In Balkan Melodie macht sich Stefan Schwietert auf die Spuren osteuropäischer Weltmusikstars der 1970er- und 1980er-Jahre. Der Film zeigt, wie Volksmusik gespielt wird. Aber noch mehr, wie sie vereinnahmt, vermarktet und verworfen wird.
Ein altes Bäuerchen feuert den Holzofen ein, denn es ist jemand gekommen. Der Musiker Ioan Pop ist über die vom Regen weiche Strasse auf den Hof gestapft und hat gerufen: «Trinken wir aus Angst ein Glas?» Das Bäuerchen greift zweimal auf den Schaft und schenkt den Schnaps ein, und dann beginnen die Männer zu singen. Eine rohe Melodie aus Maramuresch, am Nordrand von Rumänien. Es ist, als wohne man einer volksmusikalischen Urszene bei.
So lange jedenfalls, wie man die Untertitel ignoriert. «Die Zentrale hat unsern Weizen gestohlen», heisst es da: «Das Kollektiv hat unser Stroh gestohlen / Jetzt haben wir nur noch unsere Eier / Meine Mutter sagte: Mit drei Promille kann mein Mann nicht mehr / Gefickt sei die Mutter des Kollektivs!» Es ist also keineswegs ein altes Liedgut, das hier auf die Kinoleinwand kommt, sondern hochprozentiger Spott auf die Kommunisten. Gereimt von einem alten Bauern, der unter Nicolae Ceausescu jahrelang im Gefängnis sass, weil er sich gegen die Enteignung seines Hofes wehrte.
Mit den Folkloristen auf der Autobahn
Und mitgesungen von Ioan Pop, der während der Diktatur auf einem nahen Metallkombinat als Volksmusiker angestellt war. Da trug er Tracht und besang die Kraft und die Moral der 10'000 Arbeiter, jedenfalls bis zu dem Tag im Dezember 1989, an dem Ceausescu hingerichtet wurde. Ein paar Jahre später gründete er seine Grupul Iza, um, wie er erzählt, die authentische Musik der Zigeuner wieder zu spielen, die unter den Kommunisten verpönt war. Es ist eine der ergreifendsten Szenen in Balkan Melodie: wie die vier Musiker vor den Toren des alten, längst privatisierten Kombinats aufspielen, nachdem der Portier sie nicht eingelassen hat.
Und die Szene ist typisch dafür, wie Stefan Schwietert in seinen Filmen über die Volksmusik erzählt. Anders als viele seiner Schweizer Berufskollegen warf der 51-jährige Basler schon in «Accordion Tribe» (2004) oder «Heimatklänge» (2007) keine staunenden Blicke auf die Überreste eines bäuerlichen Erbes. Seine Kamera schweift lieber über Fabrikareale, fährt mit den Folkloristen auf Autobahnen und blickt in Übungskeller und Umkleidekabinen. Die Volksmusik, der Schwietert nachspürt, spielt auf gesellschaftlichen und historischen Bruchstellen, sie wird vereinnahmt, vermarktet, umgekrempelt, verworfen – und irgendwann neu entdeckt.
Keine Reise zu den Wurzeln
Er zeigt damit eine einfache, aber oft vergessene Wahrheit: Die Volksmusik hat keinen authentischen Kern, der hinter den sieben Bergen in sich ruht. Ihre Stile und Traditionen sind wie Flugsand, der sich vermischt, ablagert und verdichtet – nur, um schon bald an den Schuhen der Musikanten fort- und weitergetragen zu werden. Diese reden und denken auch in Balkan Melodie ganz unterschiedlich über ihr Erbe und ihre Kunst; und die Musik, die sie spielen, ist oft grossartig, oft aber auch banal oder schrecklich. Aber eines haben sie gemeinsam: Sie reisen in Autos, Cars und Flugzeugen durch die Welt, um ihre Musik bekannt zu machen und mit ihr den Lebensunterhalt zu verdienen.
Wer also erwartet, in Balkan Melodie der urchigen Musik der osteuropäischen Zigeuner zu begegnen, wird enttäuscht. Der Film ist keine Reise zu den Wurzeln – oder zur «Urmusig», wie der Film hiess, der 1993 der urbanen Schweiz mit wildschönem Alpsegen und Jodelgesang ein volksmusikalisches Erweckungserlebnis bescherte. Wie dessen Regisseur, der Luzerner Cyrill Schläpfer, in einem Interview einräumte, habe er in «Urmusig» ja auch nur eine Sehnsucht verfilmt – seine eigene.
Der dramaturgische Atem geht kurz
Nun, auch Balkan Melodie beginnt mit einer solchen Sehnsucht. Mit dem Fernweh nämlich von Marcel Cellier aus Lutry bei Lausanne, der ab 1950 mit seiner späteren Ehefrau Catherine regelmässig nach Osteuropa reiste. Zum einen, um Geschäfte zu machen – er arbeitete als Einkäufer für eine Schweizer Metallfirma. Und zum anderen, um die Volksmusik aufzunehmen, die er auf Radio Skopje, Radio Sofia und Radio Bukarest gehört hatte und die ihm so schön fremd vorgekommen war. Marcel Cellier verkaufte Millionen von Platten, und er war der erste Schweizer, der einen Grammy gewann. Er machte im Westen nicht nur Gheorghe Zamfir bekannt, den virtuosen Panflötenspieler aus Bukarest, sondern auch die staatlichen bulgarischen Frauenchöre. (Lesetipp: Porträt von Marcel Cellier - PDF)
Ihre Aufnahmen vermarktete Cellier ab 1975 als «Le Mystère des Voix Bulgares», um sie später an Universal und Warner zu verkaufen. Die Unterhaltungsmultis machten die Bulgarinnen zu einem der erfolgreichsten Produkte der sogenannten Weltmusik. Es ist einerseits die Schwäche des Films, dass er die Celliers und damit seine Hauptfiguren bald aus den Augen verliert. Der dramaturgische Atem geht kurz, der Film bleibt episodisch.
Bulgarisches Regime bewies kulturelle Potenz
Es ist andererseits aber ganz gut, dass die Kamera bald ablässt vom Sammler, der in Lutry entrückt seinen alten Spulentonbändern lauscht. Denn die Perspektive des exotisch angefassten Westlers auf die Musik des Balkans ist nur eine – und nicht die ergiebigste – in diesem Film. So ist zu sehen, wie das bulgarische Regime an den Chören seine kulturelle Potenz bewies: Es castete in den Dörfern die besten Sängerinnen und liess einheimische Komponisten auf der Basis alter Chorsätze eine neue Musik schreiben. Das «Mysterium der bulgarischen Stimmen» ist ein Kunstprodukt aus Archaik und Avantgarde, in Tracht gesteckt und auf Propagandatour geschickt.
Aber schon die westlichen Späthippies der 70er-Jahre sahen in den Bulgarinnen die Zeuginnen jenes «reinen», «archaischen» Kulturguts, als das es später weltweit vermarktet wurde. Sie kauften die Platten von Gheorghe Zamfir und sahen im Fernsehen, wie er mit seiner Panflöte ein Schäferidyll besummte. Im Westen war man also just von der Repräsentationsfolklore besonders ergriffen, mit der die Diktatoren im Osten die Musiker in staatliche Ensembles einbanden: «Um zu verhindern», so Ioan Pop, «dass wir uns zu Hause treffen.»
Die Politik übernimmt
Volksmusik ist fast beliebig auslegbar, und das gleiche Lied kann für zwei Menschen – oder zwei Parteien oder zwei Generationen – zwei völlig unterschiedliche Dinge bedeuten; je nachdem, in welche «Tradition» man es stellt. Zwei Dinge machen die Volksmusik zu einer Projektionsfläche für kollektive Sehnsüchte und damit zu einem tollen Tool für die Politik: Sie wurzelt tatsächlich im Alltag des «Volks»; und sie weist in eine Vergangenheit zurück, die nicht klar ist, sondern diffus. So lässt sich – zum Beispiel – der migrantische Ursprung fast aller Volksmusik, die heute noch gespielt wird, locker übersehen.
Die Diktatoren des alten Ostblocks sind nicht die Einzigen, die das begriffen haben. Gheorghe Zamfir glaubt noch heute, an der rumänischen Folklore, wie sie ihm die Kommunisten beibrachten, werde eines schönen Tages die Welt genesen. Sein Auftritt in Balkan Melodie erinnert aber auch an das Pathos, mit dem sich die linke amerikanische Folkbewegung ab 1950 an die Welt wandte, etwa im Editorial der ersten Ausgabe von «Sing Out!»: «Wie jede Volksmusik hat Folk mit den Hoffnungen und Ängsten und dem Leben der gewöhnlichen Leute zu tun», hiess es in der Folkzeitschrift, in der später auch Bob Dylan seine ersten Lieder publizierte: «An einer Sache werden wir sie vor allem messen: Wie gut dient sie der gemeinsamen Sache der Menschheit?»
Wenn Volksmusik das «Leben» aber nicht nur vertont, sondern wenn sie die «gewöhnlichen Leute» auch lehrt und anleitet: Dann wird sie zu einem geschlossenen System, in dem es richtige und falsche Inhalte und Spielarten gibt. Der US-Folk der 50er-Jahre ist dafür ebenso ein Beispiel wie die kommunistische Hochleistungsfolklore. Aber auch in der Schweiz wurde die Volkskultur gezielt eingesetzt. Peter von Matt schreibt in «Das Kalb vor der Gotthardpost»: «Als der Tourismus aufkam, wurde es wirtschaftlich einträglich, den Europäern ein Volk vorzuspielen, das unter Gletschern wohnt, niemanden stört, nicht gestört werden will und beim Melken seiner Kühe leise vor sich hinjodelt.»
Die globalisierte Folklore
Das ist richtig. Nur, dass die Schweizer begannen, dieses Bergvolk auch sich selber vorzuspielen. Im 19. Jahrhundert wurde über den Resten einer Hirten- eine Volkskultur erfunden, welche die junge Nation versöhnen und verklammern sollte. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren Ländlermusik, Fahnenschwingen und Jodlerei genau jene «Staatskultur», die nicht nur den Tourismus beförderte, sondern auch den Zusammenhalt eines Volkes, das in der Industrie und der Agglomeration auseinanderstrebte. Dies hat die SVP aber vergessen, wenn sie in ihrem aktuellen Parteiprogramm «weniger Staats-» und «mehr Volkskultur» anmahnt.
Bloss, dass ein Schwing- und Älplerfest ein «helvetischer Kraftort» sei, wie die «Weltwoche» vor zwei Jahren schrieb, ein «Bekenntnis, den Sonderfall zu wahren und zu verteidigen»: Daran glaubt heute wohl nicht einmal mehr die nationalkonservative Politik. Vielmehr erleben wir seit ein paar Jahren – am Schwingfest wie in den Liedern von Bligg –, wie die nationalen Symbole für den globalen Siegeszug der Spass- und Eventkultur flott gemacht werden. In der Schweiz wie im Balkan: In der letzten Episode seines Films begleitet Stefan Schwietert die Mahala Rai Banda des Rumänen Aurelio Ionita, die mit ihrem Gypsypop auf Rock- und Funkbasis die Weltmusikfestivals bedient. Der Sound ist fulminant, aber es gibt diese ethnisch aufgeschminkte Partymusik so oder ähnlich in jedem Land der Welt. Berührender als die Musik, weil unberechenbarer, ist Aurelio Ionitas Nostalgie. Sie ereilt ihn, wenn er sich über den Laptop beugt und die Folkorchester spielen sieht, die er aus seiner Kindheit im Kommunismus kennt.