Wann gehen wir zurück?
In diesem Text reflektiert die in Deutschland lebende lurische Sängerin Pardis Zarghampour ihr Verhältnis zur Kultur der Luren, einer iranischen Volksgruppe, die bis ins 20. Jahrhundert überwiegend nomadisch lebte. Insbesondere die Musik spielt in der Kulturvermittlung eine bedeutende Rolle.
Um sagen zu können, wie es dazu kam, dass ich heute lurisch singe, bedarf es der Darstellung verschiedener, einem Teppich gleich ineinander verwobener Kontexte. Es ist ein Zusammenspiel und eine Chronologie meines lurischen, indigenen Erbes, meines Privilegs, mit Musik aufgewachsen zu sein und meiner späteren Politisierung. Diese hat insbesondere meine Wahrnehmung sensibilisiert, meinen Blick auf Kolonialismus geschärft und den Wunsch befördert, kolonialistische Einflüsse zu dekonstruieren.
Naturkunde und Kleider der Ahn*innen
Ich wurde im Jahr 1994 in Kohgiluye-Boyerahmad geboren, eine der 31 Provinzen Irans. Kohgiluye-Boyerahmad liegt im Südwesten des Landes und erstreckt sich über das Zagros-Gebirge, das der Provinz eine unvergleichliche Natur beschert. Die extremen Höhenunterschiede bedingen in verschiedenen Regionen und Städten der Provinz sehr kontrastreiche klimatische Bedingungen. Kohgiluye-Boyerahmad gilt als die Provinz der vier Jahreszeiten, die sich zeitgleich ereignen. Die Geographie erzählt uns viel über die Lebensumstände unserer Ahn*innen. Über 95% der dortigen Bevölkerung sind ethnische Lur*innen, ursprüngliche Nomad*innen. Heutzutage leben sie fast ausschliesslich sesshaft, die Naturnähe und Naturkunde unserer Vorfahren blieb ihnen jedoch erhalten. Dass diese nicht in Vergessenheit geraten sind, ist unserer Kultur, unseren Traditionen und unserer Sprache zu verdanken. Bis heute wird im Alltag, ausgenommen in Schulen und Ämtern, lurisch gesprochen. Frauen älterer Generationen tragen traditionelle Trachten und die Jüngeren interpretieren sie modern, neu und farbenfroh. Auf unseren Hochzeiten – und das ist im gesamten Iran trotz seiner ethnischen Vielfalt eine Seltenheit – tragen alle Generationen ausschliesslich die Kleider unserer Ahn*innen, von westlichen Cocktail- und Abendkleidern keine Spur.
Oral History
Diesem reichem Kontext wurde ich sehr früh entrissen. Viel früher als man glauben mag, habe ich den tatsächlichen Schmerz von «Heimweh» erlebt. Nächtelang weinte ich mich im Kleinkindalter in den Schlaf und sprachlich war ich zu mehr nicht imstande, als verzweifelt zu fordern: «Wann gehen wir zurück?»
Meinen Eltern gelang es, mir trotz Migration ein authentisches Verständnis meines lurischen Erbes zu vermitteln. Eine sehr wichtige Rolle spielt dabei lurische Musik, die bis heute so viele meiner Erinnerungen untermalt. Lurische Gesänge sind der Inbegriff mündlich überlieferter Geschichte, Oral History. Mein Wissen über die Natur von Zagros, über die nomadische Lebensart und Mentalität beziehe ich aus diesen Gesängen, die beispielsweise auch von den vielen imperialistischen Schlachten und Kriegen handeln, die die frei umherziehenden, autonomen Lur*innen bezwingen und unterwerfen wollten. Ihre Opfer und Held*innen werden bis heute in Klageliedern besungen. Lurische Musik schmeichelt den Ohren, versetzt in Heimatberge zurück, stillt Sehnsucht und bedeutet Bewusstsein, wer wir sind und woher wir stammen.
Spott und Diskriminierung
Sichtbarkeit lurischer Identität, ihre Repräsentation und Wertschätzung wird seit jeher unterdrückt. Aufgrund der in der iranischen Gesellschaft sehr stark bestehenden Anpassung an westliche Ideale sowie einer sehr eurozentrischen Definition von Zivilisation, Fortschritt und Progressivität, sind Menschen wie Lur*innen damit konfrontiert, sich diesem Ideal der zu einem grossen Teil verwestlichten Bevölkerung Teherans anzupassen. Sie sollen Persisch mit dem «tehrooni»-Singsang der Hauptstadt sprechen, sie sollen sich wie Menschen dort kleiden, wenn sie keinen Spott, keine rassistischen Klischees bis hin zu Chancenungerechtigkeit und Ausschluss auf sich ziehen wollen. Wer seine ethnische «Dörflichkeit» ablegt wie die lurische Sprache und Kleider – so das falsche Versprechen – könne Gleichberechtigung und Anerkennung erfahren.
Im Februar 2022 bin ich in einer Folge eines populären, deutschen YouTube-Formats des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in lurischer Tracht aufgetreten. Ich sprach über Sichtbarkeit, Repräsentation, über Zentralismus und Globalisierung und wie im Zuge dessen ethnische, indigene Gruppen in Vergessenheit geraten. Dieser kurze Beitrag wurde in den lurischen Provinzen Irans tausendfach geteilt. Menschen aus meiner Heimat wollten daraufhin ausfindig machen, wer ich bin. Eine Lurin im deutschen Fernsehen? In lurischer Tracht? Es war ihnen kaum begreiflich.
Sicht- und hörbar lurisch sein, lurisch zu singen und zu musizieren, wirkt dem Irrglaube entgegen, nicht sehenswert zu sein. So können Lur*innen sich ihrer selbst vergewissern und daraus Kraft schöpfen. Sie können Erinnerungen mobilisieren, neue Ziele und Forderungen formulieren. Dann bedeutet Singen nicht mehr nur Kunst, Singen wird zu einem politischen Akt. Ilyad bedeutet auf Lurisch Erinnerung an die lurischen Stämme, die durch Zagros ziehen. Mögen wir das Echo in Erfahrung bringen, dessen Widerhall wir einst aus Zagros vernahmen.
Dieser Text ist Teil des Norient Specials «Klangteppich: Voices from the Iranian diaspora and beyond», erstmals veröffentlicht im gedruckten Magazin zur 5. Ausgabe von «Klangteppich. Festival für Musik der iranischen Diaspora». Das Special wurde kuratiert und editiert von Franziska Buhre. Klangteppich V (2023) wird unterstützt vom Hauptstadtkulturfonds Berlin.
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Published on April 18, 2024
Last updated on April 18, 2024