Der Begriff Othering (oder VerAnderung) beschreibt den kulturellen Mechanismus, sich selbst aufzuwerten, indem man sich durch die Betonung von Unterschieden von Anderen distanziert und sie als «fremd» klassifiziert. Im vierten Teil des Norient Dossiers «Popular Orientalism(s)» weist der Kulturwissenschaftler und Ethnologe Jochen Bonz anhand von Edgar W. Saids Autobiografie Out of Place nach, wie das Othering-Konzept in dessen Lebensgeschichte angelegt ist. Der Artikel basiert auf einem Beitrag Bonz' am Institut für Musik und Musikwissenschaft der Universität Hildesheim als Teil des im November 2013 veranstalteten Symposiums «Popular Orientalism(s)».
Edward Saids Hauptwerk Orientalism (1978) leistet eine frühe und bestechende Darstellung einer heute als «Othering» geläufigen und omnipräsenten Logik der Identitätskonstruktion. Das Othering stellt bei Said den Effekt eines mit Foucault als Diskurs bezeichneten Wissensregimes dar, das die Anderen im Verhältnis zu einem gefühlten Eigenen mittels Grenzziehung und Verwerfung produziert; es stellt eine Zuschreibungsgeste dar, welche das Eigene, die «Identität» bestätigt respektive konstituiert.
Die Logik dieses Mechanismus’ impliziert die Unterwerfung und darüber hinaus die Entwertung des «Anderen». Während Orientalism die Konzeptualisierung des Orients, seinen wissensmässigen Entwurf in Foucaults Verständnis archäologisch herausarbeitet und re-konstruiert, sind es insbesondere Studien Gayatri Spivaks (1985) und Iris Marion Youngs (1990), die den Aspekt der Entwertung fokussieren und deutlich machen, wie weitreichend und fundamental die Entwertung in die Selbstwahrnehmung der als Andere Ent- und Verworfenen hinein greift und diese bestimmt. Wobei auch Saids Werk Äusserungen umfasst, die solche Entwertungserfahrungen darstellen – sie finden sich in seiner Autobiografie Out of Place und haben seine Selbstwahrnehmung, insbesondere als Kind und Jugendlichen, zum Gegenstand.
Indem ich die in Out of Place formulierten Entwertungserfahrungen sowie die von Said angebotenen Erklärungsmuster aufgreife, geht es mir nicht darum, zu psychologisieren, sondern auf eine mögliche Grundlegung der Othering-Konzeption Saids in dessen Lebensgeschichte hinzuweisen. Hiervon ausgehend skizziere ich ausserdem eine weitere Form der Veranderung, die Said in Out of Place anspricht. Meines Wissens wurde diese nicht in einer dem in Orientalism formulierten Othering vergleichbaren Weise begrifflich konzeptualisiert, aber sie lässt sich möglicherweise als die Haltung ausmachen, die den unkritischen Umgang, den Said in seinen Publikationen zur Musik pflegt, seine Schwärmerei, prägt (vgl. etwa Barenboim u. Said 2004).
Othering
[M]ein Vater verkörperte eine verheerende Kombination aus Macht und Autorität, rationalistischer Disziplin und unterdrückten Gefühlen. Und all das, so wurde mir später klar, hat mein ganzes Leben geprägt – mit einigen positiven, aber auch einigen schädlichen, wenn nicht gar zerstörerischen Folgen. [...] Mit Hilfe meiner Mutter versuchte er eine Welt zu schaffen, die einem gigantischen Kokon ähnelte. In diese Welt wurde ich eingeführt und dann, wie mir ein halbes Jahrhundert später klar wird, zu einem maßlos hohen Preis darin festgehalten. (Said 2002: 26)
Die hier von Edward Said beschriebene Konstruktion, Erfindung, Schliessung und machtvolle Erhaltung einer Welt handelt von der familiären Situation, wie sie der erwachsene Said erinnert. In ihrem Mittelpunkt steht seine Beziehung zum Vater, die von dessen Autorität bestimmt ist. Der Vater ist als Kaufmann beruflich sehr erfolgreich – und er ist unsicher. Said macht dies an der «Manie» des Vaters fest, sich im dem Bereich einer so künstlichen wie absoluten Ordnung, wie sie das Kartenspiel bietet, Stunden, in den Ferien sogar tagelang aufzuhalten. Er selbst kann sich keine Kartenspielregeln merken und wird von seinem Vater zum Zuschauen gezwungen.
Ich glaube nicht, dass ich je wieder solche Niedergeschlagenheit empfand wie damals, als ich ihm, ein junger Bursche, dabei zusehen musste. [...] Es gab nur die endlose Monotonie des Kartenspiels und seinen ausdrücklichen Wunsch, ich solle dabei zuschauen, aus Gründen, die ich niemals ganz begriffen habe (Ebd.: 54).
Said kommt nichts ins Spiel hinein. Dies scheint mir bei Weitem mehr als lediglich eine Anekdote zu sein, nämlich eine Metapher für die Beziehung des Jungen zur Welt. Beschreibt Said die von ihm erinnerte Wahrnehmung von Selbst und Wirklichkeit doch wie folgt:
Von dem Augenblick an, an dem ich mir selbst als Kind bewusst wurde, erschien es mir unmöglich, mich als einen Menschen ohne diskreditierende Vergangenheit und unmoralische Zukunft zu begreifen. Mein ganzes Selbstwertgefühl im Verlauf der mich prägenden Jahre empfand ich ausschließlich in der Gegenwart, da ich mich wahnsinnig abmühte, um einen Rückfall in ein bereits festgelegtes Muster oder den Absturz in den sicheren Untergang zu vermeiden. Ich selbst zu sein bedeutete nicht nur, niemals ganz in Ordnung zu sein, sondern mich auch niemals entspannt zu fühlen. Ich lebte in der ständigen Erwartung, unterbrochen oder korrigiert zu werden, meine Privatsphäre verletzt, meine unsichere Persönlichkeit angegriffen zu sehen. Ewig fehl am Platze, ließ mir das extreme und starre Regiment aus Disziplin und außerschulischer Ausbildung, das mein Vater mir verordnete und in dem ich von meinem neunten Lebensjahr an gefangen blieb, keine Fluchtmöglichkeit, kein Selbstwertgefühl jenseits seiner Regeln und Muster (Ebd.: 37).
Wie in einer Exemplifizierung des Othering führt Said hier dessen Kennzeichen auf.
(1) In der permanenten Verletzung seiner Privatsphäre, der Disziplinierung, der Gefangennahme in Regeln, die die Regeln des Vater sind und ihm immer äusserlich bleiben, sich nicht aneignen lassen, findet eine fundamentale Fremdbestimmung statt, die massiv mit Zuschreibungen einherzugehen scheint. Da Saids junges Selbst diesen Zuschreibungen nicht entspricht, fühlt es sich diffus schuldig, am falschen Platz und ohne ein Selbstwertgefühl, das über den Moment hinaus spürbar bliebe. Kurzum: Das Subjekt befindet sich in einem Zustand des Entwertet-Seins.
Eben so wenig, wie der junge Said im Bereich der Regeln Fuss zu fassen vermag, bewegt er sich in einem Zeitraum. Damit werden die beiden Grundmomente des ethnologischen Kulturverständnisses für Said nicht produktiv. Bestehen diese doch in der Gültigkeit gesellschaftlicher Regeln, die vom Subjekt im Zuge der Sozialisation inkorporiert werden, und im Vorhandensein eines Zeitraums, in dem das Subjekt eine Vorstellung von der Vergangenheit besitzt und sich ihm eine Perspektive in die Zukunft eröffnet. Das heisst jedoch nicht, sie wären nicht existent. Ganz im Gegenteil: Als ungekannte Mächte treten sie dem Jungen permanent entgegen. Said bringt dies etwa in der folgenden Weise zum Ausdruck:
Ich habe keinen Begriff von Muße oder Entspannung und insbesondere kein Gefühl für allmähliche Entwicklung. Jeder Tag ist für mich wie der Beginn eines neuen Schuljahrs nach einem langen und leeren Sommer und vor einem ungewissen Morgen (Ebd.: 27).
«Kalita»
Als Folge seines Otherings (meine Formulierung) habe er «ein geheimes Vergnügen daran [gefunden], Dinge zu sagen und zu tun, die gegen die Regeln verstiessen oder mich über die von meinen Eltern gesetzten Grenzen hinausführten» (ebd.: 55), schreibt Edward Said. Die von dem jungen Said aufgetane Möglichkeit, sich dem Othering zu entziehen, besteht in einer anderen Form der Veranderung, die seine Eltern mit dem despektierlichen Wort «Neugierde» belegen (vgl. ebd.: 55). Eine Bezeichnung, die Said mit Äusserungen, wie der folgenden stützt: «Immer spähte ich durch halb offenstehende Türen» (ebd.). Dabei geht es eigentlich um Mehr und Anderes: Die Ablehnung der Konventionen bringt eine Subjektposition mit sich, auf der das Nichts, welches das Subjekt im Bereich der Konventionen zu bedeuten scheint, mit einem Reichtum ausgefüllt wird, der dem imaginären Eintauchen in eine fremde Welt entspringt. (Hier ist die Analogie zu zentralen Motiven aus dem Werk Jean-Paul Sartres frappierend (vgl. Waltz 1993)).
Um eine vielfach beschriebene, paradigmatische Form dieses Eintauchens handelt es sich beim Kinobesuch (vgl. etwa McRobbie 1986: 131). Said formuliert dies in folgender Weise:
Während ich in den Plüschsesseln des Kinos saß, mehr noch als beim Betrachten der Hollywood-Filme selbst – die mir als eine eigenartige Form von Science Fiction vorkamen und überhaupt nichts mit meinem Leben gemein zu haben schienen – , genoss ich die sanktionierte Freiheit, zu sehen und nicht gesehen zu werden (Ebd.: 59).
Eine andere Erscheinungsform der Immersion beschreibt Said im Zusammenhang der Freiheit, die für ihn der tägliche Kairoer Schulweg mit sich brachte:
Die Zeit, die ich für meinen Schulweg brauchte, bot immer neuen Anlass zu Diskussionen mit Lehrern und Eltern und wird in meinem Gedächtnis auf ewig mit zwei Worten verbunden sein: «trödeln» und «schwindeln». Sie sind für mich gleichbedeutend mit dieser kurzen Strecke, die ich schlendernd und in Tagträumereien versunken zurücklegte. Zum einen wollte ich einfach meine Ankunft am anderen Ende hinauszögern. Zum anderen war es jedoch auch die schiere Faszination angesichts der Menschen, denen ich begegnete, oder der Ausblicke, die sich auf das Leben boten – hier ging eine Tür auf, dort fuhr ein Auto vorüber, und auf einem Balkon spielte sich eine kurze Szene ab (Ebd.: 64).
Angesichts dessen, was Said auf seinem Schulweg erlebt, erweist sich ein an elterlichen, an herkömmlichen Massstäben orientiertes Verständnis von Zeitbedarf als inadäquat. Die Zeit verfliegt, weil sie sich an allen Ecken und Enden ausdehnen und anderen Zeiträumen Platz bieten muss: Dem, was hinter einer Türe geschieht; der Szene, die sich auf einem Balkon abspielt etc. Der junge Said verliert sich in diesen Erlebnissen. Er geht in ihnen auf. Vergleichbar dem durchs Schlüsselloch Spähenden in Sartres berühmter Analyse des Seins-für-Andere (vgl. Sartre 2005: 467f.), ist der junge Said diese Szenen, Momente, Ereignisse, die sich ihm zur flüchtigen Identifikation anbieten. (Und entspricht dies nicht dem Verhältnis des erwachsenen Said zur Musik, wie es seine Äusserungen zur Musik kennzeichnet?)
Als Schlüsselerfahrung hin zu der Freiheit, die solche imaginären Veranderungen in den vorgestellten Welten Anderer mit sich bringen, nennt Said das Lesen im Allgemeinen und besonders die Lektüre eines Jugendlexikons, das einen Artikel über ein Zirkusartistin enthielt, welchen er wieder und wieder las.
[I]ch versuchte, den Geheimnissen einer gewissen Kalita auf die Spur zu kommen, einer Fakir-Frau, die im Bertram Mills Zirkus Wunder an Stärke und Selbstüberwindung vollbrachte.
Vor dem Hintergrund, noch nie selbst in einem Zirkus gewesen zu sein, bestaunt Said Kalitas Fähigkeiten: Es zu ertragen, einen riesigen Steinquader auf dem Bauch liegen zu haben, auf den ein «riesiger halbnackter Mann mit einem Turban [...] mit einem gewaltigen Schmiedehammer» (ebd.: 57) einschlägt; über Glassplitter zu gehen; auf Nägeln zu liegen; Krokodile im Arm zu halten; sich minutenlang begraben zu lassen. Auch ihr Aussehen ist «unmöglich»: Sie scheint ungewöhnlich klein zu sein; auf den Fotos trägt sie ein seltsames Kostüm; man kann sie (ihren Körper) auf den Fotos nicht wirklich erkennen... «All dies verstieß gegen die Gesetze von Respektabilität und Anstand, unter denen ich litt» (Ebd.).
Said wünscht sich, mehr über Kalita zu erfahren, mit ihr gemeinsam im Zirkus zu leben, mitzuziehen in ihrer «Karawane». Über die im Jugendlexikon beschrieben Abenteuer hinaus möchte er weitere ihrer ungewöhnlichen Handlungen miterleben. Und er malt sich aus, mit ihr darüber sprechen, «wie sie sich dem gewöhnlichen Gerede und den Pflichten des Alltags entzog» (ebd.). Vielleicht so: Sag Kalita, wie entziehst Du Dich den Zuschreibungen der Anderen? Wie schaffst Du es, dem Othering zu entgehen? Wie hast Du Dich frei gemacht von den unsinnigen Regeln, wie sie meine Seele bedrängen? – Ein Gespräch, das in der Fantasie stattfindet.
Fantasie ist überhaupt das Stichwort:
Aus meinen Erfahrungen mit Kalita entwickelte ich die Gewohnheit, in meiner Fantasie die in einem Buch erzählte Geschichte weiterzuspinnen, ihre Grenzen so weit zu dehnen, so dass ich Bestandteil der Geschichte wurde. Allmählich wurde mir bewusst, dass ich zum Autor meiner eigenen Vergnügungen werden konnte, insbesondere jener, die mich so weit wie möglich aus den erdrückenden Beschränkungen von Familie und Schule davontrugen (Ebd.: 57f.).
Der Zauber Kalitas besteht also nicht nur in der wunderbaren Welt, in der sie im Jugendlexikon erscheint. Sie bringt ausserdem die fantastische Allmacht mit sich, bereits bestehende imaginäre Welten insofern zum Leben zu erwecken als bislang unbeschriebene Ereignisse sich in ihnen zu ereignen vermögen. Kalita – nicht einfach der Name einer Frau aus einem Buch, sondern eine Göttin: Der Name für eine Welt, «deren Grenze ich erweitern konnte» (Ebd.: 58).
In der Folge entdeckte Said in der griechischen Mythologie mit ihren eindrücklichen Charakteren und phantastischen Begebenheiten so etwas wie die Potenzierung Kalitas: «[Sie] eröffnete mir eine völlig neue Welt, nicht nur die Geschichten selbst, sondern die herrlichen Verbindungen, die sich zwischen ihnen herstellen ließen» (Ebd.).
Schluss
Beim Othering handelt es sich zweifelsfrei um einen kulturellen Mechanismus, der die Kultur der Moderne und unsere Zeit im Besonderen massgeblich kennzeichnet und dessen Benennung und Analyse deshalb grosse Relevanz besitzt. Dies enthebt uns jedoch nicht der Pflicht, ähnliche, aber hiervon eben doch verschiedene Phänomene der Veranderung ebenfalls in ihrer Spezifik zu erfassen und sie vom Othering zu unterscheiden.
Um eine prominente andere Konzeptualisierung von Veranderung handelt es sich beispielsweise bei der von Stuart Hall (1994) in Anlehnung an Franz Fanon beschriebenen Aneignung von Fremdzuschreibungen als einer Subjektposition, von der aus sich die Sprache überhaupt erst ergreifen lässt, das Subjekt im «Diskurs» erst in Erscheinung tritt – und in der Folge die Resignifizierung der Fremdzuschreibung (und Vieles mehr) betreiben kann. Eine weitere Form der Veranderung habe ich hier mit Said skizziert und mit dem Namen seiner Zirkusartistin gefasst. Es ist klar, dass es sich hier um ein weit verbreitetes und in anderen Worten auch bereits vielfach beschriebenes Phänomen handelt. Wesentlich besteht es in einer spielerischen Identifikation: Das Subjekt entäussert sich in eine imaginäre Welt.
Das Othering, Halls Positionierung und Saids Geniessen fiktiver Welten bringen für das sich in ihren jeweiligen Modi bewegende Subjekt völlig unterschiedliche Weisen, die Wirklichkeit zu erleben, mit sich. Aber sie teilen sich auch ein Moment, das meines Erachtens immer gegeben sein muss, wenn von Veranderung die Rede sein kann. Gayatri Spivak benennt es an einer zentralen Stelle ihres einflussreichen Aufsatzes «The Rani of Sirmur: An Essay in Reading the Archives», wenn sie eine Frederic Jameson entlehnte Überlegung Heideggers über das Funktionieren des Kunstwerks auf das «Projekt des Imperialismus» überträgt: Ein Riss geht durch die Welt, der eine Umgestaltung der Welt mit sich bringt. Schliesst sich der Riss, ist die Welt eine andere geworden. Statt fand «the worlding of a world». «[T]he necessary yet contradictory assumption of an uninscribed earth which is the condition of possibility of the worlding of a world generates the force to make the ‹native› see himself as ‹other›.» (Spivak 1985: 254) Letzteres ist Spivaks, auf der Erfahrung der Wirkmächtigkeit des Kolonialismus basierender Schluss; der Schluss, den das Othering auf den Riss darstellt. Im Falle der Kalita-Identifikationen sieht der Schluss anders aus.