Im kollektiven Gedächtnis ist «Wind of Change» der Soundtrack zum Mauerfall. Nach einer ostdeutschen Hymne sucht man aber vergebens – in der turbulenten Zeit wollte kein Lied so recht passen, das gesprochene Wort hatte die Macht. Welche Lieder haben den Untergang der DDR begleitet? Eine Spurensuche in den letzten Monaten vor dem 9. November 1989.
Sehen wir die Bilder vom Berliner Mauerfall 1989, haben wir sofort ein Lied dazu im Kopf: «Wind of Change» von den Scorpions. Der vermeintliche Soundtrack ist aber ein mehrfacher Anachronismus. Das Lied wurde zwar im Sommer 1989 geschrieben, kam 1990 auf Platte heraus und wurde erst 1991 zum Welthit. Auch ein anderes Lied beansprucht für sich, die Mauerfall-Hymne zu sein:
David Hasselhoff steht auf der Berliner Mauer in einer blinkenden Lederjacke und alle jubeln im zu. Perfektes Setting – aber leider zu spät. Die Party war nicht der Mauerfalltag am 9. November sondern die Silvesternacht fast zwei Monate danach.
«Wind of Change» und «Looking for Freedom» legen sich wie ein Soundtrack über den Film der Erinnerung. Als die Mauer fiel kannte sie noch niemand. Und: beide Lieder kommen aus dem Westen und deuten die Geschichte aus ihrer Sicht. Wo sind die Lieder hin, welche die Menschen in der DDR durch die turbulente Wendezeit begleitet haben?
Die Stimmung im langsam untergehenden Staat beschreibt der rockig-wilde Song «S.O.S.» von Silly, ein Hilferuf vom Narrenschiff DDR, erschienen im Februar 1989. Die Bürgerinnen und Bürger fühlen sich von der politischen Führung missverstanden und fremdbestimmt:
Immer noch schwimmt da vorn der Eisberg
Nur die Spitze ist zu sehn
Immer noch träumen wir von Heimkehr
Und vertraun dem Kapitän.
Ein ähnliches Gefühl der Passivität beschreibt Gerhard Schöne in «Das weisse Band»:
Vielleicht sind wir mitschuldig
Sind zu lasch, zu geduldig
Leben nicht überzeugend
Fremden Willen uns beugend
Statt uns wild aufzubäumen.
Melancholisch tönt auch «Als ich fortging» von Karussel: aufs erste Ohr ein Liebeslied. Aber zwischen den Zeilen geht es um die Massenflucht aus der DDR. Vor dem Mauerfall verlassen 200.000 Menschen das Land - über die Prager Botschaft oder über Ungarn.
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Das Lied für alle fehlt
Zu einem «gemeinsamen Lied» werden diese Lieder aber nicht: Ab dem Moment, wo die DDR-Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme erheben – zum Beispiel mit den Montagsdemonstrationen – verlieren auch die Texte der Lieder langsam an Gültigkeit. Auf den Demos wären sie aber nicht nur thematisch fehl am Platz gewesen. Anders als bei der klingenden Revolution im Baltikum oder den derzeitigen Protesten in Hong Kong (siehe Norient-Artikel Protest Music in Hong Kong) stand niemandem der Sinn nach einem Lied – zu brenzlig war die Situation. Am Anfang reagierte der Staat mit Gewalt und Verhaftungen – Armee und Betriebskampfgruppen standen an jeder Ecke.
«Es gab gar kein Lied, mit dem sich jeder hätte identifizieren können», vermutet die Schauspielerin Claudia Wenzel, die bei den Leipziger Demos dabei war: «Unter den Demonstranten waren ganz verschiedene Leute, Arbeiter, Künstler, Lehrer, Studenten und alle hatten ganz unterschiedliche Liedgüter.» Und hinzu kommt: das Singen in der Masse war in der DDR belegt. Da waren die Pionierlieder, oder am 1. Mai mussten die DDR-Bürger Arbeiterlieder singen – mit dieser DDR wollten die Demonstranten nichts mehr zu tun haben (siehe auch Norient-Artikel: Der Staat singt mit - Das Lied in der DRR).
Als Sound der Massenproteste schreiben sich vor allem die rhythmischen Sprechchöre in die Geschichte ein: «Wir bleiben hier», «Gorbi Gorbi», «Schliesst euch an» oder das bekannte «Wir sind das Volk». Wenzel findet, dass auch das irgendwie Musik war.
Konzerte werden zum Politikum
Mehr als konkrete Lieder sind es die Konzerte, die den Nerv der Endzeitstimmung in der DDR treffen. Kritische DDR-Rockmusikerinnen und Liedermacher schliessen sich zusammen – «Hierbleiber für Hierbleiber» heisst einer der frenetisch bejubelten Abende. Die Konzerte wurden zum Podium, um die Ereignisse in den Wochen vor dem Mauerfall zu verdauen und dem Ärger Luft zu machen.
Dabei fordert das Publikum die politische Stellungnahme der Musiker ein. Dem werden sie mit gesprochenen Kommentaren und einer Resolution gerecht, die sie jeweils vor ihren Konzerten verlesen. Darin heisst es:
Wir wollen in diesem Land leben, und es macht uns krank, tatenlos mit ansehen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung, Versuche der gesellschaftlichen Analyse kriminalisiert beziehungsweise ignoriert werden.
Ähnlich scharf tönt es in den Kundgebungen fünf Tage vor dem Mauerfall auf dem Alexanderplatz in Berlin. Vor einer halben Million Menschen singen die Liedermacher Kurt Demmler, Jürgen Eger, Gerhard Schöne und Wenzel/Mensching. Aber auch hier ist das gesprochene Wort die primäre Ausdrucksform, nicht die Musik. Und die Masse singt nicht mit, sondern hört gebannt zu.
In der Nacht auf den 9. November fällt die Mauer. Gegen 19.00 verkündet der SED-Politiker Günter Schabowski, dass die Grenze offen ist. Ganze Karawanen pilgern nach Westberlin. «Wir sind mit unserem himmelblauen Trabant losgefahren und standen erst einmal zwei Stunden im Stau», erzählt Klaus Koch, Chef des Berliner Musikverlags Buschfunk. Lange Autoketten, Stau, Gehupe, Gejole – jedes Lied wäre bei diesem Lärm untergegangen. In Westberlin angekommen wurde Bier spendiert, gefeiert, und gemeinsam sangen Ost und West Gassenhauer wie «Griechischer Wein» oder «So ein Tag, so wunderschön wie heute.» – «Das waren meistens Lieder aus Westdeutschland, denn nur die kannten auch wirklich beiden Seiten», erzählt Koch.
Alte Lieder mit neuer Bedeutung
Mit der Nacht auf den 10. November verbindet er aber kein konkretes Lied: «Es war für mich nicht die Zeit der Lieder, ich hatte ganz andere Dinge im Kopf. Ich war in einer Art Schockstarre, weil ich null Ahnung hatte, wie mein Leben weiter verlaufen wird.» Ungefähr so müssen sich viele DDR-Musiker gefühlt haben. Es dauert, bis sie den grossen Umbruch in eigenen Liedern verarbeiten. Der Liedermacher Gerhard Schöne zum Beispiel nahm sich erst mal eine lange Kreativpause – zu verwirrt war er von den gesellschaftspolitischen Umwälzungen in der Wendezeit.
Zwar entstanden im Taumel um den 9. November wenig neue Lieder, aber alte veränderten ihre Bedeutung: Plötzlich passten sie zum Zeitgeist. Zum Beispiel «Irrenhaus» von Keimzeit. Im beginnenden Einigungsprozess wird das Lied zur Forderung:
Irre ins Irrenhaus
Die Schlauen ins Parlament
Selber Schuld daran
Wer die Zeichen der Zeit nicht erkennt
... singt der Sänger Norbert Leisegang mit seiner typischen näselnden Stimme. Er erzählt: «Dieser Song war in Deutschland zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Aber als ich ihn 1986 schrieb, habe ich einfach nach phonetisch passenden Wörtern gesucht, ohne gross über den Inhalt nachzudenken.»
Verwertung durch die Musikindustrie
Zur ostdeutschen Wende-Hymne wurde aber auch «Irrenhaus» nicht. Auch hier wieder das Problem: Zu diffus waren die Vorstellungen, wohin es mit der DDR gehen soll, zu schnell überschlugen sich die Ereignisse. Kein Lied konnte da Schritt halten, und so hinterlässt ausgerechnet die emotionale Wendezeit eine Lied-Lücke.
«Vielleicht ist das der Raum, den die Scorpions mit ‹Wind of Change› für sich besetzen konnten», sinniert Klaus Koch. «Das zeigt für mich auch, wie die Verwertungsbedürfnisse der Musikindustrie sofort nach der Wende Einzug hielten», sagt er. Und wundert sich, dass es zwar das Wort «sprachlos» gibt, nicht aber das Wort «lieblos».
Ein weiteres Lied aus der DDR, welche die Stimmung der Zeit um den Mauerfall trifft: