Zwischen Protestlied und Reggaeton
Noch nie hat Norient aus Honduras berichtet. Ein Staat, der seit Jahrzehnten von politischer Instabilität, Grossgrundbesitzern und paramilitärischen Strukturen geprägt ist. Roxana Corrales (23) und Aldo Rubio (15) besuchten im November 2013 die Schweiz, um von ihrem Kampf gegen einen Grossgrundbesitzer zu erzählen. Für Norient gehen sie auf eine kleine, äusserst selektive Reise durch die aktuelle musikalische Landschaft des zentralamerikanischen Landes.
Hondruas. Ein Staat, der vor allem ein Durchgangsstaat ist. Menschen und Drogen durchqueren das Land auf dem Weg von Süd- nach Nordamerika. Die Bevölkerung, die auf dem Flecken Land zwischen Karibik und Pazifik wohnt, gehört zu den ärmsten weltweit, die politische Situation ist instabil. Daran haben auch die Wahlen im vergangenen November nichts geändert. Die konservative Regierung ist weiterhin an der Macht und sorgt dafür, dass dies auch so bleibt. Die Meinungsfreiheit ist arg eingeschränkt, paramilitärische Gruppierungen sorgen für die Durchsetzung der Interessen weniger Grossgrundbesitzer, die das Land unter sich aufteilen. Die Lage ist wenig hoffnungsvoll, wie es der Berner Schriftsteller Beat Sterchi in der jüngst erschienenen Reportage «Fluch der Karibik» schildert.
Auf Zacate Grande, einer Halbinsel im Pazifik, leben Roxana Corrales (23) und Aldo Rubio (15). Weit weg von den wirtschaftlichen, politischen und touristischen Zentren des Landes kämpfen sie mit anderen Inselbewohnern seit Jahren gegen den Grossgrundbesitzer Miguel Facussé. Der skrupellose Palmölmagnat behauptet, Eigentümer der Insel zu sein und versucht, die seit über hundert Jahren angesiedelte Bevölkerung zu vertreiben. Vor drei Jahren gründeten deshalb mutige junge Menschen, darunter Roxana und Aldo, mit «La Voz de Zacate Grande» ein Lokalradio. Über den Äther wird seither nicht nur Sensibilisierungsarbeit geleistet, die Landbevölkerung wird weiter über aktuelle politische Entwicklungen und Aktivitäten der Paramilitärs informiert. Ein wichtiger Bestandteil des Programms ist aber auch die Musik.
Roxana Corrales im Interview mit Marcos Chavez von Radio Rabe-Info
Video zum dritten Geburtstag des Radios im Frühjahr 2013
Protestliedrepertoire als Gegenkultur
«Wir versuchen mit dem Radio eine Art Gegenkultur zu schaffen», erzählt Radiomacherin Roxana. Im Radio wird denn auch bewusst keine englischsprachige Musik gesendet und auch der von der jungen Radiomoderatorin als «aggressiv und machistisch» beschriebene Reggaeton ist beim Radiosender kein Thema. Roxana: «Wir empfinden diese Art von Musik als Dekulturalisierung. Wir haben eine eigene Kultur.» Was Roxana hier anspricht ist die reichhaltige Tradition des lateinamerikanischen Protestliedes. Mit Café Guancasco und Karla Lara fügt sie zwei aktuelle honduranische und im Land populäre Namen aus diesem Genre an.
Trotz eingeschränkter Meinungsfreiheit sind solch pointierte musikalische Stellungnahmen in Honduras heute möglich. Von einer abgeschlossenen honduranischen Protestliedtradition lässt sich aber nicht sprechen. Vielmehr speist sich das gehörte Repertoire aus dem gesamten lateinamerikanischen Kontinent. Protestlieder aus Chile, Venezuela oder Argentinien passen mit ihren Inhalten oftmals exakt in den honduranischen Kontext. Gemeint ist das Genre des Nueva canción, das seine Ursprünge in den 50er- und 60er-Jahren in Chile, Uruguay und Argentinien findet. Roxanas 15-jähriger Radiokollege Aldo Rubio nennt mit Los Guaraguao (Venezuela) und dem berühmten Victor Jara aus Chile zwei weitere, diesmal «ausserhonduranische» Beispiele.
Aldo singt auch Protestlieder, seit er 12 Jahre alt ist. Immer wieder ist er singend auf Demonstrationen im ganzen Land unterwegs. Unter dem Namen Aldo y los Alegres del Sur hat er eben seine erste CD zusammengestellt. Darunter ist auch das Lied «La historia» («die Geschichte»), geschrieben von ihm selbst und seinem Vater. Das Lied zeigt, dass die Protestliedkultur auf der Insel Zacate Grande wie vielerorts in Lateinamerika zum Medium des Befreiungskampfes geworden ist. (Bereits früher berichtete Norient über die kolumbianische Compilation Les Voy a Contar la Historia, wo der Landkampf ebenfalls auf das Medium des Liedes übertragen wurde.)
Aldo y los Alegres del Sur – La historia
Heute sing ich euch dieses Lied,
weil ich an die Geschichte erinnern will
von den Anfängen unseres Volkes
und der Menschen, die auf dieser Erde leben.
Vor mehr als hundert Jahren kamen sie,
gute Leute, die dieses Volk begründeten.
Doch sie dachten sich niemals,
dass eines Tages die Reichen kommen werden.
Die Erzählung unseres Volkes
ist die Geschichte, die wir erlebt haben.
Ausländer kamen hierher
und haben unser Land weggenommen.
Millionäre, die Richter bestechen –
mit Geld, das sie dem Volk gestohlen haben,
stehlen sie Strände und Land
und sperren ihre ursprüngllichen Besitzer ein.
Die Hits kommen übers Mobiltelefon
Fernab des Widerstandsradios ist aber auch auf der Pazifikinsel an der Peripherie von Honduras die Mainstreamkultur allgegenwärtig. Unterschiede zwischen Stadt und Land gibt es dabei kaum, sind Roxana und Aldo überzeugt. Auch sie hören die aktuellen Hits, die vom lateinamerikanischen Festland oder aus Amerika zu ihnen hinüberschwappen. Man kennt sie von den kommerziellen Radiosendern oder aus den Minibussen, die die Reisenden mit überdimensionierten Soundanlagen lautstark beschallen.
In Clubs gehen die beiden aber nicht. Die gibt es höchstens in der nächst grösseren Stadt San Lorenzo, seien für sie jedoch viel zu teuer. Etwa einmal im Monat gebe es ein Privatfest bei jemandem auf der Insel, das sei alles. «Sonst hören wir die Musik über unsere Handys an», erzählt Aldo. Die meisten hätten so zwischen 30 und 300 Titel auf ihren Mobiltelefone gespeichert. Die Songs werden aus dem Internet heruntergeladen und dann untereinander ausgetauscht.
Aggessiv, romantisch und sexistisch
Roxana kategorisiert derweil die honduranische Mainstreammusik: «Grob gibt es drei Stilrichtungen, die in Honduras populär sind: Reggaeton, Bachata und Punta». Sie liebe Reggaeton, nicht wegen den Inhalten – die bezeichnet sie als «aggressiv und machistisch» –, sondern wegen den Rhythmen. Ein Blick in zwei aktuelle Reggaeton-Videos vermitteln einen vielsagenden Eindruck von der Ästhetik und den vorherrschenden Themen des Stils:
Die zweite Sparte ist Bachata, die romantische Abteilung der Mainstream-Musik. Darunter etwa der aktuelle Überhit «Darte un beso» des amerikanischen Sängers Prince Royce oder «Propesta indecente» von Romeo Santos:
Und schliesslich die Puntamusik. Diese Stilrichtung ist in Honduras weit verbreitet und geht auf einen Fruchtbarkeitstanz der afrokaribischen Volksgruppe der Garifunas aus dem Norden von Honduras zurück. Mit allerlei Reggaeton-Einflüssen versehen entstand daraus ein eigentständiges Genre. «Meist sehr sexistisch aber unglaublich tanzbar», wirft Roxana ein. Zum Abschluss dieser kleinen Honduras-Reise ein Video, das den traditionellen «Punta» der Garifunas zeigt und dann, was daraus wurde. Als Beispiel der Track «El Gusano» der honduranischen Gruppe Santa Fe.
Von Victor Jara bis Price Royce
Auf der Pazifikinsel «Zacate Grande», der Heimat der beiden Radiomachenden Roxana Corrales und Aldo Rubio, existieren zwei Soundwelten: die lateinamerikanische Protestliedkultur und der US- und lateinamerikanische Mainstreammix. Weder für Aldo und Roxana noch für die anderen jugendlichen Bewohner der Pazifikinsel scheint das aber ein Problem zu sein. Sie hören und singen genauso Canciónes des Widerstands von Victor Jara als auch die neuste Ballade von Prince Royce. Roxana fasst zusammen: «Die Protestlieder höre ich wegen den starken und ermutigenden Inhalten, die Mainstreammusik dagegen wegen den tanzbaren Rhythmen.»
Das Hilfswerk der evangelischen Kirchen der Schweiz, HEKS, unterstützt das Lokalradio «La Voz de Zacate Grande» in Honduras. Weitere Informationen und Möglichkeit zur Onlinespende hier.
Biography
Published on January 14, 2014
Last updated on October 17, 2023
Topics
From Muslim taqwacore to how the rave scene in Athens counters the financial crisis.
About Tunisian rappers risking their life to criticize politics and musicians affirming 21st century misery in order to push it into its dissolution.