photo: Barbara Bonanno/Flickr

Sonische Schlieren aus dem Unterbewussten

Essay
by Heinrich Deisl

Die Serie Sonische Symptome macht sich auf in die Welt des Surrealismus. Ausflüge in musikalische und filmische Gefilde zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen psychologischen und medialen Experimenten, garniert mit krudem Humor. Frage: Gibt es sinnlose Musik, und wenn ja, was muss man dafür tun?

Szene aus »42.nd Street« (1933, Busby Berkeley)

Während sich Noise und Ambient vorwiegend aus einem Technologie-geerdeten Korrelativ ableiten lassen, setzen surrealistische Strategien bei psychologischen Überlegungen an. Mittels Audio-Jokes, Palindromen, Montagen und einem gehörigen Prankstertum wird an jene Meta-Ebenen unbewusster Wahrnehmung aka weissen Flecken in den Soundlandkarten angedockt, die zwischen Traum- und Wachzuständen herumgeistern und Träume als Referenzsystem nutzen. Dafür eignen sich komödiantische, burleske und gar abstruse Taktiken besser als eine (offensichtliche) Katharsis; man denke nur an die von Freud recht breit diskutierte psychologische Funktion des Witzes. Indem der Surrealismus Zufall, Überraschung und Gleichzeitigkeit propagierte, wurde er über diverse Umwege einer der Wegbereiter aktueller Musikproduktion, wenn es darum geht, plausibel zu machen, welche unterschwelligen Logiken beim Drücken der «Random»-Taste von CD-Player, Sampler oder Synthesizer von statten gehen.

1) Surrealismus, [m.], der -. Kunstrichtung. Fatales psychoanalytisches Objekt künstlerischer Begierde. The «-ism» we love to hate.
2) «Das Unterbewusste ist wie eine Sprache.» J. Lacan.
3) Nieder mit der Rationalität, es lebe die Imagination!

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen sich zwei welterschütternde Innovationen gegenüber: das Fliessband und die Psychoanalyse. Der Surrealismus kann als recht direkter Nachfahre des Dadaismus gelten, der diesen von seinen destruktiven Konnotationen «säuberte» und an dessen Stelle die «reine Poesie» setzte. Der Vorstellungskraft («Imagination») sollte – in diversen Manifesten teils recht revolutionär formuliert – jener gesellschaftliche Platz eingeräumt werden, der bisher der Rationalität vorbehalten gewesen war: Bilder, Musik oder Handlungen sollten bewusst «unerklärbar» bleiben. Während Freud mit seiner wissenschaftlichen Methode des «freien Assoziierens» eine «Rationalisierung des Irrationalen» verfolgte, favorisierten die Surrealisten die bewusste Abkehr von der Rationalität.

Le Roi Ubu

Technologies imaginaires

Paris war von Ende des 19. Jahrhunderts bis Mitte der 1930er Jahre das geografische Epizentrum für derartige Avancen. Das Theaterstück Ubu Roi kann als eine der Initialzündungen gelten. Der 23jährige Verfasser Alfred Jarry kassierte 1896 dafür Tumulte, die bis in die späten 1920er nachhallten. Wenig Wunder, denn gleich zu Beginn begrüsst Ubu das Publikum mit einem saftigen «MerdRe!» 1948 wurde Jarry zu Ehren und in Anlehnung an die von ihm erfundene «Wissenschaft» der «’Pataphysique» das Collège de ’Pataphysique gegründet, Mitglieder waren unter anderem: M. C. Escher, Marcel Duchamp und die Marx-Brothers. Dabei folgte die Collège-Zugehörigkeit wohl dem bekannten Ausspruch von Groucho Marx, der meinte: «Ich möchte nicht zu einem Club gehören, der mich als Mitglied hätte.» Und Jean Baudrillard, ebenfalls beim Collège, schrieb 2002: «Die ’Pataphysik ist die höchste Versuchung des Geistes. Der Schrecken des Lächerlichen und der Notwendigkeit führt zur enormen Selbstgefälligkeit, zum enormen Gefurze von Ubu.»

Zufall oder nicht, Jarrys Stück erschien im selben Jahr, als das Kino das Licht der Welt erblickte. Da mag es fast nicht wundern, dass Jarrys Frühwerk eigenen Aussagen zufolge von Henri Bergson beeinflusst war. Das Kino hat sich im Laufe der Jahrzehnte als eines der probatesten Transportmedien des Surrealismus entwickelt, wohl besonders deshalb, weil der Film in ziemlicher Eindringlichkeit genau jene Regionen psychologischer Vorgänge, Zeitsprünge und falscher Anschlüsse abbilden konnte, die den vergleichsweise «abstrakteren» Medien Text und Theater verborgen blieben. Die vielleicht überzeugendste Zusammenführung eines interdisziplinären Ansatzes wurde mit «Reláche» geliefert. Für das 1924 aufgeführte Theaterstück hatte Erik Satie die Musik übernommen, Duchamp und Man Ray waren ebenso mit von der Partie. Dieses burleske Ballett verdankte seine Bekanntheit nicht zuletzt dem in der Pause projizierten Kurzfilm «Entr’act» vom jungen René Clair, in dem sich albtraumhafte Farce, Tanzszenen à la Busby Berkeley und Ballett gekonnt ineinander verzahnen.

Einigen gingen diese «Kunstexperimente» nicht weit genug, man wollte viel tiefer in die menschliche Psyche eindringen. Weshalb das ausgeprägte Interesse des Surrealismus für alles Mystische und Metaphysische wenig später beispiellos umgesetzt wurde: Wie viele Bücher mag es geben, die sich mit der psychologischen Aufschlüsselung der beiden surrealistischen Hauptwerke Le Chien Andalou (1929) von Luis Bunuel/Salvador Dali und Jean Cocteaus Le Sang dun Poéte ein Jahr später beschäftigen und dabei zur Überinterpretation neigen, da die Surrealisten genau das erreichen wollten, eben dass das alles keinen Sinn machte. Aber wie hört sich Musik an oder sehen Filme aus, die «sinnlos» sind? Dabei steht eine musikalische Verortung des Surrealismus unter einem vergleichsweise schlechten Stern. So war die Ablehnung von André Breton, selbsternannter «Thinktank» des Surrealismus, praktisch jeder Musik gegenüber hinlänglich bekannt: Ein 1944 publiziertes Essay trug den vielsagenden Titel Stille ist golden.

Le Chien Andalou (1929)

Surrealistische Musik!?

Interessanterweise wird man Compilations über «sinnlose» Musik umsonst suchen. Lobende Ausnahme: «Surrealism Reviewed» (LTM, 2002), das aber auch nur die Periode 1929-63 abdeckt. Diese Lücke wird von der schön aufgemachten und mit reichlich Stoff für die Diskursbirne versehenen Compilation «’Pataphysics» (Sonic Arts Network, 2005) aufgefüllt. Die vom Collège-Mitglied Andrew Hugill zusammengestellten Aufnahmen reichen dabei von Jarry und Boris Vian über «Palindromes Phonétiques» von Luc Etienne bis 2005. Mit darauf auch «Marche Funèbre» von Alphonse Allais, «komponiert» 86 Jahre vor Cages «4'33''» von 1952, eine Partitur, auf der zwar einige Notenzeilen aber keine einzige Note aufgezeichnet sind. Und schliesslich verortet Andrew Jones in seinem Buch Plunderphonics, Pataphysics and Pop Mechanics (SAF, 1995) die musikalische ’Pataphysik in «TV, Pop-Tunes, Film Noir, Free Jazz, moderner Kunst, kulturellen Ikonen, Folk Songs, das klassische Repertoire und die Sprache der Strasse werden zu einem neuen, surrealistischen Ganzen zusammengefügt, es ist Musik über Musik, eine Metamusik.»

Backflash: Die Cut-Up-Experimente von Brion Gysin/W.S. Burroughs leisteten ein technologisch-mediales Update surrealistischer Montagetaktiken; Nach den Pariser Studentenunruhen 1968 – wo eine Mischung aus Surrealismus und Karl Marx zu Parolen wie «Alle Macht der Imagination» geführt hatte - und den Soundeskapaden auf «Revolver» (1966) von den Beatles oder «Surrealistic Pillow» (1967) von Jefferson Airplane sowie den psychedelischen Blues-Collagen von Captain Beefhearts «Trout Mask Replica» (1969) und dem Jazzkrach von Henry Cow oder Soft Machine war die Zeit reif für eine Verschmelzung aus aktualisierter Psychoanalyse und postindustrieller Musik mit den Film- und Theatercodes des historischen Surrealismus als Bindemittel.

Wenig Überschneidung mit aussereuropäischer Kulturpraxis

Die frühen Platten des britischen Einmannprojekts Steven Stapleton aka Nurse With Wound (NWW) stellen einige der diesbezüglich eindringlichsten Versuche dar. Die auf seinem eigenen Label United Diaries veröffentlichten Platten «Merzbildschwet» (1980) und «Homotopy to Marie» (1982) sind Hörspielartige Soundtracks für Wachtraumzustände, die mit teils recht kruden Krautrock-Referenzen daherkommen. Das NWW-Debüt «Chance Meeting On A Dissecting Table Of A Sewing Machine and Umbrella» (1979) zitierte einen Slogan aus dem Buch Die Gesänge des Maldoror (1869) des Dichters Lautréamont, das die Surrealisten als einen ihrer «heiligen Texte» eingemeindet hatten. NWW erntete bei der Plattenbesprechung im renommierten englischen Magazin Sounds anstatt der üblichen Sterne-Bewertung fünf «?», was ja nicht unbedingt gegen die Platte spricht. Dagegen drehte NWW auf «The Sylvie and Babs High-Fi Companion» (1985) schmalzigen 60s Rock und Jazz derart durch den Reisswolf, dass nach der Zusammenführung von Psychedelic und einer Art Anti-Muzak praktisch nur noch eine Ahnung von Pop übrig blieb.

Video nicht mehr verfügbar.

Die deutsche Collagenband Hirsche Nicht aufs Sofa (HNAS) brachte Platten wie «Im Schatten der Möhre» (1987, DOM) heraus und nannte ihre Stücke «Speck des Jahres» oder «Motorbiene (Du geiles Luder)». In diesem Fahrwasser finden sich zahlreiche Überschneidungen zur experimentellen Tondichtung bei frühen Werken von Asmus Tietchens, P16.D4 oder Rowenta/Khan; In Richtung Pop lassen sich The Tape-Beatles und People Like Us nennen, wobei diese durch exzessives «Cut’n’Paste» Raubbau an der tradierten Musikhistorie betreiben und eine «Musik über Musik» produzieren. Klar gibt es starke Überschneidungen zum Ambient: Coil etwa, die auf einigen Alben – zum Beispiel «Horse Rotorvator» (Some Bizarre, 1986) – recht deutlich surrealistische Bezüge anklingen liessen, welche sich aus einer psychologisch aufgeladenen Metaphysik speisten. Nicht umsonst kann «Coil» als «Spirale» übersetzt werden, ein Symbol, das bereits den ’Pataphysikern als emblematische Denkfigur diente.

Trotz anderslautender Intentionen lassen sich nur wenige wirkliche Überschneidungspunkte zwischen surrealistischer und aussereuropäischer Kulturpraxis ausmachen. So hat sich die surrealistische Musik praktisch gar nicht zum Beipsiel mit den trancehaften Zwischenzuständen afrikanischer oder afro-karibischer Percussion-Rhythmen auseinandergesetzt. Ähnlich wie bei Noise und Ambient bleibt das Transportmedium zum Unterbewussten auf der Soundebene haften.

Dreams Are my Reality ...

Klar sollten derartige Eruptionen nicht nur in das Avantgarde- sondern auch ins Mainstreamkino à la «Hollywood Surrealism» Eingang finden, wobei die Palette von H. C. Potters «Hellzapoppin’» (1941) über Kenneth Angers ziemlich direkt an Cocteaus Bildsprache anknüpfenden Film «Fireworks» (1947) bis etwa «Mulholland Drive» (2001) von David Lynch reicht. Um von den Filmen von Maya Deren, der Komikergruppe Monty Python und den Cartoons von Tex Avery oder Max Fleischer erst gar nicht zu reden. Wie nicht anders zu erwarten, würden sich für diese Künstler genauso viele Argumente dafür wie dagegen finden, dass sie surrealistische Strategien verwendeten: Auffällig ist, dass sich heutzutage die wenigsten Künstler oder Musiker als Surrealisten bezeichnen würden.

Surrealismus, ein weiterer, historischer, überbewerteter «-ismus»? Nicht ganz. So hatte etwa das «Surrealist Movement in the United States» seine Stossrichtung seit den 1970ern in Richtung Anti-Diskriminierung und Anti-Rassismus erweitert, eingedenk dessen, dass Jarry und später die Surrealisten als eigentlichen ideologischen Kern zum gesellschaftlichen Ungehorsam aufgerufen hatten. Weshalb Hugill in den Linernotes zu «’Pataphysics» schreibt: «Es ist angeraten, während die Musik läuft, alles andere zu tun, als diese Texte zu lesen. Aber wie schon Jarrys ‹Armee der Freien Menschen› jede Regel systematisch missachtete, besteht kein Zweifel, dass Sie diesen Ratschlag ignorieren werden.»


Ressourcen

www.kunstwissen.de · www.surrealistmovement-usa.org · www.college-de-pataphysique.org · www.mti.dmu.ac.uk

Der Text ist erstmalig erschienen im Journal für Musik Skug 2006/07.

Biography

Heinrich Deisl is a Viennese music journalist and pop culture theoretician. He is editor in chief of skug – Journal für Musik, produces broadcasts for Radio Ö1, and is writing his PhD thesis on sound topographies of Viennese popular culture.

Published on October 08, 2013

Last updated on April 09, 2024

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