen, in den Fabriken Frankreichs. In seiner Heimat allerdings hat Hasnaoui bereits als Musiker gelebt – und darin unterschiedet er sich von den anderen Arbeitern. In Algier musizierte er mit arabisch-algerischen Orchestern, und natürlich weiss er auch um die Bedeutung von Musik und Tanz in seiner Heimat, der Kabylei, die sich bis heute gegen eine Arabisierung wehrt und für die offizielle Anerkennung ihrer Sprache Tamazight kämpft. Hasnaoui teilt die kabylische Vorliebe für Oboen, Doppelfell- und Rahmentrommeln, und er kennt die an Metaphern reichen Lieder, die in poetischen Bildern von Liebe, Moral und Religion erzählen.
Kaum in Frankreich, gründet Cheikh Hasnaoui mit Türken und Armeniern ein Ensemble, dessen Repertoire sich hauptsächlich auf Chàabi beschränkt, die ausgereifte urbane Populärmusik Algeriens. Auftrittsgelegenheiten findet Hasnaoui in den zahlreichen von Kabylen geführten Cafés und Kabaretts - gut die Hälfte der nordafrikanischen Einwanderer Frankreichs sind Berber und ein grosser Teil davon Kabylen. Kabylische Musik macht er mehr oder weniger nebenbei, landet aber mit «La Maison Blanche» dennoch einen ersten Klassiker kabylischer Populärmusik – zu hören auf Hasnaouis grandioser Einspielung in der Reihe «Les Grands Maîtres de la Chanson Kabyle». Grundsätzlich bleibt Hasnaoui dem Chàabi treu; meist singt er mit tiefer Stimme in Arabisch von der Nostalgie des Exils, der Armut und vom Leben der Männer in Frankreich und lässt sich von einem kleinen Ensemble begleiten.
Zu verdienen gibt es wenig für Nordafrikaner in Frankreich, das merken auch Slimane Azem, der mit seinen satirischen Fabelgeschichten zu einem der wichtigsten kabylischen Musiker überhaupt avanciert, und Allaoua Zerouki, ein weiterer wichtiger Sänger – beide Interpreten haben in derselben CD-Serie wie Cheikh Hasnaoui hervorragende Platten eingespielt.
In den vierziger Jahren ziehen die Familien der Arbeiter nach. Mit ihnen kommen neue Musiker, und in den Cafés ist nun einiges los an den Wochenenden. Die meisten Kabylen starten eine doppelte Karriere: als arabische Algerier und als kabylische Amazigh. Sie verwenden wie Hasnaoui und Azem arabische Instrumente wie Kanun, Oud, Ney und Violine, nehmen aber Kontrabass, Klarinette und Akkordeon hinzu.
Grossen Einfluss übt die ägyptisch-libanesische Filmmusik und das «wahabiyate», das «Variété» des legendären ägyptischen Komponisten und Musikers Mohamed Abdel Wahab, aus. Kabylen und Araber stellen Orchester nach ägyptischem Vorbild zusammen und arbeiten in aller Selbstverständlichkeit miteinander – das gemeinsame Ziel, die algerische Unabhängigkeit von der französischen Kolonialmacht, eint sie. Orchester werden gegründet, und mit Chérif Kheddam wächst eine neue Leaderfigur heran.
1947 kommt Kheddam nach Paris, arbeitet in einer Giesserei und leitet eine erste Revolution des kabylischen Chansons ein. Kheddam lässt sich von arabischen Musikern in deren Modi einführen, verbindet seine Musik aber gleichzeitig mit okzidentalen Strukturen und trägt sie mit Sinfonieorchestern vor – seine ausgeklügelten Synthesen von Orient und Okzident stehen im krassen Gegensatz zur vorherrschenden Meinung des arabischen Musikkongresses im Kairo der dreissiger Jahre, der für eine Konservierung und Reinhaltung der arabischen Musik einsteht.
Neue kabylische Identität
Vieles ändert sich in den siebziger Jahren. Mit dem epischen Sänger Aït Menguellet, dem militant aktiven Ferhat, mit Idir und Matoub Lounes kommen Musiker nach Paris, die alle nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 vom Präsidenten Ben Bella enttäuscht worden waren, der den Berbern den grossen Einsatz in der Unabhängigkeitsbewegung nicht dankte: «Wir sind alle Araber», verkündete der Präsident, führte Algerisch als offizielle Sprache ein, verbannte das Tamazight aus dem öffentlichen Leben und schloss Berberregionen weitgehend von der wirtschaftlichen Entwicklung aus.
Die Auswirkungen dieser Diskriminierungen auf Musiker und Musik bleiben nicht aus: Die neue kabylische Musikergeneration sucht kämpferisch nach einer eigenen Identität, nimmt sich Protestsänger wie Bob Dylan, Joan Baez, Victor Jara und Sylvio Rodriguez zum Vorbild und erhebt ihre Stimme für ihr unterdrücktes Volk. Die grossen Orchester verschwinden, arabische Instrumente werden zurückgestuft, und die Einflüsse westlicher Musikstrukturen werden ausgeprägter. «Berbermusik ist immer politisch», heisst es plötzlich.
Idirs Kritik an den Neuen
In den achtziger Jahren wird Takfarinas zur zentralen Figur der Modernisierung. Er verbindet die Musik der Imazighen mit Raï, Rock und Funk und verkauft seine Alben in Millionenauflage. Auch die Sängerin Malika Domran, die sich vehement gegen die Arabisierung wehrt, reift zu einer zentralen Persönlichkeit heran. «Ich nenne mich Freiheit und weigere mich zu gehorchen», sagt sie, die 1994 nach Frankreich flüchten und ihre Kinder in Algerien zurücklassen muss.
Schon lange verkauft die neue Generation ihre Kassetten und Compact Discs nicht mehr allein in den Immigrantenvierteln, sondern auch in den internationalen Plattenläden. Einige Chansons werden ins Arabische übersetzt, einige gar von Interpreten des Nahen Ostens aufgenommen, und auch Peter Gabriels Label Real World veröffentlicht Berbermusik. Selbst wenn die politische Musik der Imazighen seit dem internationalen Raï-Boom im Jahre 1986 einen schweren Stand hat, setzen sich immer wieder neue Talente in Szene: so etwa Djamel Allam, Amira oder die Sängerin und Komponistin Iness Mêzel. Letztere bringt die Tradition ihrer Heimat mit leichtem Jazz zusammen und schafft Songs, die so gar nicht zum Radikalismus der siebziger und achtziger Jahre passen. Idir spricht denn auch skeptisch von der neuen Generation: «Die junge Generation muss lernen, ihre Gefühle präzise auszudrücken, sonst bringt sie unsere Musik nicht voran.» Ob er Recht hat, wird sich weisen. Bis heute haben sich die kabylischen Musiker Frankreichs immer an neue Gegebenheiten anpassen können – und warum sollte das jetzt plötzlich anders sein?