Dhrupad ist der älteste Kunstgesangsstil Nordindiens, zugleich ist Dhrupad eine uralte Praxis der Gesangsmeditation.
Dhruvapada – meist wird das Wort abgekürzt zu Dhrupad - heisst auf indisch «der ewige Vers.» Dhruva ist der Polarstern, der unverrückbar fest am Himmel steht, Pada bedeutet «Vers». Dhrupad ist der älteste Kunstgesangsstil Nordindiens, zugleich ist Dhrupad eine uralte Praxis der Gesangsmeditation, auch Nada Yoga, Yoga des Klangs, genannt. Beide, Yoga und Klang, beginnen mit dem Atem. Die Atemströme, die aus der Tiefe des Körpers aufsteigen und durch das linke und rechte Nasenloch strömen, geben dem Menschen Orientierung in der Unendlichkeit von Raum und Zeit. Aus dem Atem entsteht der Klang der Stimme, beginnend mit einem einzigen, gleichmässigen Ton von der abgründigsten Tiefe bis zu jubelnden Höhen, vom Groben ins Feinste, vom Spiel zum Ernst, hin zu akrobatischen Rhythmen, bis die Stimme schliesslich für den Sänger zum Spiegel wird: Der Gesang als Weg der Selbsterkenntnis. Eingebettet ist diese Praxis in Melodien, deren Kreislauf den Rhythmus von Tag und Nacht, Jahreszeiten und Spiel der Elemente widerspiegelt.
Obwohl es Texte gibt, in denen diese Yoga- und Gesangstechniken erläutert werden, reicht es nicht aus, Bücher zu lesen – man muss üben, am besten täglich. So beginnt man, mit der Stimme zu leben, gleich ob man den Zugang zu seinem tieferen Selbst sucht oder den Weg eines professionellen Sängers gehen möchte. Leben mit der Stimme – das heisst etwa: Bei Sonnenaufgang den Tag mit dem Ur-Raga Bhairav begrüssen, vormittags mit den Melodien von Raga Todi die Energie der Erde aufsteigen lassen, die nachmittägliche Stunde des Fauns mit Raga Bhimpalasi zu geniessen, im Sonnenuntergang den Ragas des Zwielichts zu begegnen und in der Dunkelheit in nächtlichen Melodien seine Träume zu entdecken.
Es wird gesagt, dass diese Gesangspraxis ihre Wurzeln im Samaveda hat, dem «Wissen von den Gesängen», einem der vier Veden, den heiligen Texte des Hinduismus. Der historisch belegbare Ursprung des Dhrupad ist jünger und geht auf den Bhakti-Kult der liebenden Hingabe zurück, den ekstatische Dichter und Heilige verbreiteten, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts durch Indien zogen. In den heiligen Hainen von Braj – einer Landschaft in der Nähe von Agra – liessen sie sich nieder und liessen die Menschen durch Tanz und Theater, vor allem aber durch Gesang an ihren Visionen teilhaben. Dhrupad – so wurde die neue Art zu singen genannt – wurde bald so bekannt, dass sogar der Moghulkaiser Akbar davon bezaubert war. Er berief den heute noch legendär berühmten Sänger Tansen an seinen Hof.
Während in Einsiedeleien und Tempeln fromme Sadhus die Liebeslyrik der Bhakti-Dichter rezitierten, entwickelte eine neue Generation von Musikern an den Fürstenhöfen eine fast abstrakt anmutende Vokalkunst. Hier entstand die melodische Grundstruktur der klassischen indischen Musik, der Raga, zur Vollendung gebracht. Überliefert wurde das Wissen um diese Kunst in einigen wenigen Musikerfamilien. Eine von ihnen ist die Familie Mallik, deren Vorfahren als Hofmusiker der Fürsten von Darbhanga im Nordosten Indiens lebten. Sie bekamen von dem Maharadscha von Darbhanga Ländereien geschenkt, nachdem die Gründerväter dieser Sängerdynastie, Radhakrishna und Kartaram, durch das Singen des magischen Regenragas Megh eine jahrelange Dürrekatastrophe beendet hatten.
Dhrupad ist eine strenge, ritualisierte Kunst. Seine Regeln müssen unerbittlich eingehalten werden, damit der Raga seine magischen Kräfte entfalten kann. Dhrupad ist kraftvoll und wird traditionell von Männern gesungen. Im 19. Jahrhundert entstanden in Nordindien neue, blumigere Stile, die gefälliger und eingängiger waren und auch von Frauen gesungen wurden. So hatte der romantische Khyal – wörtlich «Phantasie» – dem Dhrupad in der Gunst der Hörer den Rang abgelaufen. Während es im Dhrupad darum geht, die melodischen Linien von allen Verzierungen zu befreien, um den klingenden Körper des Ragas zu entblössen, beherrschen die fein ziselierten Ornamente des Khyal bis heute die nordindische Konzertmusik. Unter Musikern gelten die Melodien des Dhrupad jedoch immer noch als der Massstab, an dem die Ragas gemessen werden, und in den letzten Jahrzehnten hat Dhrupad eine Wiedergeburt erlebt und viele neue Freunde gefunden.
Ein Dhrupad-Konzert folgt einem genau festgelegten Ablauf: Es beginnt mit dem ersten, langen Atemzug des Alap, der Einleitung. Langsam sinken die Stimmen in die tiefe Oktave, Ton für Ton erforschen die Sänger die Gestalt des Ragas. Oft singen mehrere Sänger gemeinsam, denn Dhrupad ist auch eine Demonstration körperlicher Kraft – Dhrupad benötigt die Kraft von vier Elefanten, sagt ein Sprichwort. Ein Puls taucht auf, die Stimmen formen Muster und Wirbel. Dreimal wird das Tempo verdoppelt, bis auf dem Höhepunkt das maximale Tempo erreicht wird, das menschliche Lippen artikulieren können – vollendeter Rap, könnte man sagen, intoniert auf Klangsilben, die sich geschmeidig an die Rhythmen anpassen.
Bis zu diesem Punkt sitzt der Trommler unbewegt neben den Sängern auf der Bühne, jetzt stimmt er seine Pakhawaj, die indische Quertrommel. Schon vor dem Konzert hat er auf das linke Fell einen Teigfladen geklebt, der jedes Mal aus Mehl und Wasser neu zubereitet wird, genau wie ein Chapati, der zum Essen serviert wird. Die Pakhawaj wird mit dem Chapati gefüttert, sagen die Trommler, denn sie spricht wie ein Mensch: Das Fell ist ihr Mund. Jeder Trommelschlag hat eine eigene Silbe, die Silben fügen sich zu Ketten, Sätzen, Geschichten zusammen. Die Trommel ahmt nicht nur die Sprache der Schläge nach, sondern kann auch die Namen der Götter, ihre Eigenschaften und Geschichten rezitieren; jede Silbenkombination, die das Sanskrit kennt, kann auf die Trommel übersetzt werden. Nach dem Spiel kratzt der Trommler den Fladen vom Fell der Trommel wieder ab, da der Teig sonst hart werden würde. «Wenn ein Kind Schwierigkeiten mit dem Sprechen hat, muss man ihm den vom Spiel durchvibrierten Fladen zu essen geben, seine Zunge wird sich unweigerlich lösen», wissen die Pakhawaj-Spieler.
Die Sänger schlagen den Takt auf ihre Oberschenkel oder klatschen ihn mit den Händen, zuerst in einfachem Tempo, dann vervielfachen sie die Geschwindigkeit. Auf dem Höhepunkt brechen sie ab, denn jetzt beginnt ein neues Spiel, bei dem Silben und Töne verändert und neu geformt werden. Die Aufgabe des Trommlers ist es jetzt, den spontanen Einfällen der Sänger zu folgen. Kämpfe zwischen dem Sänger und dem Trommler entspinnen sich; der Sänger hält in dem Stakkato von Silben, die aus seinem Mund strömen, für den Bruchteil einer Sekunde inne, der Trommler muss abwarten, bis er wieder in den Rhythmus einfallen kann. Unerschütterlich schlagen die Hände der Sänger weiter den Rhythmus, der nicht verloren gehen darf. Einige Zuhörer tun es ihnen nach; wer nicht mitmacht, dem entgeht eine Dimension dieses Spiels, aber trotzdem kann man immer noch die majestätischen Konturen des Gesangs geniessen, die einen ganzen Kosmos von Formen in den geheimnisvollen Raum in unserem Gehirn zeichnen, in dem wir Musik entschlüsseln.
Vom Dhrupad zum Rap: Indische Musik mit der Mallik-Family
Von den tiefsten Tönen bis zu jubelnden Höhen, von meditativer Ruhe bis zu akrobatisch schnellen Rhythmen – die Mallik-Family präsentiert eine Spielart indischer Musik, die man in Deutschland nur selten zu hören bekommt. Die Familie führt ihre Traditionslinie auf zwei Sänger zurück, die im 18. Jahrhundert mit dem magischen Regenraga Megh eine Dürrekatastrophe abwendeten und vom Maharaja von Darbhanga zu Hofmusikern ernannt wurden. Ausser den Rhythmen des alten Dhrupad-Stils haben sie auch Khyals, Taranas, Ghazals, Bhajans und Thumri-Lieder im Gepäck. Familienvater Premkumar Mallik wird begleitet von seiner Frau Rashmi, den Söhne Prashant und Nishant und der Tochter Priyanka.