Unsuk Chin (photo: Eric Richmond/Arena Pal)

Farbenfrohes Instrumentengestrüpp

Interview
by Hannes Liechti

«Es ist einfach schön, dieses Instrumentengestrüpp in der Neuen Musik.» Voller Vorfreude erwartet ein Zuschauer das Konzert des Pariser Ensembles intercontemporain am Lucerne Festival 2014. Auf dem Programm stehen Werke der beiden diesjährigen «Composer in Residence», Unsuk Chin und Johannes Maria Staud. Aus diesem Anlass hat sich Norient mit der koreanischen Komponistin über ihren Kompositionsstil, das Doppelkonzert für Klavier, Schlagzeug und Ensemble und David Bowie unterhalten.

Es ist ein einziger akrobatisch-atemberaubender Wettstreit, der sich dem Publikum im KKL Luzern offenbart. Von karger Eintönigkeit wandelt das Klangbild zum ultrabeweglichen und hyperleichten Stimmengewirr, das urplötzlich beginnt, leise und fragil auseinander zu driften, um nur wenig später gleich wieder zusammenzufinden. Nie flächig und dennoch immer farbig und voller Assoziationen. Unsuk Chins «Doppelkonzert für Klavier, Schlagzeug und Ensemble» (2002) begeistert an diesem Sonntag, 17. August 2014 am Lucerne Festival. Unter der Leitung von Matthias Pintscher wird wenig später auch ein Werk des Österreichers Johannes Maria Staud aufgeführt – ebenfalls «Composer in Residence» der diesjährigen Festivalausgabe. Kurz vor dem Konzert äusserte er sich gegenüber Norient über das Werk seiner koreanischen Komponistenkollegin und findet, dass in Chins Musiksprache «eine richtige Freude an Musik» vermittelt werde:

Johannes Maria Staud (photo: Stefan Deuber, LUCERNE FESTIVAL)

Unsuk Chin hat eine sehr bunte und eigene Sprache. Sie schreibt Musik, die im besten Sinne von einer ziemlichen Freiheit beseelt ist. Unsuk vermittelt etwas – und ich würde sagen, das ist gar nicht so häufig – eine richtige Freude an Musik. Es gibt in ihrem Werk sehr überschwängliche Momente, ohne dass sie dabei einen Gestus etablieren würde, der einer verlorenen Harmonie nachtrauert.

Auch die Wahl ihrer Themen finde ich spannend, wie etwa «Alice im Wunderland», worüber sie eine Oper geschrieben hat. Ich glaube man kann sagen, dass sie keine Angst vor Direktheit hat und das verbindet uns wahrscheinlich. Diese Direktheit ist aber keine hingerotzte, sondern eine genau kalkulierte. Auch wenn sie nicht gerne darüber spricht, ist sie keine unintellektuelle Komponistin.

Doch lassen wir jetzt Unsuk Chin selbst sprechen. Im Zentrum des Norient-Gesprächs mit der koreanischen Komponistin steht das eingangs erwähnte Doppelkonzert, das die Komponistin selbst als «Hypergamelan» bezeichnet.

[Hannes Liechti]: Frau Chin, Wie würden Sie Ihren Kompositionsstil beschreiben?

[Unsuk Chin]: Diese Frage muss von Musikwissenschaftlern und Kritikern beantwortet werden. Als Komponisten haben wir eigentlich keine Ahnung davon. Gerade bei meinem Werk gibt es keine Schublade, wo alle meine Kompositionen rein passen. Ich versuche jedes Mal etwas Neues zu schaffen – klar, das möchte ja jeder. Tatsächlich gibt es in meinem Werk aber völlig verschiedene stilistische Richtungen, weshalb ich meinen eigenen Stil nicht beschreiben kann. Und sowieso: Musik muss man hören. Man kann sie schon erklären, es gibt aber Grenzen.

[HL]: Was bei Ihnen aber sehr wichtig ist, sind Klangfarben.

[UC]: Ja, das ist einer von den sehr wichtigen Parametern. Viele Leute, die über meine Musik reden oder schreiben, betonen im Besonderen die Farben. Wenn aber eine Klangfarbe funktionieren soll, braucht sie auch alle anderen Parameter dazu: Struktur, Rhythmus, etc. Man kann «Farben» nicht getrennt von allem anderen schreiben. Tatsächlich steht aber diese Farblichkeit bei mir schon im Vordergrund.

[HL]: Ich denke, Sie sind stetig auf der Suche nach neuen Klangfarben. Ist es denn möglich, immer neue Farben zu finden oder sind die Möglichkeiten irgendwann einmal erschöpft?

[UC]: In dem Moment, wo man sucht, denkt man, dass es keine neuen Möglichkeiten mehr gibt. Und doch versucht man es und entdeckt immer wieder neue: in der eigenen Musik, in den Kompositionen von anderen; gerade auch in Werken, die man längst zu kennen glaubt. Da gibt es vermutlich keine Grenzen. Was wir heutzutage kennen, ist längst nicht alles, was möglich ist. Ich glaube daran und hoffe, dass es so ist.

[HL]: Haben Sie eine Lieblingsklangfarbe, einen Klang, der Sie geprägt hat?

[UC]: Ja, das habe ich. Aber ich kann diesen Klang nicht mit Worten beschreiben. Schon als Kind hatte ich eine besondere Affinität für diesen bestimmten Klang, eine Mischung aus metallischen und kristallenen Elementen. Ich hatte schon früh Klavier gespielt und dabei immer nach diesem Klang gesucht. Ich hatte bei meinem Upright Piano alle Deckel aufgemacht und während dem Spiel meine Ohren ganz nah an die Saiten gepresst.

[HL]: Sie haben also Erinnerungen an Klänge?

[UC]: Ja, genau.

[HL]: Ich möchte als Beispiel aus Ihrem Gesamtwerk auf das «Doppelkonzert für Klavier, Schlagzeug und Ensemble» aus dem Jahr 2002 zu sprechen kommen.

[UC]: Das ist eines der sehr wichtigen Stücke in meiner Werkliste. Es ist auf die Fähigkeiten des Pariser Ensembles intercontemporain zugeschnitten – es gibt nicht viele Ensembles auf der Welt, die das Werk spielen können. Das Spezielle an diesem Werk ist, dass es nicht nur ein Konzert für die Solisten Klavier und Schlagzeug ist, sondern für das ganze Ensemble. Jeder und jede spielt an seinen Grenzen, man wird wirklich herausgefordert – nicht nur die Solisten. Ich will, dass alle Beteiligten schwitzen. Das ist für mich sehr wichtig.

Doppelkonzert für Klavier, Schlagzeug und Ensemble (2002)

[HL]: Sie erwähnen immer wieder die Verbindung zu balinesischer Gamelanmusik. Inwiefern ist im «Doppelkonzert» Gamelanmusik zu finden?

[UC]: Eigentlich hat das Werk direkt nichts mit Gamelan zu tun. Die balinesische Musik hat mir aber die entscheidenden Ideen und Impulse geliefert. Die Begegnung mit der Gamelanmusik war für mich bislang eine der wichtigsten musikalischen Ereignisse. Ich habe sie Mitte der 90er-Jahre kennengelernt und war sogleich fasziniert von ihrer Struktur. Gamelanmusik besteht aus ganz einfachen Schichten, die sich, wenn sie übereinander gelegt werden, in eine unglaubliche Komplexität verweben. Diese komplexe «Skulptur» bewegt sich dann ganz frei im Ausdruck, verändert sich abrupt und kommt wieder zum Ausgangspunkt zurück.

Gerade diese musikalischen Veränderungen innerhalb kürzester Zeit haben mich fasziniert und als Idee für meine Komposition angesprochen. Ich habe dann versucht, mit dem «Doppelkonzert» eine Art «Hypergamelan» zu kreieren. Das Klavier ist in der mittleren Lage mit kleinen Regalbrett-Stiften präpariert, was metallische und perkussive Klänge erzeugt. Kombiniert mit dem Solo-Schlagzeug entsteht so ein ganz neuer Klang. Dazu kommt das ganze Ensemble, dass sehr viele verschiedene Farben spielt. Es baut sich so eine komplexe «Klangskulptur» auf, die an sich statisch ist, gleichzeitig aber wie eine elastische Masse durch den Klangraum wandert.

[HL]: Sie lassen sich immer wieder von aussereuropäischen Musiktraditionen inspirieren und beeinflussen. Was vermissen Sie in der europäischen Musiktradition?

[UC]: Ich vermisse da gar nichts. Für mich sind europäische Kunstmusik, aussereuropäische Musik aus verschiedenen Ländern äquivalent. Europäische Musik ist wunderbar und eine Art, Musik zu machen. Es gibt aber daneben noch viele andere Arten. Für mich gibt es kein Dogma: «Das ist die richtige Musik und alles andere ist Unterhaltungsmusik.» Alle Richtungen haben ihre eigene Daseinsberechtigung.

[HL]: Was wäre dann die Daseinsberechtigung von Pop?

[UC]: Dass Pop Leute begeistern kann. Ich habe neulich in Berlin die Ausstellung zu David Bowie besucht. Seine Musik beeindruckt mich nicht besonders. Aber umso mehr die Person: Bowie besitzt eine unglaublich starke und facettenreiche Persönlichkeit. Damit erreicht er einfach unheimlich viele Leute. Vielleicht tun wir das in der Neuen Musik auch, nur auf eine andere Art und Weise und über eine viel längere Zeitspanne hinweg. Gute Kompositionen in der Neuen Musik überleben vielleicht Jahrhunderte und erreichen dann ebenso viele Leute. Für mich ist es es aber sehr faszinierend, wenn man wie David Bowie mit relativ einfacher Musik so viele Leute in einem bestimmten Moment begeistern kann.

[HL]: Und was kann Neue Musik leisten, was Pop nicht leisten kann?

[UC]: Bei Neuer Musik haben wir natürlich wenig Fans. Unser Publikum will nicht auf Anhieb etwas bekommen. Es ist gewillt, tiefer zu gehen und immer etwas Neues zu entdecken. Das ist bei der Unterhaltungskunst eigentlich nicht möglich. Dort bekommt man auf Anhieb alles und die Musik selbst ist auch sehr kurz und plakativ. Bei der Kunstmusik ist das nicht so. Ein gutes Stück kann man nach 50 oder 100 Jahren wieder ganz neu hören.

[HL]: Was erleben Sie als die grössten Herausforderungen bei der Komposition von Neuer Musik?

[UC]: Ganz einfach, gute Musik zu schreiben. Aber das war in der ganzen Tradition der Kunstmusik wohl schon so. Was für mich heutzutage speziell wichtig ist: Ich möchte Leute erreichen. Ich will nicht irgend etwas Intellektuelles schreiben. Also natürlich, gute Musik ist immer intellektuell. Diese intellektuelle Ebene gibt es einfach. Ein Musikstück muss aber auch mehrere andere Ebenen haben, damit es ganz verschiedene Leute erreicht und bei diesen dann je nach ihren musikalischen Erfahrungen etwas hinterlässt. Das ist sehr schwierig. Ich möchte auf keinen Fall so sein, dass ich einfach etwas schreibe und mir sage: «Ach ja, das ist Kunst und wenn jemand das nicht versteht, selber schuld.» So ist das nicht.

[HL]: Unsuk Chin, vielen Dank für das Gespräch.


Weitere Werke von Unsuk Chin

Gougalōn. Scenes from a Street Theater for Ensemble (2009/2011)

Allegro ma non troppo (1994/98)

Biography

Hannes Liechti lives in Bern, Switzerland, as a popular music scholar/lecturer, curator, cultural producer, and content editor. He is the head of KULT Student Agency at Bern Academy of the Arts HKB. Since 2021, he is part of the executive board of the concert organizer bee-flat and in 2024 he was elected as a member of the Cultural Commission of the City of Bern. Liechti teaches history of popular music at Paderborn University, Germany. From 2013–2024 he worked as a producing manager and as a curator/editor for Norient. He co-published «Seismographic Sounds: Visions of a New World» (2015) and co-curated the corresponding exhibition on global pop. He edited the digital publication «Sampling Politics Today» (2020) and published his PhD on the culture of sampling in experimental electronica with Norient Books (2022). Follow him on Instagram or LinkedIn.

Published on August 22, 2014

Last updated on August 24, 2020

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