Im Stadtteil Pigneto im Osten Roms floriert die «italian occult psychedelia»-Szene. Die morbide bis psychedelische Musik verarbeitet die Krise und setzt auf düstere und experimentelle Sounds.
Verlässt man den historischen Stadtkern der Ewigen Stadt und begibt sich in die Vororte und Randbezirke, dann ist Rom eine ziemlich sonderbare Stadt. «Man hat einzelne Viertel und dazwischen nichts, dann wieder ein Viertel und dahinter nichts, braune Felder, antike Ruinen, moderne Ruinen, zeitgenössische Ruinen. Wenn man das zu Fuss erkundet, kann man spüren, wie verfallen, verrostet und ruinös alles ist. Es gibt Stadtteile, wo man sich fast wie in Europa fühlt, und andere, wo man glaubt, in Nordafrika oder dem Nahen Osten zu sein, wie hier zum Beispiel», erklärt der Musikjournalist Valerio Mattioli. Der multikulturell geprägte Stadtteil, von dem Mattioli spricht, heisst Pigneto und liegt im Osten Roms. Hier gedeiht seit einigen Jahren eine Musikszene, die im römischen Musikmagazin «Blow Up» als «italian occult psychedelia» bezeichnet wurde und deren Musik düster, experimentell und esoterisch ausgerichtet ist. Mattiolis Band Heroin In Tahiti, die mit ihrem Album «Death Surf» über Italien hinaus bekannt wurde, kommt auch von hier. «Pigneto war und ist ein ebenso beliebtes wie armes Viertel», erläutert Mattioli. Seit den 1940er,1950er Jahren wurden die Viertel im Osten Roms von Filmregisseuren und Autoren des Neorealismus wie Rossellini und Pasolini benutzt, weil sie als symbolische Orte für einen generellen Zustand Italiens taugten – sehr arme Viertel, mit Favelas vergleichbar. Später gab es die in Italien berühmten «RanXerox»-Comics, die von genau dieser Gegend inspiriert waren, weil sie arm, schmutzig und manchmal auch voller Gewalt war.
«Da ich hier aufgewachsen bin, spüre ich die Veränderungen der letzten zehn Jahre sehr genau», sagt Mattioli. Es seien sehr viele Leute hierhin gezogen – aus anderen Teilen der Stadt, aus anderen Städten, sogar aus anderen Ländern. «Viele haben angefangen, Musik oder Kunst zu machen. Bald ist daraus eine richtige Community entstanden, eine grosse Familie.» Zur «grossen Familie» zählen Bands und Projekte wie Heroin In Tahiti, Cannibal Movie, Mai Mai Mai, La Piramide Di Sangue, Donato Epiro, Gianni Giublena Rosacroce oder In Zaire – und Labels wie No=Fi Recordings, Yerevan Tapes und Boring Machines (das allerdings im Veneto sitzt) und nicht zuletzt Klubs wie das «Dal-Verme», wo seit 2012 jährlich das dreitägige Musikfestival Thalassa stattfindet – quasi als Showcase der italienischen Occult-Psychedelia-Szene. Thalassa ist ein grosses Festival in kleinem Rahmen: Denn das «DalVerme» ist eine nur etwa fünfzig Quadratmeter grosse Kneipe samt Konzertkeller, wo Monat für Monat Auftritte von italienischen Geheimtipps und internationalen Underground- Grössen stattfinden. Veranstaltet wird Thalassa von Toni Cutrone, einem zentralen Aktivisten in Pigneto, der auch No=Fi Recordings und das «DalVerme» betreibt und unter anderem als Mai Mai Mai Platten veröffentlicht. «Occult Psychedelia ist nicht bloss ein journalistisches Schlagwort, sondern etwas, was man spüren konnte, bevor es so hiess», sagt er. «Und es betrifft nicht nur Musik aus Pigneto, sondern aus ganz Italien. Es ist real, all die Bands, die dazugehören, sind untereinander befreundet, man arbeitet schon seit Jahren zusammen. An einem bestimmten Punkt wurde es wahrgenommen und mit einem Namen versehen – ein Begriff verleiht einer Sache ziemlich viel Power.»
Kultur und Gentrifizierung
Als Hauptquartier der Szene habe das Thalassa-Festival alles zusammengehalten. «Eine Location verleiht einer Sache noch mehr Anziehungskraft », erklärt der ambitionierte Tausendsassa nicht ohne Stolz. Vom 2. bis 4. April wird das Thalassa nun vorerst zum letzten Mal in Rom stattfinden. Toni Cutrone ist auf Export eingestellt und plant für die Zukunft verschiedene Thalassas in London, Paris und natürlich Berlin, wo er in den Nullerjahren eine Zeitlang gelebt hat. Pigneto ist heute ein Schmelztiegel der Kulturen, der von alteingesessenen Römern, Bangla, Chinesen, Süditalienern und seit einigen Jahren zunehmend auch von Musikern, Künstlern und Studenten bevölkert wird. Dem unweit davon gelegenen Bohème-Viertel San Lorenzo läuft Pigneto langsam den Rang ab. Seine Multikultur trotzt vor allem dem Klischee, dass in Italien mit zeitgenössischer Kultur nichts mehr los sei. Dennoch bleibt das Viertel auch ein sozialer Brennpunkt mit sozialer Not, Drogen und Gewalt. Die Mischung aus sozialer Malaise, kulturellem Aktivismus und schleichender Gentrifizierung prägt die sonderbare Atmosphäre des Stadtteils, wie Mattioli bestätigt: «Die kulturelle Geschichte des Viertels und der gesamten Gegend im Osten Roms ist zu einer Marke einer generellen Gentrifizierungswelle geworden.
«Pasolini, der hier gelebt und gewirkt hat, sei heute eine kommerzielle Ikone, Fotos von ihm hingen an den Wänden der Bars. Und es kämen jetzt auch Reiche aus dem Norden Roms hierhin: «Sie suchen den Thrill eines armen, schmutzigen und gefährlichen Viertels.» Allerdings erweist sich die Gentrifizierung hier als merkwürdig heterogen. Und heterogen und stilistisch vielfältig gestaltet sich auch der Sound der sogenannten Occult-Psychedelic-Szene. Eine Gemeinsamkeit besteht in den historischen Bezügen, wie Toni Cutrone bemerkt: Italien sei ein Land, das sich stark an der Musik aus Nordamerika orientiert habe, auch im Underground und in der Independent-Szene. «Ich weiss nicht, ob man sich jetzt mit der italienischen Tradition brüsten sollte, auf jeden Fall hat man angefangen, sich auf Dinge zu beziehen, die wir im Blut haben: auf italienischen Prog-Rock aus den 1970er und 1980er Jahren oder auf die vielen Soundtrack-Musiker. Es sind solche Einflüsse, die jetzt vermischt werden. So entsteht etwas, was besonders ist, was seine Wurzeln in unserem Land hat.»
Frustration verbindet
Als Beispiel könnte man die Gruppe Father Murphy aus dem Nordosten nennen, die sich mit den dunklen Seiten des Katholizismus befasst. Oder La Piramide di Sangue, eine Band, die sich am Süden, an Afrika und am Nahen Osten orientiert. Oder Donato Epiro, der nach italienischen Soundtracks der 1970er Jahre klingt. Oder Heroin In Tahiti – sozusagen ein neuer Ennio Morricone mit Death-Surf-Sound. Alle machen sie zwar eine eigene Musik; aber alle sind sie dadurch miteinander verbunden, dass sie sich auf eine gemeinsame Vergangenheit, eine gemeinsame Kultur, eine gemeinsame Tradition beziehen. Solche Bezüge geraten schnell unter Retro-Verdacht. Für Valerio Mattioli stehen die historischen Anklänge aber gar nicht im Vordergrund. Die experimentierfreudige, düstere, esoterische, vernebelte und heruntergekommene Do-it-yourself-Psychedelik aus Pigneto und anderen Teilen Italiens bringt aus seiner Sicht vor allem eine kollektive Erfahrung im Hier und Jetzt auf einen gemeinsamen Nenner: Die ökonomische Krise Italiens schaffe ein verbindendes Gefühl von Frust und Depression.
«Dagegen stemmt sich Ministerpräsident Renzi mit seiner dämlichen optimistischen Rhetorik, nach dem Motto: Jung gegen Alt, weg mit den Alten!» Dabei kämen die Künstler in ihrem Prekariat nicht umhin, Krise und Niedergang quasi zu akzeptieren und jedenfalls mit den Widersprüchen zu arbeiten. Mattioli formuliert das Motto so: «Lasst uns dieses Abgefuckt-Sein ausstellen, statt uns weiter etwas darauf einzubilden, im Land von Ferrari, Haute Cuisine und Spaghetti zu leben. Es ist vielleicht unbewusst, aber bei all den Bands, die uns nahestehen, geht es darum, das Abgefuckte und den Verfall zu umarmen.»