Schweizer Experimente in Belgrad
Vom 11. bis zum 19. Oktober 2013 holten die Swiss Music Days Schweizer Musiker aus der Szene der experimentellen, frei improvisierten und elektroakustischen Musik in die Balkanländer – zu 26 Konzerten in Belgrad, Zagreb, Ljubljana, Novi Sad, Skopje und Tirana und acht «Improvised Encounters». Wie präsentierte sich die experimentelle Delegation musikalisch? Auf welche lokale Musikerinnen und Musiker trafen die Schweizer? Eine Norient-Reportage in Text, Bild, Video und Ton aus Belgrad.
Das Stadtviertel nahe der Brankov-Brücke ist Gentrifizierungskandidat: junge, serbische Designer stellen in alten Fabrikhallen ihre neusten Kreationen vor, trinken Latte Macciato auf der Terasse und würden sich in Berlin Kreuzberg kaum fremd fühlen. Die erste improvisierte Begegnung der Swiss Music Days findet in der schniken Galerija 12 HUB statt. Ein Ort, der zum Szenetreffpunkt für improvisierende Musiker, Multimedia-Künstler und Passionierte des Gemeinschaftsradios für experimentelle Musik No FM geworden ist.
Sonntag, 13. Oktober 2013
Vor der Fensterfront zur lauten Hauptstrasse sind nun Manja Ristic und Hans Koch einander ausgeliefert. Vom ersten Moment an entwickelt sich aus der Begegnung ein aufregender Dialog zwischen Violine und Bassklarinette in 4 Akten:
Wenn zwei Unbekannte zum Improvisieren zusammentreffen, ist es nie sicher, wie die Wellenlängen miteinander schwingen. Hans Koch und Manja Ristic entschieden, nichts zu planen, wie sie im Interview erzählt:
Nach ihrem Abschluss an der Musikhochschule in Belgrad, zog es die klassisch ausgebildete Violinistin nach London. Die Zeit auswärts prägte sie künstlerisch stark: «Ich musste in so einer grossen Stadt unsichtbar sein, um mich selbst finden zu können», sagt die Dreiundreissigjährige. Auch wenn der Kontrast zur klassischen Musik am Anfang sehr gross war, verliess sie deren engen Rahmen immer mehr und suchte Bereiche, in denen Raum für Kreativität ist. Zurück in Belgrad liess sich jedoch diese gefundene Freiheit nicht bedingungslos ausleben, denn die «Szene» für improvisierte und elektroakustische Musik war klein. Ristic raufte also diejenigen zu Projekten zusammen, die wie sie aus dem Ausland zurückgekehrt waren und gründete einen Verein für multimediale Künste.
Wenn sie nicht Filmmusik komponiert oder - zum Geldverdienen - ein Kindertheater leitet, widmet sie sich der improvisierten Musik. Nachwuchs zu ermutigen ist schwierig, denn um wirklich eine Szene etablieren zu können, fehlt es in Belgrad an Finanzierungsmöglichkeiten.
Auch wenn sie findet, dass improvisierte Musik jenseits von Grenzen passiert, spürt sie den Unterschied zu den Schweizern: «In der Schweiz ist die Szene sehr lebendig und hat sich über Jahre entwickelt. Hier gab es Brüche in der Entwicklung, wodurch mir das Niveau von musikalischer Sensibilität niedriger erscheint.»
Im Rahmen der Norient-Reihe Sonic Traces: from Switzerland spricht auch der künstlerische Leiter der Swiss Music Days Jonas Kocher über die Situation für experimentelle Musik auf dem Balkan. (Zum ganzen Artikel «Tant pis pour les Étiquettes»).
In der Galerie schweben als nächstes die Genfer Cyril Bondi und D'incise mit dem serbischen noisangehauchten Gitarristen WoO durch die Sphären:
Am Abend macht sich der Solothurner Cellist und Komponist Stefan Thut den alten Kinosaal des Rex zu eigen: mit geheimnisvoller Ruhe schiebt er zwei Pappkartons durch den Raum. Auf der einen entlockt er einer Zitter fragile Töne, die andere Kiste wird selbst zum Lautsprecher und strahlt Feldaufnahmen aus der Umgebung des Rex in ihr Inneres. Thut krämpelt damit die Raumverhältnisse um und lässt in neuen Perspektiven hören.
Vom leisen Extrem geht es im zweiten Teil ins laute Extrem: Christoph Hess alias Strotter Inst. lässt es genüsslich-grobmechanisch von seinen Plattentellern wummern. Sounds, die sich in den Körper hineingraben, sich mit dem Gefühl fürs richtige Timing verändern und dabei nie ihre Kraft verlieren. Nicht wie ein DJ, sondern eher wie ein Arzt vor seinem OP-Tisch steht Strotter Inst. im weissen Kittel hinter seinem Pult und schraubt an den Gedärmen der Sounds. Diese visuelle Erfassen der Klangerzeugung hat seine ganz eigene Faszination und Ästhetik. Was er da aber eigentlich genau gemacht hat, fragt man sich erst hinterher.
Strotter Inst. hat nicht nur die Platten so bearbeitet, dass die Klanginformationen aus den Vinylrillen mit Papier, Gummi und verschiedenen Objekten verdeckt werden. Er hat auch die Nadeln in den Tonabnehmern ausgetauscht, um so z.B. die Empfindlichkeit zu verringern. Aus der gekonnten Kombination dieser beiden Eingriffe, den Möglichkeiten, Pitch und Geschwindigkeit zu verändern und verschiedenen Effektgeräten baut sich Christoph Hess seine Soundwelt.
Montag, 14. Oktober 2013
Der Montagabend startet wieder mit einer improvisierten Begegnung zwischen Schweizer und Serbischen Musikern. Paed Conca ist weggegangen aus seiner Heimat Bern und lebt nun in Beirut, wo er u.a. im Duo mit Raed Yassin aktiv ist. Igor Cubrilovic hingegen ist wie Manja Ristic nach langer Zeit in Skandinavien und New York in seine Heimat zurückgekehrt: «Wie ein Heimkehrer fühle ich mich aber nicht. Zu stark hat sich die Stadt verändert in den letzten Jahren, zu sehr habe ich mich verändert, in den letzten Jahren». In Belgrad schiebt er nun Projekte an, wie das Kollektiv ImprovE (mehr dazu unten). Und er trat mit einer verrückten Idee an Radio Belgrad 3 heran – er will die imrpovisierte Musik auch für ein breiteres Publikum hörbar machen: 200 zwanzigminütigen Sendungen plant er.
Für die improvisierte Begegnung in der Galerija HUB hat Cubrilovic etwas mehr als 20 Minuten. Er hat extra ein Glöcken mitgebracht, das nach Alpen klingen soll. Zu Concas Klarinettenserpentinen durch den Raum bearbeitet er seine mitgenommene E-Gitarre. Auch die Hauptstrasse darf sich durch die offenen Türen einmischen. Und die Tür wiederum bekommt in der Performance ihre quitschenden Angeln geölt.
Strotter Inst. geht heute vorsichtiger an seine manipulierten Plattenspieler und Igor Stangliczky funkt elektronisch-verspielt mit Mikrosamples von Schlagzeugtönen dazwischen:
Im Rex bleibt es elektronisch, ganz anders aber als eine improvisierte Begegnung sind Jonas Kocher und Gaudenz Badrutt – sie sind ein eingespieltes Team. Präzise aufeinander abgestimmt sind auch die Klänge, die Kocher seinem Akkordeon entlockt und die filigrane Elektronik von Badrutt. Gemeinsam halten die beiden die Spannung über die ganze Improvisation, ziehen ihre farbigen Töne konsequent bis an das dichte Ende:
Porta Chiusa besteht aus den Klarinettisten Hans Koch, Michael Thieke und Paed Conca. Durch zwei Filme und dem Text «Forteressensiemangerneles» von Heike Fiedler wird das Trio multimedial. Der erste Film, ein Video von Giovanni Di Stefano lässt einen Künstler, dem die Augen verbunden sind, mit schwarzer Ölkreide eine Tür ausmalen - ein ästhetisch faszinierender Prozess voller Deutungsvielfalt.
Welche Message dahinter steckt, offenbart erst der darauffolgende Film von Giorgio Andreoli. Darin wird ein Asylsuchender - von dem man nur die Hände sieht - vom Zürcher Flughafen abtransportiert. Diese Bilder sind so stark, dass sie gemeinsam mit der Musik ein Gefühl von Beklemmung auslösen. Genau die Beklemmung, welcher der Asylsuchende dort ausgeliefert ist, wo er sich Freiheit erhoffte. Das System entscheidet über die Wertigkeit eines Menschen und teilt ihm einen gewissen Grad von Freiheit zu.
Das Abweichen von der Norm, Gefangen-sein und der Wunsch nach Ausbruch stecken auch in der Musik: in Zeitlupe schleppen sich zähflüssige Töne um einen Mittelton. Mit den mikrotonalen Abweichungen voneinander und Sekundreibungen erzeugen sie gemeinsam mit den projizierten Bildern musikalische Schwerkraft. Sie setzen so den Hörer selbst in einen kleinen engen Raum mit geschlossener Tür. Porta Chiusa ist die politischste Performance an den Swiss Music Days. In einem Kontext wie Belgrad, krallt sie sich unweigerlich ihre eigene Aussage: Wie erging es Migrantinnen und Migranten aus Jugoslavien und Albanien, als sie in die Schweiz gekommen sind?
Mehr über Paed Conca im Norient-Artikel «An infinitely crazy world» von Thomas Burkhalter.
Dienstag, 15. Oktober 2013
Die Improvised Encounters werden zum täglichen Ritual während des Sonnenuntergangs. Auch heute wird Elektronik mit «analogen» Instrumenten kombiniert:
Improvised Encounter pt.3: Gaudenz Badrutt & Dusan Damnjanovic, Ausschnitt vom Ende der Improvisation:
Improvised Encounter pt.3: Jonas Kocher und Lukatoyboy, Ausschnitt:
Serbien und die Schweiz begegnen sich heute auch im Rex. Denn es ist der 15. im Monat. Seit Dezember 2012 veranstaltet das Kollektiv ImprovE (Milana Zaric, Svetlana Maras, WoO, Igor Stangliczky, Lukatoyboy, Igor Cubrilovic) ein Konzert im Feld der Neuen Musik, experimentellen Musik, elektroakustischer Komposition und Sound Art. Es lädt Gäste aus ganz Serbien ein und organisiert Soundwalks. Mittlerweile haben die Abende ein festes Stammpublikum, aber keinen festen Ort. Im Gegensatz zum Kollektiv, dass sich in der Galerija 12 HUB zusammenfindet, wollen sie eine Institutionalisierung vermeiden und «offen» bleiben.
Im Rahmen von ImprovE fand auch am Wochende zuvor ein Workshop statt, den das Genfer Duo Diatribes mit neun Musikerinnen und Musikern aus Belgrad und Novi Sad durchgeführt hat. Ganz unterschiedliche musikalische Hintergründe kamen da zusammen. Erklärtes Ziel von Cyrill Bondi und D'Incise war es, auf Augenhöhe und mit sozialem Gespür füreinander zu improvisieren – und damit festgefahrenene, vertraute Hierarchien eines Orchesters oder einer Band aufzulösen. Hierarchien zeigen sich dann, wenn ein Instrument besonders in den Vordergrund tritt. Daher gab es auch in der Abschlussimprovisation im Rex keine Soli zu hören, sondern nur eine zurückhaltende, klangorientierte Soundfläche. Diese allerdings hätte die eine oder andere Brechung doch ganz gut vertragen.
Mit ihrer Lautpoesie-Performance tanzen die Genfer Vincent Barras und der improvisationserfahrene Pianist Jacques Demierre erfrischend aus der Reihe und führen die Stimme als Instrument in die Swiss Music Days ein: es sind Texte ausgestorbener Sprachen, die in einer Partitur polyrhythmisch und nach ihren lautlichen Kriterien arrangiert sind und differenziert von den Kehlköpfen, Stimmbändern und Mündern der beiden Herren geformt werden. Dabei soll die semantische aber nicht hinter der lautlichen Bedeutung zurücktreten. Wie hier im Duetto:
Mittwoch, 16. Oktober 2013
Improvised Encounter pt.4: Michael Thieke, Svetlana Maras und Biliana Voutchkova, Ausschnitt vom Anfang der Improvisation:
Zur improvisierten Begegnung - ein Sieden mit kleinen Eruptionen – treffen sich heute der Porta-Chiusa-Klarinettist Michael Thieke, die in Berlin lebende bulgarische Geigerin Biliana Voutchkova und die Elektronikerin Svetlana Maras aus Belgrad. Auch Svetlana, die Jüngste im Kollektiv ImprovE, gehört zu den Heimkehrern: nach fünf Jahren Studium in Belgrad bekam sie Fernweh: «Und ich habe gemerkt, dass mein Kompositionsstudium international nicht viel wert war. Zudem gab es damals keine Szene für elektronische Musik, an die ich hätte andocken können.» Mit einem Stipendium vom Serbischen Staat ging sie nach Helsinki und machte dort einen Master in Sound Art & Media Studies, blieb als Assistentin an der Uni. Mit der finnischen Mentalität wurde sie nicht so recht warm und kehrte nach Belgrad zurück. Leben kann sie von ihrer Musik aber vor allem durch ihre Engagements in Westeuropa.
Im letzten «Improvised Encounter» treffen drei gestandene Persönlichkeiten aufeinander: das Duo Blank Disc / Srdan Muc und Robert Roža) und Jacques Demierre, der sich auf dem Klavier austobt:
Improvised Encounter pt.4: Blank Disc und Jacques Demierre, Ausschnitt vom Anfang der Improvisation:
Zwischen dem heutigen Improvised Encouter und der eigenwilligen Basler Jazzpianistin Vera Kappeler liegen stilistische Welten. In ihrem Solo-Programm improvisiert sie über Lieder von Paul Burkhard, u.a. das ohrwurmige «Oh mein Papa». Das Konzert findet im legendären Studio 6 vom Staatsradio Radio Beograd statt und wird live im Radio und im Digitalfernesehen übertragen. Das alldonnerstagliche Fenster für Neue Musik und experimentelle Musik wurde vom Radio ins Leben gerufen. Seit auch das Fernsehen aufgesprungen ist, fallen die Programmentscheidungen weniger radikal aus. Das Fernsehstudio katapultiert einen mit der Zeitmaschine zurück in die Siebziger:
Donnerstag, 17. Oktober 2013
Am Donnerstag pausieren die Swiss Music Days: denn Hinz und Kunz geht ins Beogradsko dramsko pozorište zu Heiner Goebbels szenischem Konzert «Songs of Wars I have seen». Es findet im Rahmen der Belgrade Music Week BEMUS statt. Im Ensemble Studio 6 spielen Musikerinnen und Musiker, die auch zu ImprovE gehören und mit der experimentellen Szene verbunden sind. Neue Musik in Belgrad scheint überschaubar zu sein...
Freitag, 18. Oktober 2013
Im Jugendclub Dom Omladine gibt es ein PA, das wummern kann. Und das braucht es auch für Norbert Möslang aus St. Gallen, denn wenn seine Sounds nicht im Körper vibrieren, würde was fehlen. In seiner Performance herrscht er über jede Biegung der Licht- und Schallwellen: geisterhaft verschwindet er im halbdunkel hinter seinem Pult und sendet eine Lawine von sich überlagernden Sounds und kleinen Lichtblitzen - die Bildlichkeit und Kraft ist überwältigend.
Im zweiten Teil jazzrocken das Lucien Dubuis Trio (Lionel Friedli, Lucien Dubuis und Roman Nowka) im inspirierten Trialog.
Das ganze Konzert wurde vom eifrigen YouTube-Fütterer und Jazzblogger Mehmet Krljic gefilmt:
Freitag, 18. Oktober 2013
Samstag, 19. Oktober 2013
Das Imperial Tiger Orchestra aus Genf spielt äthiopische Musik aus den Siebzigern. Sie versuchen sie so akkurat wie möglich nachzuspielen. Woher kommt diese Faszination? Raphaël Anker und Cyril Moulas sind kritisch gegenüber Fusion-Sound, wie sie 2012 im Rahmen von Sonic Traces: From Switzerland sagen:
Die Autorin Theresa Beyer war auf Einladung der Swiss Music Days in Belgrad. Norient ist Medienpartner des Festivals. Copyright information: With full credits, all the photos and medias are creative commons.
Biography
Published on October 15, 2013
Last updated on April 30, 2024
Topics
Music and art that dealing with the unfinished and undefined.
Place remains important. Either for traditional minorities such as the Chinese Lisu or hyper-connected techno producers.
Does a crematorium really have worst sounds in the world? Is there a sound free of any symbolic meaning?