Der Musikethnologe und Musiker John Baily zeigt in seinem Bericht «Can you stop the birds singing?», wie die Musik in Afghanistan unter dem pro-sowjetischen Regime kontrolliert, unter den Mudjahedin zensuriert und von den Taliban verboten wurde.
Innereien von Kassetten, schwarze und braune Bänder, sollen zerstreut neben jedem Wachtposten gelegen haben. Musik im Auto war unter der Herrschaft der Taliban (ab 1996) verboten, Musik auf der Strasse, im Café oder zu Hause auch. Musik verlocke zu Unmoral und halte von religiösen Pflichten ab, proklamierte das «Amt für die Verbreitung von Tugend und Eindämmung der Sünde». Erlaubt waren allein Hymnen auf tapfere Taliban-Krieger und religiöse Gesänge, die nicht als Musik taxiert wurden. Musikinstrumente, Kassetten und Abspielgeräte wurden in Razzien eingesammelt und öffentlich verbrannt, Film und Fernsehen, Theater, Literatur und Kunst als Sünden geächtet, Bibliotheken, Museen geplündert oder zerstört.
Das kulturelle Gedächtnis des Landes sollte systematisch ausgelöscht werden. Allerdings zeigten nicht nur die Taliban Angst vor der Macht der Musik: Das 1978 nach einem Staatsstreich an die Macht gekommene kommunistische Regime kontrollierte stark und vergab Lizenzen an regierungsfreundliche Künstler, und Mujaheddin-Präsident Rabbani (1992 bis 1996) verbot Live-Auftritte von Musikern; vor einem generellen Musikverbot schreckte er jedoch zurück.
«Seit Jahren spielt afghanische Musik nur im Ausland. Alle professionellen Musiker des Landes leben im Exil», erzählt John Baily, Lehrbeauftragter am Goldsmiths College der London University, im Gespräch. Baily gilt als vielleicht wichtigster Kenner der afghanischen Musikszene, er bereist das Land seit dreissig Jahren regelmässig und hat unter anderem mit «Music of Afghanistan: Professional Musicians in the City of Herat» (Cambridge University Press) und «Can you stop the birds singing? - The censorship of music in Afghanistan» (Freemuse) wissenschaftliche Beiträge zum Thema publiziert.
Gemeinsam mit der Menschenrechtsgruppe Freemuse («Free Musical Expression») fordert Baily internationale Unterstützung für afghanische Musiker und Instrumentenbauer und kämpft gegen das Aussterben der Musiktraditionen Afghanistans an. «In der Abteilung für afghanische Musik am Goldsmith College der London University untersuchen wir, was in der Taliban-Zeit wirklich vorgefallen ist. Gleichzeitig wollen wir den Wiederaufbau der dortigen Musikkultur beobachten», erzählt er: «Im Exil, in Iran und Pakistan und ohne Zweifel auch in Usbekistan und Tadschikistan, gibt es heute viele exzellente afghanische Musiker. Wenn sich die Situation in Afghanistan stabilisiert und diese Musiker in ihre Heimat zurückkehren, stehen die Chancen gut, dass die afghanische Musikkultur wieder auferstehen wird. Die Taliban waren nur fünf Jahre lang an der Macht, hätten sie fünfzig Jahre regiert, sähe alles ganz anders aus.»
Die Rolle von Radio Kabul
Baily spricht den internationalen und vor allem den nationalen Radiostationen eine wichtige Rolle im Wiederaufbau der nationalen Musikszene zu. Vor allem Radio Kabul war in der Vergangenheit ein Zentrum für musikalische Aktivität und Kreativität und übernahm musikalische Ausbildungsfunktionen. «Eine institutionalisierte Musikausbildung war in der Vergangenheit kaum existent. Zwar gab es immer wieder kleinere Musikschulen, keiner jedoch ist je die Funktion eines Konservatoriums zugekommen. Ich bin aus diesem Grunde davon überzeugt, dass Radio und Fernsehen beim Wiederaufbau extrem wichtig sein werden.»
Weniger Potenzial und Möglichkeiten sieht Baily in der lokalen Kassettenindustrie, wo Copyrights fehlen und Raubkopien einen Aufbau verunmöglichen. Wie in vielen anderen nichtwestlichen Ländern verdienen hier vor allem die Kassettenhersteller Geld, nicht die Musiker. «Selbst unter den Taliban gab es immer eine geheime, funktionierende Kassettenindustrie», betont Baily. Er zweifelt nicht daran, dass die Städte schon bald wieder voll von Kassettenläden sind. Die Situation allerdings, wo heute eine Kassette aufgenommen und morgen verkauft wird, werde wohl noch eine Weile auf sich warten lassen müssen; zurzeit verkaufe sich hauptsächlich importierte Ware.
Der Beitrag der Musikethnologie
Zentral scheint für John Baily vor allem, dass die Afghanen ihr Interesse für Musik zurückgewinnen und Musik im Alltag wieder einer Rolle zu spielen beginnt: «Die Frage des Wiederaufbaus muss von Radio und TV von oben, aber auch von den Musikern selber, also von unten, angegangen werden. Ich denke hier vor allem an die traditionelle, weit verbreitete Hausmusik der Frauen, an das Singen zu den Tanzrhythmen der Rahmentrommel. Den Musikerinnen muss das Gefühl vermittelt werden, dass es okay ist, diese Art von Musik wieder aufzunehmen.»
Als Musikethnologe will sich John Baily nicht allzu stark in den Wiederaufbau der Musikkultur Afghanistans einmischen. Er will in erster Linie die jüngste Vergangenheit wissenschaftlich aufarbeiten und den Prozess des Wiederaufbaus von aussen mitverfolgen: «Ich bin überzeugt, dass die Afghanen fähig sind, ihre Musikkultur selber wieder aufzubauen. Sie brauchen keine Musikethnologen, die zu ihnen reisen und ihnen sagen, was sie zu tun haben. Sie müssen ihren eigenen Weg finden. Bevor dieser Prozess allerdings beginnen kann, braucht es politische Stabilität. Erst wenn die Sicherheit gewährleistet ist, werden viele Dinge wieder möglich sein. Zurzeit wartet jeder, was passieren wird. Nur wenige Leute werden zurückkehren, bevor sie in Afghanistan keine Sicherheiten sehen.»
Musik ist für Baily ein sehr sensibler Indikator für kulturelle und soziale Prozesse. «Wenn Afghanistan wieder eine freiere Radio- und TV-Kultur kennt, wenn Frauen öffentlich singen dürfen, werden wir daraus schliessen können, dass das Land zu den Freiheiten zurückkehrt, die es in den 1970er Jahren vor dem Bürgerkrieg hatte.» Helfen – so Baily – solle die Musikethnologie auf indirekte Art und Weise, indem sie die vielen Feldaufnahmen, die in der Vergangenheit in Afghanistan gemacht wurden, der breiten lokalen Bevölkerung öffentlich zugänglich macht.
«Die Leute sollen sich darüber informieren können, wie ihre Musik der Vergangenheit geklungen hat. Dies allerdings heisst nicht, dass die Musiker Afghanistans zwingend die alten Traditionen zu reproduzieren brauchen. Die Musikaufnahmen sollen einzig und allein dokumentieren, was früher da war. Ich denke, dass Musiker erst mit diesem Wissen wirklich entscheiden können, wie sie ihre Musik wiederbeleben und welche Stile sie aufnehmen wollen.»
Das Beispiel Iran
Mit der Grundsatzfrage «Can you stop the birds singing?» gibt Baily schliesslich seiner Hoffnung Ausdruck, dass es mit der reichen afghanischen Musiktradition bald wieder aufwärts gehen wird. Er nennt Iran als positives Beispiel für eine Musikkultur, die nach langer Repression eine Renaissance erfahren hat. Ausserhalb der Hörweite der Taliban-Kontrollinstanzen sei in Afghanistan immer Musik gehört worden, sagt er, und: «Man kann Musik eine zeitlang kontrollieren, aber verbieten kann man sie nicht. Eine wichtige Eigenschaft der Afghanen erscheint mir ihre Loyalität zu ihrem Land. Selbst während des Bürgerkriegs gab es immer so was wie eine nationale Identität. Ich weiss, dass viele Afghanen nur darauf warten zurückzukehren. Sie haben Heimweh. Ihr Heimat ist dort, wo ihr Herz ist, ihre Heimat liegt aber auch dort, wo sie ihre zukünftigen Einkünfte und Möglichkeiten sehen. Gerade Musiker lieben den Wettbewerb. Wenn wieder Hochzeiten und andere Feste gefeiert werden, werden sie sich darum reissen, als Musiker aufzutreten.»