Hyperpop, Politik, die Stille und ein Star
Musikerinnen und Musiker erforschten im Jahr 2012 süssen Lärm, inspirierende Leere und zerbrechliche Hits. Doch welche Sounds bleiben hängen? Schlaglichter auf ein bewegtes Pop-Jahr. Aus dem Norient-Buch Out of the Absurdity of Life (hier bestellbar).
Inmitten der Video Music Awards, der grossen Glitter-Show des einstigen Musikfernsehsenders MTV, in der wohlinszeniert die All American Girls kreischen, die Boys entweder die Pimps oder die Rebellen raushängen, und wohlbekannte und überlebende Superstars wie Alicia Keys, Pink, Green Day oder Rihanna die neuesten Kostüme und zuweilen auch ihre Songs präsentieren; inmitten dieser Power-Show des darbenden Big Business, die von den Sounds des Stadion-DJs und Star-Produzenten Calvin Harris zusätzlich zugeklatscht wurde, flackerten am 9. September 2012 in Los Angeles auch Lagerfeuer auf: Eine einsame Gitarre begleitete die Flammen, ein Mann mit Basketballschweissband erhob seine Stimme. Es ist eine verwundete und doch warme Soul-Stimme, die dem 25-jährigen Frank Ocean gehört, der hier, auf der übergrossen Bühne der Sportarena mit seinem Lied «Thinking About You» einen Moment der Einkehr bietet.
Frank Oceans MTV-Auftritt war einer der grossen Popmomente im Jahr 2012. Genauso wie seine Performance im Juli in der Jimmy Fallon Show. Und genauso wie sein Statement auf seinem Blog, in dem sich das Mitglied der Hiphop-Crew Odd Future – die noch 2011 mit homophoben Ausfällen auffiel – zur Bisexualität bekannte. Oceans Album Channel Orange ist das Hörspiel einer Suche nach Halt, nach Orientierung in einer Welt, die nicht mehr so ist, wie sie einst war: Der R’n’B-Glitzer ist weg, das Cruisen mit dem Jaguar des Daddys gehört der Vergangenheit an, der Rotwein mit den Namen, die man nicht aussprechen kann, ist längst ausgetrunken, und das Taxi ist sein Beichtstuhl. Oceans Songs sind gross, still, zeitlos-klug produziert – und mit ihm hat das Pop-Jahr 2012 einen neuen Superstar geboren. Ein Superstar, der dem Mainstream und dem Indie-Kid, das auch dank bleichen Schlafzimmerbastlern wie How to Dress Well den R’n’B endgültig für sich entdeckt hat, gleichermassen berühren kann. Und so war Frank Ocean ein Fixpunkt mitten im aufregenden Schlingerkurs, den das Pop-Jahr 2012 ansonsten eingeschlagen hat.
Pop und Politik
Ein Schlingerkurs, der auch vor der (Welt-)Politik nicht halt machte: «Free Pussy Riot» kurzzeitig überall – von Madonnas Arenen bis zu den kleineren Bühnen, natürlich im Internet, auf Transparenten auch in Bern oder Zürich – oder die grosse Grossbritannien-Inszenierung während den Olympischen Spielen mit aufregenden Elektro-Sounds der Fuck Buttons an der fulminanten Eröffnungsfeier und der Verabschiedung mit reaktionärem Halligalli aus der Vergangenheit. Da war der aggressive Sound der Armut, den die Hiphop-Combo Death Grips in den rasenden Ruinen von Sacramento inszenierte und die ihr Sony-Unterlabel Epic mit gratis veröffentlichten Platten brüskierte. Man erinnert sich auch an die grotesken Kraftworte des Vereins Musikschaffende Schweiz, welche die Schweiz als «Urheberrechts-Guantanamo in Europa» bezeichneten oder an die Beastie-Boys-Hymne «Fight for your Right (to Party)», die in den Nachtdemonstrationen für ein lebendiges Berner Nachtleben immer wieder erschallte. Jenseits von kurzlebigem Protest agierten derweil die Lieder von Dave Longstreth und seinen Dirty Projectors, die mit dem leichtfüssigen Songzyklus «Swing Lo Magellan» gegen den abgefuckten Planeten Erde ansingen.
Befreite Sounds
Viele Töne purzelten im Zeitgeist-Zauberbegriff Hyperpop herum, der überall andockt, Bits und Bytes aus allen Soundwelten zusammenbringt – bis zur Erschöpfung. Das ist etwa im fröhlichen Overkill-Album Gossamer der US-Band Passion Pit nachzuhören, deren depressiver Kopf Michael Angelakos nach dem Kraftakt eine Auszeit benötigt, minimaler in den Heimbasteleien der Kanadierin Grimes, mit 180 Beats per Minutes in den überdrehten Tracks von Shangaan Electro aus Südafrika, die 2012 erstmals auf ausgedehnter Europatour waren – oder in einem weiteren Abenteuer des Animal Collective, das mit Centipede HZ in den wild zirpenden Frequenzen beglückende Melodien versteckt hat. An allen Enden sucht diese Band die Popmusik ab – nach der Melodie, der Trance, dem Lärm, dem Rock – und arbeitet so weiter federnd an der Befreiung der Sounds.
Befreiende Sounds, süsser Lärm: Das ist seit jeher die Disziplin von Jason Peirce alias Jason Spaceman, der mit seiner Band Spiritualized einmal mehr sein Programm aus Drogen, Krankheit, Jesus, gebrochener Erleuchtung und Erlösung laut verkündete – mit Orchester, Gospelchor, zermarternden Gitarren und Free-Jazz-Bläsern. Ein ähnliches halluzinierendes Programm – wenn auch ohne orchestralen Pomp – verfolgen die Gebrüder Stähli aus dem Berner Kaff Oberdiessbach seit zwanzig Jahren. Mit ihrer Platte Tell it to the People flottieren sie grossartig frei im Sound-Weltall. Ein Sound-Weltall, das Peirce aufgefallen ist – und die trendfernen Brüder für seine Europa-Tour durch die grossen Clubs im November eingeladen hat.
Ansonsten blieb es weitgehend still in der Welt der Gitarren. Immerhin: da war die bemerkenswerte Grunge-Erinnerungsplatte Attack on Memory der jungen Cloud Nothings, das programmatische Celebration Rock der Kanadier Japandroids, ein schönes Werk der Altmeister Dinosaur Jr., oder die Forschungen von Blur-Gitarrist Graham Coxon (A+E). Und dank den Liedern von Daniel Rossen, der neben der Solo-EP Silent Hour / Golden Nite mit seiner Band Grizzly Bear eine neue Folk-Klassik erreicht hat, wuchs auch das zeitlose American Songbook weiter an.
Tröstende Leere
Gleichzeitig mit den Soundekstasen erreichte einmal mehr die Stille den Planeten Pop. Until the Quiet Comes betitelt der US-Produzent Steven Ellison alias Flying Lotus programmatisch seine neuesten Exkursionen im schwarzen Atlantik, der stetig ozeanisch blubbert und die Stimmen von Thom Yorke oder Erykah Badu ätherisiert. Und wenn sie dann eintritt, die Stille, «eine Stille, für die man weder in den musikalischen noch in den philosophischen Nachschlagewerken eine Entsprechung finden wird, als ob Zeit in Stücke zerbrach, die in alle Richtungen auseinanderflogen», wie sie der chilenische Autor Roberto Bolaño einst beschrieb, ja dann konnte man Zuflucht im zweistündigen Essential Mix finden, den der Chilene Nicolas Jaar für die BBC zusammengestellt hat. Weniger Töne waren in diesem Mix mehr – gleich dem zerbrechlichen Nummer-Eins-Album Coexist von The xx, der Band, die ihre Lieder aus der Stille nach der durchtanzten Club-Nacht bastelt. Hierhin flüchtet man sich, wenn nur noch Ich und Du übrigbleiben und ansonsten Leere vorherrscht.
Eine Leere, die auch der versehrte Soul-Altmeister Bobby Womack und die geisterhafte Werbefigur Lana Del Rey im Duo «Dayglo Reflections» eingefangen haben. Eine tröstende Leere, in der neue Welten aufgebaut werden können. Und alles scheint wieder offen fürs Popjahr 2013.
Discography
Animal Collective. Centipede Hz. Domino.
Cloud Nothings. Attack on Memory. Carpark.
Graham Coxon. A+E. Parlophone.
Death Grips. No Love Deep Web. http://thirdworlds.net.
Death Grips. The Money Store. Epic.
Dinosaur Jr.. I Bet On Sky. Jagjaguwar.
Dirty Projectors. Swing Lo Magellan. Domino.
Flying Lotus. Until the Quiet Comes. Warp.
Grimes. Visions.
Grizzly Bear. Shields. Warp.
How to Dress Well. Total Loss (Weird World.
Nicolas Jaar. Essential Mix.
Frank Ocean. Channel Orange. Def Jam.
Passion Pit. Gossamer. Sony.
Daniel Rossen. Silent Hour / Golden Mile. Warp.
Roy and the Devil’s Motorcycle. Tell it to the People. Voodoo Rhythm.
Spiritualized. Sweet Heart, Sweat Light. Double Six.
Bobby Womack. The Bravest Man in the Universe. XL Recordings.
The xx. Coexist. Young Turks.
This text has been published first in the Norient book «Out of the Absurdity of Life».
Biography
Published on January 01, 2013
Last updated on April 09, 2024
Topic
Loneliness can feel like isolation, but can also be a positive solitude by keeping distance from the worlds’ chaos.