Visual Kei ist ein japanische Musikbewegung, die inzwischen auch Europa erobert hat. Der Musikethnologe Oliver Seibt erforscht die Rezeption von visual-kei im deutschsprachigen Raum. Im Podcast und im Interview spricht er über visual-kei als Musikphänomen im Kontext der Globalisierung und dessen strikt hierarchisierte Fangemeinden.
Beitrag von Michael Spahr auf Radio Bern RaBe:
Interview
[Theresa Beyer]: Oliver, was verrät visual-kei über das Phänomen «Musik und Globalisierung»?
[Oliver Seibt]: Bis in die Mitte der 1990er liefen die popularmusikalischen Flüsse meist von den USA oder Europa nach Japan. Seit ungefähr 15 Jahren gibt es auch die umgekehrte Fliessrichtung: visual-kei ist die erste japanische Musikrichtung, die mittlerweile auf fast allen Kontinenten gehört wird – eine Entwicklung, die es ohne das Internet so sicher nicht gegeben hätte.
[TB]: Was ist visual-kei?
[OS]: Ich habe es gerade eine Musikrichtung genannt, aber das stimmt nur zu einem gewissen Grad. Vielmehr als durch die Musik, die von süsslichem Europop bis zu brutalem Death Metal reicht, wird visual-kei durch einen spezifischen Aufführungskontext bestimmt. Die aufwendig kostümierten und geschminkten Musiker sind meist recht feminin wirkende Männer – manche treten sogar ganz explizit in Frauenrollen auf – während die Fans fast ausschliesslich Frauen zwischen 15 und 25 sind.
[TB]: Wie ist visual-kei entstanden?
[OS]: Man sagt, dass der Begriff «visual-kei» vom Cover des zweiten Albums der Band «X-Japan» aus dem Jahre 1989 stammt. Darauf ist ein Symbol mit den Worten «Crime of visual shock» zu sehen. Und «Kei» bedeutet so viel wie «Abstammung». Die in Japan sehr erfolgreiche Band «X-Japan» war beeinflusst vom amerikanischen und auch skandinavischen Glam-Metall. Als 1999 der Gitarrist starb, gingen die Verkaufszahlen stark herunter und die Majorlabel zogen sich zurück. Doch die zweite Visual Kei-Generation lebte dann als Independent-Phänomen wieder auf.
[TB]: Im Zentrum deiner Forschung stehen ja vor allem die deutschen Fans, die sich «Visus» nennen. Welche Fragen stellst du dir?
[OS]: Die «Visus» sind Jugendliche im deutschsprachigen Raum, die über die Rezeption japanischer Popkultur wie Animé, Manga und eben auch visual-kei eine gemeinsame Identität schaffen. Manche sparen das ganze Jahr, um die Konzerte ihrer Lieblingsbands in Japan mitzuerleben. Was treibt sie dazu, soviel Energie, Zeit und Geld aufwenden, und nur wegen visual-kei nach Japan zu reisen oder sogar Japanisch zu studieren?
[TB]: Du hast in Köln Musikethnologie, Kulturanthropologie und Japanologie studiert und versuchst diese Fragen aus der Perspektive dieser Fächer zu beantworten. Warum würde man bei visual-kei mit den Methoden der historischen Musikwissenschaft nicht weit kommen?
[OS]: Wie gesagt ist bei visual-kei die konkrete Ausgestaltung der Musik relativ unwichtig, es geht vielmehr um die soziale Komponente. Was da wirklich passiert, bekommt man demzufolge auch nur auf den Konzerten mit. Neben den Interviews sind deshalb auch die Konzertbeobachtungen ein fundamentaler Teil meiner Forschung.
[TB]: Wie laufen denn die Konzerte in Japan ab?
[OS]: In den Concert Houses spielen vor ungefähr 300 Leuten etwa zehn Bands pro Abend. Dort ist die grösste identifikatorische Einheit die des Banjagu («Bandgirl»), die Fans einer bestimmten visual-kei-Band. Sobald sie die Bühne betritt, vollziehen die bangyaru ein höchst durchorganisiertes Ritual. Es gibt für jeden Song eine vorgeschriebene Choreographie, die von den ranghöchsten Fans entwickelt wird. Auch die begehrten Publikumsplätze vor der Bühne werden vor dem genau Auftritt verteilt.
[TB]: Wie fügen sich da die europäische Fan-Touristen ein?
[OS]: Soweit ich das beurteilen kann, ist das Verhältnis zwischen japanischen und westlichen Fans mitunter angespannt. Die bangyaru konkurrieren um die Aufmerksamkeit der Musiker – wenn da westliche Fans optisch aus der Menge der Japaner herausstechen, ist das nicht so gerne gesehen.
[TB]: Was passiert wenn die europäischen Fans mit diesem Insider-Wissen zurück in ihre eigenen Subkulturen kommen?
[OS]: In Deutschland steigen sie dann in der Visus-Hierarchie auf. Aber das soziale Regelwerk der japanischen Konzerte wird nicht mitimportiert und so passiert räumlich etwas sehr spannendes: Je höher die japanischen Fans in der Hierarchie sind, desto weiter vorne stehen sie an der Bühne. In Deutschland stehen die Kenner aber hinten im Club.
[TB]: Warum setzen sich die westlichen Fans diesem Konkurrenzkampf aus?
[OS]: Da visual-kei aus Japan kommt, können sich die jungen Frauen vom europäischen Mainstream abgrenzen. Gleichzeitig können sie aktiv etwas tun, um in einer Hierarchie aufzusteigen: nach Japan reisen, Choreographien lernen oder sogar Japanisch studieren, um im Internet das Neueste über ihre Lieblingsbands zu erfahren.
[TB]: Wie wird deine Feldforschung dadurch beeinflusst, dass du ein nicht-japanischer Mann Anfang 40 bist?
[OS]: Im Prinzip ist das ein grosser Vorteil, denn im Konkurrenzkampf unter den Fans spiele ich von vornherein keine Rolle. Meine Informantinnen waren daher meistens sehr offen. Einer weiblichen Forscherin hätten sie eventuell weniger erzählt.