photo: ulleo/Pixabay

Musik wie gut fortgeschrittene Verwesung

Interview
by Hannes Liechti

Er will mit seiner Musik «Hirnwellen auf Muster angleichen, die wir auch während Trance-Zuständen haben» und so «das Bewusstsein erweitern». Der Schweizer Noise-Musiker Rudolf Eb.er, der in Japan lebt, veröffentlichte vor kurzem auf seinem Label Schimpfluch sein neues Album Brainnectar. Für Norient gibt er Einblicke in das Universum von seinen – wie er es nennt – «psychoactive Acoustics» und spricht über die Zusammenarbeit mit der japanischen Noise-Musikerin Junko Hiroshige.

Psychoactive Acoustics by Rudolf Eb.er

[Hannes Liechti]: Was hat es mit dem Albumtitel Brainnectar auf sich?

[Rudolf Eb.er]: Von Tonbandaufnahmen und Tonbandmanipulationen ausgehend, befassten sich meine Arbeiten meist mit dem Körper und der Psyche. Die Abreaktion, die Katharsis, das Ausleben von Konflikten mit den inneren Dämonen bescherte dann den Einstieg in den Aktionismus und dessen direkte Verbindung mit experimenteller Tonkunst. Dabei entwickelte ich auch die «psycho-physikalischen Tests und Trainings». Sehr physikalische Performances, die aber einen therapeutischen Zweck erfüllen. Durch eine sehr merkwürdige Aneinanderreihung von Begebenheiten entdeckte ich in den letzten Jahren Kundalini Yoga und Tantra Techniken und Ideen, die ganz verblüffende Ähnlichkeiten zu meiner Arbeit aufweisen. Es geht dabei vorallem um psycho-physikalische Energie oder auch Hitze, die, vereinfacht ausgedrückt, vom Beckenboden bis ins Hirn aufsteigt und von dort – bei Vereinigung mit dem Ursprung aller Dinge – als Nektar hinunter tropft. Brainnectar spielt also auf diese Versinnbildlichung von Bewusstseinserweiterung beziehungsweise auf bewusstseinserweitende Techniken an.

[HL]: Welche Sounds sind auf dem Album zu hören?

[RE]: Ich nenne die Sounds auf Brainnectar gerne «psychoactive Acoustics» und sie lassen sich grob in drei Gruppen unterteilen. Eine Gruppe wären Feldaufnahmen. Zum Beispiel die von Wasser, Feuer, Wind, die von Fliegen, Zikaden und anderen Tierschwärmen, oder die von Stromtransformatoren und ähnlichen technischen Installationen, die ich ebenfalls «im Feld» aufgenommen habe. Ich will hier gleich noch anmerken, dass ich Japan lebe – zwischen Grossstadt und Natur, wo sich solche Sounds finden lassen. Hier finden vor meiner Haustüre auch Shinto Rituale statt, um die bösen Geister zu vertreiben. Was mich zur nächsten Gruppe von Sounds bringt.

Das wären die Instrumente. Meist sehr simple Instrumente wie sie auch zur Induktion von Trancezuständen im Schamanismus benutzt werden. Also die grosse Trommel, die Rassel, die Flöte. Dann wäre noch die für mich eher ungewöhnliche Gruppe elektronischer Sounds. Genauer gesagt handelt es sich dabei um binaurale Beats und isochrone Töne. Aus der Liste lässt sich erkennen, dass es mir weitgehend um Sounds geht, die uns psycho-physikalisch beeinflussen. Binaurale Beats sprechen die zwei Hirnhälften getrennt an – wenn man den Kopfhörer benutzt – woraus im Gehirn selbst eine neue Frequenz entsteht die tiefer ist als was im Bereich des Hörbaren liegt. Damit sollten sich die Hirnwellen auf Muster angleichen, die wir auch während Trance-Zuständen haben. Der Rhythmus isochroner Töne kann ähnliche Wirkung haben. Aber auch das weisse Rauschen eines Wasserfalls oder der Rhythmus der Schlaghölzer bei den Riten vor meiner Haustüre kann abnorme Zustände erwirken.

Die Unterteilung in drei Gruppen, wie ich sie hier vorgenommen habe, spielte bei der Komposition aber keine Rolle. Ich habe mich bei den meisten Tracks allein darauf konzentriert, ob und wie mein eigener Körper auf die Sounds reagiert. Zum Beispiel durch ein gut fühlbares Rieseln auf der Stirn oder gleich unterhalb der Schädeldecke. Oder auch in der Kehle oder anderen Stellen des Körpers. Es kann auch soweit führen, dass das Rieseln derart anschwillt bis es zum Erhitzen und dem Hinuntertropfen von «Nektar» – oder eben «Brainnectar» – kommt. Im extremen Fall war es auch wie ein Verschieben oder Abgleiten in eine andere Realität. Nicht alle Zuhörer werden den selben Effekt im selben Ausmass erleben. Und dabei will ich feststellen, dass es auch nicht um den Effekt geht. Es geht nicht um die Sensation, sondern darum, dass der Sound uns hilft, den psychischen Körper ersteinmal zu erkennen und ihn dann zu trainieren. Je eher man sich darauf einlässt und damit arbeitet, desto grösser wird auch die Wirkung. Die Musik hat hier also die Funktion, das Bewusstsein zu erweitern. Oder wenigstens das Ziel der Bewusstmachung, dass es etwas zu erweitern gäbe.

[HL]: Du hast für die Produktion mit der Japanerin Junko Hiroshige zusammengearbeitet. Was ist so aussergewöhnlich an ihr?

[RE]: Ich kenne Junko nunmehr seit über zwei Jahrzehnten, aber es war erstmals Ende 2012, dass wir zusammenarbeiteten. Sie nahm an unserem Schimpfluch Festival Extreme Rituals in Bristol teil. Dabei hatten wir eine Performance zu zweit. Diese zierliche, schüchterne und stille Frau stellt sich auf die Bühne und schreit. Und schreit derart massiv und lange und ohne Unterbruch, dass sie einen ganzen Saal dauerhaft in ihren Bann schlägt. Ein kollektives Schaudern sozusagen. Es ist kaum zu fassen, was sie da rausholt und wie sie das rausholt. Nach der Performance ist sie wieder dieselbe stille Person wie vorher. Auch kein wenig heiser.

Mit Hijokaidan und in anderen Formationen ist ihre Stimme stets Teil einer Wall of Noise. Ich bin froh, sie ganz anders zu positionieren. In ganz anderen Zusammenhängen und Proportionen als gewohnt. Ein Brainnectar Stück, das mir ganz speziell ans Herz gewachsen ist, untermalt Junko mit Flöten. Das Resultat hat einen ganz neuen Geruch. Ich streite ästhetische Motivationen in meiner Musik zwar gerne ab. Aber ich will nicht leugnen, Stimmungen zu erzeugen, die ich dann auch gerne durch Gerüche bezeichne. Hier zieht was süsslich Verbranntes durch die Luft, vielleicht mit dem Geruch von Katzenurin zu vergleichen. Aber Brainnectar ist oft gut fortgeschrittene Verwesung.

Rudolf Eb.er

Interview von Simon Spahr mit Rudolf Eb.er, Zürich 2012

Biography

Hannes Liechti lives in Bern, Switzerland, as a popular music scholar/lecturer, curator, cultural producer, and content editor. He is the head of KULT Student Agency at Bern Academy of the Arts HKB. Since 2021, he is part of the executive board of the concert organizer bee-flat and in 2024 he was elected as a member of the Cultural Commission of the City of Bern. Liechti teaches history of popular music at Paderborn University, Germany. From 2013–2024 he worked as a producing manager and as a curator/editor for Norient. He co-published «Seismographic Sounds: Visions of a New World» (2015) and co-curated the corresponding exhibition on global pop. He edited the digital publication «Sampling Politics Today» (2020) and published his PhD on the culture of sampling in experimental electronica with Norient Books (2022). Follow him on Instagram or LinkedIn.

Published on February 11, 2015

Last updated on October 26, 2020

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