Die so genannte Narco-Música berichtet über Gewalt und Drogen und schneidert den mexikanischen Mafiabossen Heldenlieder aufs Leib. Populär ist sie nicht nur unter der ländlichen Bevölkerung im Norden Mexikos, sondern auch bei den spanisch-sprachigen Migrantengemeinden in den USA. Narco Cultura des israelischen Fotojournalisten Shaul Schwarz dokumentiert schonungslos den Drogenkrieg in der mittelgrossen Stadt Juárez – und die Musik, die ihn verherrlicht.
Im Mai 2011 erklärte der Präsident des mexikanischen Staates Sinaloa dem Narco-Corrido den Krieg. Diese Musik, so hiess es, glorifiziere das organisierte Verbrechen und verleite zu Gewalt. Der Staat im Nordwesten Mexikos ist die Hochburg des mächtigsten der sechs Drogenkartelle — des Sinaloa Kartells. Die Region hat eine jahrhundertlange Geschichte der Drogenkultivierung und des Drogenhandels. Aber erst in den 1970er Jahren – angekurbelt durch die amerikanische Hippie-Bewegung – hat die ökonomisch-politische Macht und die Waffengewalt der Drogenhändler stark zugenommen. Und damit auch ihre Sichtbarkeit und ihr kultureller Einfluss. Überall dort, wo Drogenbosse ihre Partys schmeissen, mieten sie eine regionale Band, um ihre Lieblingsmusik zu spielen und die geladenen Gäste zu unterhalten. Es gibt in der Tat viele neu komponierte Lieder, die diese Gepflogenheit bestätigen, und die Musiker selbst machen kein Geheimnis aus ihren Auftritten.
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Das Verbot der Narco-Musik in Sinaloa weist auf ein komplexes Problem hin, welches Fragen über Musik und ihre Beziehung zur Gewalt und Macht, insbesondere der wirtschaftlichen Macht, aufwirft.
Mexikanische Banda in L.A.
Die Massenmigration von Billiglohn-Arbeitern von Mexiko und Zentralamerika nach Südkalifornien führte in den 1990er Jahren zu einer signifikanten kulturellen Transformation des Gastlandes. Die demografische Veränderung machte sich insbesondere im musikalischen Leben der Latino-Viertel der kalifornischen Grossstädte und ihrer Agglomerationen bemerkbar. Eine neue Generation junger Amerika-Mexikaner in Kalifornien liess sich von der «Banda Bewegung» der frühen 1990er Jahre anstecken und begann mexikanische Musik der Arbeiterklasse nicht nur zu hören und zu spielen, sondern sie als Symbol einer eigener kulturellen Identität neu zu definieren.
Im Kern dieser trendy Musik mit tiefen Wurzeln in der mexikanischen Música Ranchera (traditioneller Musik) befindet sich der Corrido, eine Balladenform, die heutzutage mit Banda (Blasmusik von Sinaloa) oder Norteño (Akkordeon Musik von Nord-Mexiko) begleitet wird und in deren Mittelpunkt der Drogenhändler steht. Diese Musik ist unter der ländlichen Bevölkerung im Norden Mexikos sehr beliebt, doch das Zentrum ihrer Produktion ist in Los Angeles. Hier werden nicht nur kommerzielle, sondern auch private Musik und Musikvideos produziert. Die Narco-Musik hat sich in den letzten Jahrzenten in ein schnell wachsendes Unternehmen verwandelt. Grosse Musikkonzerne buhlen um vielversprechende Narco-Bands und Grammy Awards erkennen sie offiziell als neue Sparte an.
Spiegel der Ungleichheiten
Wie auch die Gangster-Rap Debatte in den 1990s Jahre hat die Popularität der Narco-Musik leidenschaftliche Diskussionen ausgelöst. Viele verurteilen die Narco-Corridos wegen ihrer angeblich negativen Wirkung auf die Jugend. Andere sehen in ihnen einen Spiegel der Realität, wenn auch einer unschönen, brutalen Realität. Viele Mexikaner sind sich hingegen einig, dass die Narco-Kultur weniger Ausdruck einer abartigen Subkultur ist, als vielmehr Abbild der Korruption, die das ganze Land und die Regierung durchdringt. Ob versteckt, oder offensichtlich wie im Film von Shaul Schwarz: Gewalt durchzieht den Alltag in unterschiedlichem Ausmass.
Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind tief verwurzelt in der heutigen Gesellschaft. Oft reagieren marginalisierte Individuen auf die sozialen Formen der Gewalt mit spontanen Formen von Gewalt. In diesem Sinne vielleicht können wir die Narco-Corridos und die Narco-Musikvideos, die den Draufgänger und seine gräulich barbarischen Untaten verherrlichen, als moralisch gerechtfertigte Antwort auf institutionalisierte Formen der Gewalt verstehen. Das Schnittfeld von Musik und Gewalt löst bei denjenigen, die an das Konstruktive der Musik glauben, zwangsläufig Unwohlsein aus. Aber wer bestimmt über die ethischen Grenzen dieser Produktionen?
Zwischen zwei Welten
Die heutige Populärkultur ist in besonderem Masse von männlichen Gewaltfantasien dominiert. Diese Fantasien werden auch von jungen Latinos absorbiert. Sie pendeln zwischen zwei Welten: einer wirklichen und einer imaginären. In der einen gilt es mit einem niedrigen oder gar fehlenden Einkommen zu überleben. Die andere besteht aus den Hollywood-Bildern der Gangster- und Actionfilme. Aus beiden fabrizieren sie eine eigene Identität, die sie wiederum in den Narco-Corridos bestätigt finden.
Die Geschichten, welche die Narcos umranken, ernähren sich immer noch vom Mythos eines sich in der Sierra versteckt haltenden, geächteten Robin Hoods. In einer Tradition, in der Banditen zu Volkshelden gemacht werden, hat sich auch der Narco eine mythische Stellung ergattert. Denn er wurde durch die Populärkultur neudefiniert und durch die Massenmedien verbreitet.
Winnie Pooh ist nichts für Gangster
Mittlerweile aber distanzieren sich viele mexikanische Musikgruppen von der Narco-Kultur. Nach einer blutigen Auseinandersetzung zwischen zwei Kartellen an einem Volksfest in einem mexikanischen Dorf liess eine der bekanntesten Sinaloan Bandas verlauten, dass sie nun nur noch Corridos mit harmlosem Inhalt spielen würden: «Da aber dieses Genre, wir alle wissen, von Schlachten und Schüssen lebt, kann man eben keinen Corrido über Winnie Pooh machen», bedauerten die Musiker ihre Selbstzensur.
Das Verstummen der lokalen Musik aber ändert nichts an der ganzen Problematik des Drogen- und Waffenhandels, des organisierten Verbrechens, der Korruption und der Gewalt unter der die Menschen im mexikanischen Grenzgebiet leiden. Das Traurige ist, dass die Kinder, die diesen tagtäglichen Wahnsinn miterleben müssen, die Situation viel realistischer beurteilen als die Erwachsenen in der kalifornischen Musikindustrie, für die das horrende Unglück des Drogenkrieges nichts weiter als ein gewinnträchtiges Geschäft ist. Der Film vermittelt uns zwar diese Diskrepanz. Der eigentliche Ursprung des heutigen Drogenproblems (die stetig steigende Drogennachfrage der Amerikaner) und seine grossen Profiteure (wie zum Beispiel die amerikanischen Waffenhändler) werden aber nicht erwähnt.