Frau will Pau, Mann will Buçeta
Baile Funk ist eine brasilianische Hip-Hop-Variante mit hypersexualisierten Lyrics und energetischen Tänzen. Er stammt aus den ärmsten Vierteln einer der schönsten, aber auch gefährlichsten Städte der Welt: Rio De Janeiro.
Die brasilianische Tropen-Metropole Rio De Janeiro mag einer der schönsten Städte der Welt sein, doch in ihrer Mitte wuchern die Favelas – die Armensiedlungen. Dort existiert eine eigene Welt, in der die Gesetze des Staates nicht zählen, und der Alltag geprägt ist von Polizeiwillkür und dem brutalen, mittelalterlichen Rechtsverständnis der Drogen-Gangs. Dennoch ist in den Favelas Musik entstanden, zu der die gesamte Stadt und mittlerweile ganz Brasilien tanzt.
Der Baile Funk, auch «Funk Carioca» und «Favela Funk» genannt. Für Uneingeweihte klingt diese Musik – ganz im Gegenteil zum sanften Bossa Nova – unmittelbar und rau, Songs bestehen oft nur aus einem perkussiven Rythmus-Loop und dem hypnotischen Sprech-Gesang eines MCs. Inzwischen sind verschiedene Subgenres entstanden, von den Massen wird besonders der sogenannte «Putaria»-Funk geliebt, in der Frauen zumeist als Sex-Objekte porträtiert werden.
Frau will Schwanz
Inside The Mind Of Favela Funk taucht die niederländische Regisseurin Elise Roodenburg zusammen mit der Filmemacherin Fleur Beemster ein in die auf den ersten Blick misogyn erscheinende Musik-Kultur der Favela. Im «Putaria»-Funk hat sich die poetisch kaschierende Umschreibung sexueller Handlungen nie etabliert, klare Ansagen werden gemacht: «Frau will Schwanz» singt der gerade mal fünfzehnjährige MC Pikachu – und das Publikum auf der Baile Funk-Party singt begeistert mit.
Die Objektifizierung geschieht im Baile Funk jedoch wechselseitig: Gegen jede «Buçeta» («Muschi») muss immer auch ein «Pau» («Schwanz») antreten. Das zeigt im Film der Auftritt der weiblichen Funk-Gruppe Apetitosas, die für folgende Songzeile bekannt ist: «wir wollen nur Jungs mit einem großen Schwanz, der so tief in unsere Muschis eindringt, dass er aus unserem Arsch wieder herauskommt». Die Texte von anderen, weiblichen Star-MCs wie MC Carol, Valeska Popozuda oder Tati Quebra Barraco (leider nicht im Film porträtiert) stehen in ihrer lyrischen Deftigkeit den männlichen Äquivalenten in nichts nach.
Teenager-Doppelmoral
Neben den Funk-Akteuren kommen in der 2015 entstandenen Dokumentation auch diverse Favela-Teenager zur Sprache. Schnell zeigt sich dabei Doppelmoral: Männer in festen Bindungen lassen sich auf Baile Funk-Parties verführen durch laszive Tänzerinnen, gehen reihenweise fremd, und verleugnen vor laufender Kamera ihre Frauen. Ihren Freunden schicken sie via Whatsapp Nacktfotos der letzten Eroberungen, beklagen sich aber dann, dass die immer jünger werdenden Mädchen «Nutten» wären, weil sie sich mit mehren Männern einliessen.
Im Gegenschnitt erzählen die weiblichen Protagonistinnen vom zielgerichteten Fremdgehen, um «den besseren Mann zu bekommen», und davon, sich von ihren Männern reich beschenken zu lassen, wenn sie am Tag zuvor von ihnen verdroschen wurden. Das Obszöne an Inside The Mind Of The Favela Funk sind weniger die sexuellen Inhalte der «Putaria»-Funk-Texte, sondern dass Selbstachtung und Moral in den Favelas völlig zu fehlen scheint.
Dass dieser Mangel aber vor allem das Produkt des allgegenwärtigen, erbamungslosen Rechts des Stärkeren ist, erzählt der Film nur bruchstückhaft. Dennoch ist Inside The Mind Of The Favela Funk sehr sehenswert – einen unmittelbareren Einblick in die Welt des Baile Funk gibt es aktuell nicht.
Biography
Published on January 06, 2017
Last updated on April 30, 2024
Topics
How do musicians fill or widen the gap of feeling at home in a world that is radically unhomely?
From hypersexualised dance culture in baile funk to the empowering body culture in queer lifestyles.
Desires are produced personally and impersonally: About music as desiring machine and the elasticity of bodies.
Why is a female Black Brazilian MC from a favela frightening the middle class? Is the reggaeton dance «perreo» misogynist or a symbol of female empowerment?