Letzter Teil der Serie Sonische Symptome. Diesmal: Über die sonische Erforschung von Utopien. Oder: Tanz die Rhythmaschine! Während es die letzten Male um ein akustisches Andocken an die Gehirnströme ging, materialisieren sich die sonischen Abenteuer der Beat Science im vegetativen Nervensystem.
To make noise, beat the drum to have arguments. (Marcus Garvey)
Beat als Herzschlag ist die erste Erfahrung im Leben, Beat Science leitet die bewusst herbeigeführte Illogik gesellschaftlicher Systeme ein, wirkt als Befreiungsschlag gegen die Ausbremser des tradierten Raum-Zeit-Kontinuums, ist eine Reise in maritime und kosmische Untiefen. Beat Science kündet von der Lehre der falschen Anschlüssen und den dahinter fröhlich wuchernden Experimenten, deren Theorie in Gedankenzeit entsteht. Sun Ra nannte es «Mythowissenschaft» beziehungsweise «Mathemagic», ein Diskurs, der die futuristischen Funksignale aus einer vergessenen Zukunft zu einem semantischen Reglement destilliert: Das Vinyl gerinnt zum Kommunikationsträger zwischen der Alien Music der Beat-Wissenschafter und unseren Ohren.
Klar, ohne Kodwo Eshuns More Brilliant Than the Sun, Tricia Roses Black Noise oder Paul Gilroys Black Atlantic würden wir viele dieser Botschaften nach wie vor nur schwer decodieren können. Der in diesen Gedankenexperimenten eingefangene Noise manifestiert sich in einer radikalen Abwendung von sozioakustischen Konventionen: Die Plattennadel taucht in den schwarzen Ozean des Vinyls und mutiert zu einem Sonar, das zukünftige Musiken einfängt. Das Wurmloch in andere Praxen der Wahrnehmung liegt direkt vor uns: Sonische Symptome IV macht sich auf den Sprung durch diesen konzentrischen Spiegel.
In Beatopia
Die Suche nach dem Beat ist die sukzessive Annäherung an die Utopie, Beat verdichtet sich via Schallologie zu einer kodifizierten Semantik über utopische Sprach- und Körpersysteme. Transatlantische Diaspora-, Befreiungs- und Kolonisierungsmythen spielen dabei eine genauso wichtige Rolle wie die technische Extension des Körpers in die Maschine. Derartige Mythen reflektieren ein Versprechen auf einen technogesellschaftlichen Idealzustand, in dem Musik a priori futuristisch und Vergangenheit nur noch als akustisch wahrnehmbare soziale Grösse gedacht werden können. Genau deswegen bekommt man es dabei mit hochkomplexen Referenzen zu tun, die vom alttestamentarischen Auszug aus Ägypten über die «Back to Africa»-Bewegung von Marcus Garvey in den späten 1920er Jahren und dem Rastafari-Kult um Haile Selassie bis zu Sun Ras Jazz-Klassiker «Space is the Place» (1973, Blue Thumb) reichen.
Rhythmus wird als Kommunikationswerkzeug aufgefasst, als Sprache ohne Schrift, als Himmelsleiter, als universal language, als Hieroglyphen: «Die bemerkenswerte Entwicklung der rhythmischen Qualitäten in der afrikanischen Musik kann vielleicht darauf zurückgeführt werden, dass die Afrikaner Trommeln zur Übermittlung von Nachrichten benutzten; und sie benutzten die Trommeln nicht nur, wie man einst glaubte, wie ‹primitive› Morsecodes, sondern für die phonetische Wiedergabe der Wörter selbst. (…) Das komplizierte, harmonische System, das seine Anwendung bei Trommeln oder anderen Schlaginstrumenten unterschiedlichen Timbres zur Erzeugung harmonischer Kontraste fand, war nicht unmittelbar für das Ohr des Abendländers erkennbar und ebenso schwer war es für Abendländer, die an weniger subtile musikalische Mittel gewöhnt waren, die Verwendung zweier oder dreier rhythmischer Muster zur Untermalung derselben Melodie zu erkennen.» (Amiri Baraka aka Le Roi Jones: Blues People, 1963, S. 40f). Der Beat komprimiert die babylonische Sprachverwirrung zu einem egalitären Audiophänomen: one nation under a groove. Wenig Wunder also, dass in Sun Ras Arkestra alle Musiker neben ihren eigenen Instrumenten auch an den Drums fit zu sein hatten.
Der NY-HipHopper und Graffitikünstler Rammellzee rüstet Wörter und das Alphabet zu Schrapnellen auf, «Bi-Conicals of the Rammellzee» (2004, Gomma) entwirft eine abstrakte Anderswelt, die Beats, Comic, Cut-Ups und Consiousness wild durcheinander wirbelt. In Rammellzees Kosmos, dem «Gothic Futurism», gehen semantische Codes und Mythophysik eine kryptogrammatische Beziehung ein, Beat und Buchstabe verschlucken sich gegenseitig. Rammellzee, der Wissenschafter im Auftrag der Zeichen: Sein Esoterrorismus durchpflügt die Gutenberg-Galaxis auf der Suche nach dem Destillat des Beats.
Utopia, at Last
Utopien begleiten die Literatur seit jeher, Platons Atlantis-Entwürfe spiegeln sich in Neu-Atlantis (1627) von Francis Bacon und in Jules Vernes 20.000 Meilen unter dem Meer (1870) und reichen bis zu Scientific-Fiction-Werken wie Alvin Tofflers The Third Wave (1980). Letzteres jenes Buch, das eines der theoretischen Fundamente des Detroit Techno darstellt. Von Comics gar nicht zu reden.
In Neu-Atlantis lokalisiert Bacon die utopische Insel zwischen Süd-Pazifik und Marianengraben. Bensalem wird von einem gut durchorganisierten Geheimbund regiert, der sich der Wissenschaftlichkeit für jedermann verschrieben hat und diese in bestimmten «Häusern» (Instituten) lehrt. So gibt es dort auch Häuser für Akustik, «in denen wir Töne und ihre Entstehung erforschen und vorführen. Unseren Musikinstrumenten, die ihr noch nicht kennt, entlocken wir Melodien von höchstem Wohlklang, die euch unbekannt sind. Unsere Töne umfassen die tiefen und hohen Lagen in jeder Lautstärke. Wir können den Schall zu Echo machen, wobei aber die Töne nicht nur wiederholt zurückgeworfen, sondern auch nach Belieben verstärkt oder geschwächt werden und wir sind in der Lage, Töne auf weite Entfernungen weiterzuleiten.» Sonische Fiktion vor rund 380 Jahren ...
Zeit-Technologien
Rhythmus organisiert Zeit. Die Reggae-/Dub-Scientists King Tubby (der «Godfather of Dub»), Lee «Scratch» Perry, Augustus Pablo und U-Roy, aber auch Adrian Sheerwood und Kevin Martin funktionieren ihre Studios zu Echokammern um, indem sie mit ihren Mischpulten das Raum-Zeit-Kontinuum sezieren und mit Zeit das machen, was Eshun «die Ohren hinters Licht führen» nennt. Indem Dub Reggae, eine ursprünglich nur bei rituellen Anlässen intonierte Musik der Rastas auf den Antillen, elektronifiziert, wird der ins Endlose schlingernde Space zusammen mit tiefgelegten Bässen zu einem zeitverzögerten Koordinatensystem des Körpers. Dub betreibt die Verlängerung des Körpers in das Mischpult und der Beat nähert sich dem Herzrhythmus an, während Stereoeffekte und Soundmanipulationen die akustische Orientierung dezentrieren, den Körper ständig verwirren und neu organisieren.
Auch wenn sich der Körper schon stotternd und unbeholfen mit bis dato bekannten und erlernten Verrenkungen zu «neuen Beats» bewegt, gelingt die Transformation erst, wenn im vermeintlich rhythmischen Chaos die Frage «Zu was bewege ich mich?» - Hi-Hat, Snare, Bassdrum, BASS? - zu beantworten ist. Seit Jungle, Digi-R'n'B und aktuell bei Dubstep eine ewige Diskrepanz zwischen Arsch und Hirn. Tanzmusiken als Denkmusiken eben. Weil primär auf Verfremdung basierend, lässt sich die extrem offene Methode Dub mit einer Vielzahl anderer afroamerikanischer, arabischer und asiatischer Beat-Systeme kreuzen. Bands wie African Head Charge, Suns of Arqa oder Badawi künden von der rituellen Versöhnung zwischen Mensch und Maschine in einer hyperverkörperlichten Zukunft.
Dabei darf man keinesfalls auf jene Revolutionen vergessen, die sich in den letzten Jahren im Hi-End-Pop-Business abspielen. Timbaland, Pharrell Williams, Busta Rhymes, Outkast: Ihr digitaler R'n'B hängt den Techno-Dancefloor um Lichtjahre ab. Hier ist die Utopie nicht nur bereits im Pop angekommen, sondern verortet ihn als logische Konsequenz in einer technosozialen Simulation des Selbst. Mercedes Bunz dazu im von Jochen Bonz 2001 herausgegebenen Sammelband Sound Signatures: «Das von Missy Elliot entworfene Künstlerbild rekurriert nicht auf ein authentisches Individuum, sondern auf einen Effekt der Technologie.»
Kolonisierung des Metaraums: Drexciya
Die LP «Grava4» (2003, Clone) von Drexciya kommt als ein sonisches Monster daher. Nachdem die beiden Detroiter mehr als zehn Jahre an ihrer Unterwasser-Techno-Forschungsstation Drexciya gebaut hatten, verwandelt sich ihre Musik nun zu einem Raumschiff mit Destination Planet Drexciya. Plattenuntertitel: «Earth finally has discovered Utopia».
Die Abschussrampe für «Grava4» befindet sich entlang der Kontinentalplatte unter dem Bermuda-Dreieck. Gleich zu Beginn lauert eine akusmatische Sprengfalle: Bei «Cascading Celestial Giants» kann man den Trommler, der unter Deck des intergalaktischen Sklavenraumschiffs den Rudertakt schlägt, förmlich angreifen. Im weiteren Verlauf der Platte beschwören die extrem trockenen Beats einmal mehr den Maschinen-Funk in seiner reinsten Form. Mit «Harnessed the Storm» (2002, Tresor) oder «The Quest» (1997, Submerge) tauchen Drexciya tief ins Meer ab und machen aus Detroit eine «Bubble Metropolis», auf «Neptune's Lair» (1999, Tresor) wird Atlantis, in der altgriechischen Überlieferung «Poseidons Sitz», akustisch kartografiert; Gilroys Black Atlantic zum Nachhören. Ihre analog produzierten Tracks rütteln an der Steinzeit von Techno, die Industrial-geerdeten Sounds erweitern den klassischen Motown-Soul um eine retrofuturistische Dimension.
Ringe des Saturn: Sun Ra/X-102/UR
1969 veröffentlicht Sun Ra auf seinem Label Saturn Rec. die Platte «Atlantis». Der Übervater des elektronischen Musikzeitalters legt damit jene Fährte, die vom «lost continent» direkt ins All führt und dort auf «The Rings of Saturn» (1992) des UR-Projekts X-102 (UR-Gründer Mike Bangs/Jeff Mills plus Robert Hood) trifft.
Hier wird eine Futurhythmaschine zusammengefügt, die die Space-Sounds zwischen Sun Ra, Herbie Hancock und Funkadelic/ Parliament für die heraufziehende Technoepoche kompatibel macht. Die Tracks sind wie die Saturn-Ringe in das Vinyl geritzt, enden in Loops, zwischen ihnen gibt es nur blankes Vinyl (das Nichts). Wird die Nadel von einem zum anderen Track verschoben, gilt es erneut aufzupassen: In den Zwischenräumen lauern heimtückische Loops, die, gegeneinander geschnitten, nur all zu gerne Gefangene machen. Eine allumfassende Materialität aus Sound, Science und Vinyl, die zur Bedienungsanleitung für sonische Weltraumreisen wird.
«Interstellar Fugitives: Destruction of Order» (2006) stellt ein Update der Underground-Resistance-Labelcompilation von 1998 dar. UR wirbelt in den Worten des Poeten Atlantis das Konzept von positiver Ordnung und negativem Chaos durcheinander: «A new chaos is coming, threatening past, prestent and future. A future that does not include four fifths of the world's population must be destroyed. Welcome to the destruction of order». Dabei territorialisiert UR genau jene Kampfzonen, die sich zwischen sozialem Engagement, künstlerischem Überlebenskampf und harschen Electro-/Technoexperimenten manifestieren. Mit jeder Menge referenziellem Rüstzeug zur musikalischen und intellektuellen afroamerikanischer Kultur ausgestattet, funkt UR als Kanalisierungsstrategie dieses Wissen in 33RpM-Geschwindigkeit von interstellaren und maritimen Orten in den Club.