2013 überraschten die Indie-Electropopper Jeans for Jesus aus Bern mit einem knalligen Video zu ihrem Sommerhit «Estavayeah», beeinflusst von Baile Funk. Es folgten zwei weitere Clips und nun das erste, selbstbetitelte Album. Norient hat Jeans for Jesus gebeten, mit einer Video-Auswahl ihre wichtigsten Referenzen offen zu legen und zu kommentieren. Die Video-Selection enthält Gangsta Rap, Surrealismus und ist auch für Leser*innen geeignet, die den Texten in Schweizer Mundart nicht oder nur knapp folgen können.
In «Estavayeah» besingen Jeans for Jesus den Schweizer Badeort Estavayer-le-Lac am Neuenburgersee (Bericht über die Band in «der Bund»). Regie führten Angela Erni und Renate Salzmann, die Aufnahmen entstanden im Proberaum der Band. Weitere Beteiligte neben den Bandmitgliedern waren Bielo Vasquez (Kamera) und Beila Steiger (Model). Bevor wir zur Jeans for Jesus Video-Selection kommen, beantworten Angela Erni und Renate Salzmann für Norient gemeinsam mit Jeans for Jesus drei Fragen zum «Estavayeah»-Clip.
[Norient]: Wie ist die Idee zum Clip entstanden und welche Bilder hattet ihr dabei im Kopf?
[Jeans for Jesus]: Für uns war von Anfang an klar, dass wir eine Spannung zwischen textlichem Inhalt und Bildsprache erzeugen wollten. Wir wollten bewusst keine Filmaufnahmen von Lagerfeuer und Sonnenuntergang am Neuenburgersee zeigen, sondern allgemeine Sommerstimmung verbreiten. Die farbenfrohen Bildkompositionen ermöglichen einen grösseren und wirkungsvolleren Zugang zum Thema und erzählen nicht einfach die Geschichte nach. Wer der den Ort Estavayer-le-Lac nicht kennt, oder keine Lust hat, sich den Textinhalt der Strophen genau anzuhören, soll eine Ahnung davon bekommen, um welche Stimmungen es sich in dem Song dreht.
[NT]: Wie viel Arbeit steckt hinter einem Video-Clip wie «Estavayeah»?
[JfJ]: Sehr viel und vor allem unbezahlte. Man unterschätzt schnell, wie viel Film- und Bildmaterial es für vier Minuten Videoclip braucht, gerade wenn man einen so dichten Clip wie «Estavayeah» produziert. Die Betrachtenden sollen ja nicht durch viele Wiederholungen gelangweilt werden. Sie sollen den Clip bis zum Ende anschauen und nicht zur nächsten Textmessage oder zum nächsten Post abschweifen. Im besten Fall spielen sie den Clip sogar noch ein zweites Mal ab.
[NT]: Das Video bedient sich einer poppigen Tropical-Ästhetik ohne konkrete Verweise auf Estavayer-le-Lac und den Schweizer Kontext. War die Einbindung von solch konkreten Symbolen kein Thema?
[JfJ]: Was ist denn mit all den Schweizer Früchten? Die Walliser Aprikosen eröffnen doch den Clip! Oder der Coup Romanoff? Cornets, welche die Erinnerung an Urlaub und die Badezeit wecken? Aber gut, wir wollten dem Text nicht durch oberflächliche Bilder die Kraft rauben. Durch kitschige Bergbilder und traditionell schweizerische Klischeeaufnahmen wäre genau das passiert und der Clip hätte eine völlig andere Geschichte erzählt. Die Bilder sind ja eigentlich nicht dazu da, den Inhalt des Textes zu visualisieren, sondern haben die Aufgabe, visuell einen Dialog mit dem Text zu führen.
[NT]: Und nun überlassen wir das Feld Jeans for Jesus selbst. In Ihrer Video-Selection legen die Berner Jungs ihre wichtigsten Referenzen und Einfüsse offen und kommentieren diese persönlich:
Devo – Beautiful World (1981)
Devo haben uns mit ihrer ganzen Ästhetik, musikalisch als auch textlich wie auch mit ihrem Auftreten, extrem inspiriert. In Bezug auf Videos waren Devo in unseren Augen immer weit voraus, ihre Kurzfilme sind legendär; grafisch setzen viele heute gefeierte Videos wieder hier, 1981, an – bei «Beautiful World» hatten Devo nach eigenen Angaben das Video bereits vor dem Schreiben des Songs vor Augen. Gerade auch die rhythmischen Schnitte finden wir sehr gelungen. Den Text von «Beautiful World» finden wir grossartig, die Mischung aus Humor, Kritik und diesem mysteriös-absurden Auftritt bewundern wir – dass ihre Songs trotz ihrer Haltung oft komplett missverstanden und für kommerzielle Zwecke gebraucht wurden, bestätigt eigentlich nur deren Qualität.
Beautiful world
It’s a beautiful world we live in
A sweet romantic place
Beautiful people everywhere
The way they show they care
Makes me want to say
It’s a beautiful world
For you
It’s a wonderful time to be here
It’s nice to be alive
Wonderful people everywhere
The way they comb their hair
Makes me want to say
It’s a wonderful place
For you
Hey
Tell me what I say
Boy ‘n’ girl with the new clothes on
You can shake it to me all night long
Hey hey
It’s not for me
Sébastien Tellier – Roche (2009)
Tellier ist in unseren Augen ein Genie, ein moderner Chansonnier, seine Konzeptalben – gerade auch Sexuality, auf dem «Roche» erschienen ist – haben wir auf und ab gehört. Die Ästhetik des Clips lebt von schönen Bildern in Verbindung mit einem Humor, für den wir Tellier lieben.
Die sanften, pastellen Farben verpassen dem Video Sex-Appeal und die abstrakt eingesetzten Elemente wie Lippen und Reiter erinnern stark an den Surrealismus, wie z.B. René Magritte.
The Notorious B.I.G. – Juicy (1994)
Obwohl er sich immer bewusst (und auch zurecht) gegen sie gestellt hat, Gangster-Rap hat die Popkultur massiv beeinflusst. Ohne die, mit einfachsten Mitteln produzierte Musik amerikanischer Ghettos, wäre der Pop der weissen Mittelschicht seit den 90ern nicht denkbar. Wir zelebrieren auch Vieles des zeitgenössischen Raps, haben uns aber für einen Klassiker entschieden: das Video zu Biggies «Juicy» zeigt das sozial äusserst prekäre, aber kulturell blühende Brooklyn der 90er-Jahre und erinnert Kritiker daran, aus welch prekärer Situation der dargestellte, heute sicher masslos überzeichnete, aber gerade von der Elite oft monierte Hedonismus herrührt, wenn Biggie eigentlich noch bescheiden rappt: «Super Nintendo, Sega Genesis – when i was dead broke man, i couldn’t picture this.»
Sad Stonewash – A Video Mulch
Unser Freund, der grossartige DJ und Musikkenner Pinto Galli, hat uns schon vor einiger Zeit auf Luke Wyatt’s Arbeiten hingewiesen. Für Sad Stonewash (A Video Mulch) digitalisierte Wyatt VHS-Videokassetten, wobei er während dem Überspielen mit einem übergrossen Schuh auf den Videorecorder eindrosch und das Resultat darauf auf dem Computer weiter verfremdete. Das Ergebniss ist wunderschön und hat uns in unserer Musik, welche unter anderem von verfremdeten Samples aus ganz verschiedenen Quellen lebt (herzlichen Dank an die Zentralbibliothek Bern für die umfassende CD-Sammlung im Bereich Neue Musik), sowie in unseren Videoclips beeinflusst, die ja ebenfalls mit quasi keinem Budget entstanden sind. Das hier verlinkte Video ist kein Musikclip im eigentlichen Sinne, sondern ein Trailer für eine 40-minütige DVD, die hier bestellt werden kann.
M.I.A – Bad Girls (2012)
Endlich ein Representer-Posse-Video, das mit all den üblichen Schemen der angesagten Videoclips kokettiert und dadurch ultimative Freshness ausstrahlt: Mode, Attitude, Autos, Frauen, Gold und Action. Zu M.I.A. gibt’s sonst nicht viel mehr zu sagen, als dass wir sowohl musikalisch wie auch grafisch fast alles extrem gut finden von. Wir bewundern, bei all dem Hype und der Publicity, gerade auch M.I.A.’s politische und feministische Haltung. Ihre Coolness können deutschschweizer Typen wie wir nie erreichen, in M.I.A.’s Tour Rider verlangt sie zum Beispiel drei 20- bis 25-jährige Extras die während der ganzen Performance in vollverschleierten Burkas tanzen. Romain Gavras Musikvideos sind grundsätzlich immer kompromisslos und beeindruckend. Uns gefällt auch Justice’s «Stress» und M.I.A.’s «Born Free».
MGMT – You’re Life Is A Lie (2013)
Mit «Oracular Spectacular» stehen MGMT für das Phänomen, in dem Musik ihre Hörerschaft durch die seit damals aufkommenden Blogs gefunden hat. Sie prägten somit ein Musikgenre, das von zahlreichen Bands auf der ganzen Welt produziert wird, sich ständig verändert und meist irgendwie als «Indie-Pop», «Alternative» oder ähnlich bezeichnet wird. Wir sind keine Freunde von Schubladen, werden aber oft in dieser Ecke verstaut. Wir wollten bandintern (noch) grössere Diskussionen darüber vermeiden, welcher Clip von welcher Band nun unser Genre repräsentieren soll, also bleiben wir beim Exempel und deren Song mit den Torten und dem Feuerwerk: «Your Life Is A Lie» gefällt uns sehr. Wenn wir Budget hätten, würden wir vielleicht solche Videos zu machen versuchen.
Musikvideos von Jeans for Jesus