«At Night They Dance»

Wenn die Scheinwerfer ausgehen

Musik, Gesang und Bauchtanz gehören in Ägypten zu jedem Hochzeitsfest. Je pompöser und kostspieliger Band und Tänzerinnen, desto angesehener ist der Gastgeber. Paradoxerweise geniessen die Tänzerinnen keinen guten Ruf. Sie gelten als leichte oder gefallene Mädchen und werden oft als Huren beschimpft.

Der Mond hängt ruhig am nächtlichen Himmel über Kairo – und unten ist die Hölle los. Die festlichen Lichter blinken in allen Farben. Ein ohrenbetäubender, elektronisch übersteuerter Klangteppich aus vorwärts treibender Perkussion und dem durchdringenden, nasalen Klang ägyptischer Blasinstrumente überflutet die Hochzeitsgesellschaft. Der Sänger schreit sich die Seele aus dem Leib ins Mikrophon, dann kommt ein Frauengesicht ins Bild, schwarz umrandete Kleopatra-Augen, das Lächeln erstarrt unter der Schminke und einer Langhaarperücke mit blonden Strähnen. Der füllige Körper wiegt sich im Rhythmus, die Brüste drohen aus dem glitzernden Oberteil des Bauchtanzkostüms zu springen. Amira ist eine von drei Töchtern der 42-jährigen Reda, die ihren Lebensunterhalt als Tänzerinnen verdienen: «Amira hat schon immer getanzt, sie ist tanzend aus meinem Bauch gekommen», sagt Reda stolz, am Boden ihres kargen Wohnzimmers sitzend und bereits wieder schwanger. Auch sie war einst Bauchtänzerin.

Der ägyptisch-kanadische Film At Night They Dance leuchtet hinter die Kulissen des Bauchtanzes in einem ärmlichen Viertel in Kairo, wo die Mutter gerade die Geschäfte ihrer Töchter organisiert, Amira am Telefon einen Kunden beschimpft und Bussy ihren Drogenrausch ausschläft. In der kleinen Wohnung geht die Kamera nah an die Gesichter und erfasst die feinen Übergänge zwischen Wutausbruch und Gelächter, Trotz und Tränen, Schlaf und Wachsein. Ein junger Mann, der gerade geheiratet hat, kommt zusammen mit seinem Vater zu Reda, um sich darüber zu beklagen, dass eine ihrer Töchter ihn als Tänzerin versetzt hat. Seine Ehre sei verletzt. Er droht mit Rache. Während die betreffende Tochter im gleichen Raum vorgibt, tief zu schlafen, redet sich Mutter Reda um Kopf und Kragen und steckt dem Mann schliesslich ein paar Hunderter zu, um ihn von seinen Racheplänen abzubringen.

Musik, Gesang und Bauchtanz gehören in Ägypten zu jedem Hochzeitsfest. Je pompöser und kostspieliger Band und Tänzerinnen, desto angesehener ist der Gastgeber. Paradoxerweise geniessen die Tänzerinnen keinen guten Ruf. Sie gelten als leichte oder gefallene Mädchen und werden oft als Huren beschimpft. Ihre Arbeitszeiten beginnen um elf Uhr nachts und enden morgens um vier. Auf dem Heiratsmarkt haben Tänzerinnen schlechte Karten. Der Freund der im Film porträtierten Amira verlässt sie, weil sie sich nicht von ihrem Beruf abbringen lässt. Doch Amira kann einstecken ebenso wie austeilen. Nach einem lautstarken Streit mit ihrem Freund und ein paar Tränen wünscht sie ihn zum Teufel und schminkt sich für den nächsten Auftritt. Ihr Selbstvertrauen gewinnt sie nicht zuletzt aus der Tatsache, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst verdient.

«At Night They Dance»

Der Film verzichtet auf erklärende Kommentare und beeindruckt umso mehr durch starke Frauenporträts. Neben Amira und der hübschen, aber faulen Bussy arbeitet auch die 15-jährige Hind bereits als Tänzerin. Sie ist die einzige der sieben Geschwister, die nicht mehr bei der Mutter wohnt, sondern zu ihrem Vater gezogen ist, der die Familie verlassen hat. Eine Rebellin, die ihre Beziehung zu einem verheirateten Mann nüchtern als temporär bezeichnet. Sie wolle überhaupt nicht heiraten. Auf dem Nachhauseweg von einem Auftritt als Tänzerin wird sie von der Polizei angehalten und festgenommen, weil sie in ihrem Alter nicht als Tänzerin arbeiten dürfte. Weil ein Verehrer von Hind die Polizei schmiert, wird sie aus der Haft entlassen. Ein paar Tage später steht sie wieder vor dem Spiegel, tuscht sich die Wimpern, legt Rouge auf und pudert die Augenpartie weiss – ein Clowngesicht. Das Tänzerinnenleben geht weiter.

Biography

Susanne Schanda ist freie Journalistin mit Schwerpunkt Naher und Mittlerer Osten und Schnittstellen zwischen den Kulturen. 1960 in Geldrop (Niederlande) geboren, aufgewachsen in der Schweiz, lebt sie heute in Bern. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie vorerst Literatur- und Theaterkritikerin für verschiedene Schweizer Zeitungen, dann Kultur- und später Auslandredaktorin. Seit den 1990er Jahren Beschäftigung mit der arabischen Sprache, Kultur und Gesellschaft und ausgedehnte Reisen im Nahen und Mittleren Osten. Seit 2004 freie Journalistin für Schweizer und internationale Zeitungen, Radio und Web-Publikationen. Follow her on LinkedIn.

Published on January 06, 2012

Last updated on June 27, 2022

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