Schaut man heute arabisches Satellitenfernsehen, so scheint sowohl für arabische wie auch westliche Musikfreunde und Intellektuelle alles klar: Die arabische Welt befindet sich im Niedergang.
Zuerst sehe ich ihren Haaransatz. Dann ihre grossen dunklen Augen, kurz darauf den roten Mund. Die libanesische Starsängerin Haifa Wehbe taucht aus einem Swimmingpool auf. Schon erscheint ihr goldener Badeanzug, dann die Beine, an denen Wasser abperlt. Eine sich wiederholende Gitarrenmelodie, eine Trommel im raschen Rhythmus, elektronische Sounds zeigen: Haifas Gefühle sind in Aufruhr in diesem Videoclip. Schon räkelt sie sich auf einem Diwan: «Keinen Tag mehr kann ich warten. Zu gross ist mein Verlangen», säuselt sie. «Komm zurück zu mir. Schon viel zu lange lebe ich ohne Komfort und Sicherheit.»
Es sind nur wenige der subkulturellen Musikerinnen in Beirut, die Haifa Wehbe mit Marilyn Monroe und Brigitte Bardot vergleichen. Aber es gibt sie: Sie sehen Haifa als wichtigste und berühmteste Schiitin überhaupt. Für andere ist sie bloss ein Sinnbild für all das Dekadente, Scheinheilige und Verlogene, das sie in der arabischen Welt ausmachen und gegen das sie Tag für Tag mit subkultureller Musik ankämpfen.
Kontext: Die Veränderungen in der arabischen Popmusik-Welt
Die arabische Medienwelt hat sich vor allem ab den 1990er Jahren radikal verändert. Bis dahin waren Ägypten und Libanon die Medienmetropolen der arabischen Welt, heute ist es Saudi-Arabien. 1994 starteten Sheikh Saleh Kamel und der saudische Prinz und Geschäftsmann Al-Waleed bin Talal das Unterhaltungsnetzwerk ART in Rom. ART setzte auf ein westlich gestyltes Unterhaltungsprogramm: mit Hollywood Filmen, amerikanischen Seifenopern und Talkshows. Der Medienwissenschaftler Andrew Hammond spricht von einem radikalen Wandel in der arabischen Welt: Der ägyptische Präsident »Abdel-Nasser wollte die Bevölkerung auf der Straße, die Saudis wollen die Bevölkerung auf dem Sofa«. Die Veränderungen waren riesig. Hammond argumentiert, dass die arabische Welt zum ersten Mal überhaupt ein panarabisches Programm konsumiert – von Casablanca bis Dubai. Jeder und jede schaut sie sich an: die panarabischen Popstars; die Islamischen Televangelisten; den Ägypter Shaaban Adel Rahim, der gegen Israel und die USA wettert; und Sami Yusuf, der Gott in kitschigen Liedern auf Englisch preist.
Die Satelliten-TV-Stationen investierten in die Produktion von Popmusik-Videos und starteten Musikkanäle – ähnlich wie MTV oder VIVA. Der Rotana-Sender von Bin Talal nimmt heute beinahe eine Monopolstellung ein. Rotana besitzt Produktionsstudios in Beirut, Dubai und Kairo und kontrolliert beinahe den gesamten Arabischen Musikmarkt. Die Formel ist klar: Die Finanzen kommen aus Saudi Arabien, Dubai dient als das wirtschaftliche Zentrum, Beirut und Kairo dienen als Produktionsstätten: von hier kommen die meisten Songschreiber, die Sängerinnen, die Texter und die Arrangeure und die Arrangeure – alles eigene Geschäftszweige.
Die Popstars verdienen sehr viel – wenn sie denn in diesen Popolymp vorstoßen. Der ägyptische Popstar Amr Diab soll pro Album 5 Millionen Dollar ausbezahlt erhalten. Nawal al-Zoughbi, eine libanesische Starsängerin 900’000. Die meisten Sängerinnen verdienen ihr Geld allerdings bei Konzerten und Privatfesten im Golf. Manchmal singen sie an sechs Orten in einer Nacht: an privaten Parties, in Hotels, und in TV Shows. Zwanzig Minuten pro Show, das ergibt auch mal über 100’000 Dollar pro Nacht. Und Hubert Ghorayeb von EMI Lebanon betont: Frauen haben die größeren Chancen in diesem Geschäft. Sie sind allerdings durch rigide Verträge an Rotana gebunden. Rotana verfügt über alles: Auftritte, Konzerte, CDs und Videoclips – ein »Rundum«-Vertrag quasi.
Will Rotana andere Mediensender schwächen, so soll Bin Talal auch mal die Sängerinnen der Konkurrenz aufkaufen – und das ohne eigentlichen Geschäftsplan für die betreffende Künstlerin. Es kursieren viele Anekdoten von Gerichtsfällen, in denen sich Sängerinnen von Rotana frei feilschen wollten. Und dann ist da das hartnäckigste Gerücht überhaupt: Die weiblichen Popstars arbeiteten sich hoch, indem sie sich bei Scheichs, Königen, Politikern und Geschäftsmännern prostituieren – das behaupten viele, Beweise dafür gibt es freilich nicht. «Dieses Heer von Produzenten und Managern redet primitiv und schlecht über uns», erzählt eine Sängerin im Interview – sie will aber nicht mit Namen genannt werden: «Sie behandeln die Frauen wie Prostituierte, oder wie Tiere. Eine Sängerin bekommt meistens einen Vertrag für fünfzehn Jahre, aber wenn die Liebe abklingt und der Sex seinen Reiz verliert, endet auch die Karriere.» Der Mord an der libanesischen Popsängerin Suzanne Tamim in Dubai bildete 2008 einen Tiefpunkt. Ihr Liebhaber, Hisham Mustafa, ein ägyptischer Geschäftsmann und Berater des Präsidenten Hosni Mubarak, soll einen Auftragsmörder angeheuert haben. Im Mai 2009 wurde der ägyptische Geschäftsmann in Kairo zum Tode verurteilt. Seine Anwälte haben Berufung eingelegt. Im September 2010 wurde Mustafa schliesslich zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.
Die Popmusik-Industrie ist in den letzen Jahren immer mehr zu einer Video-Clip Industrie geworden. Die Gesichter, die über den Bildschirm flimmern, wechseln ständig: George Wassouf, Najwa Karam und Nawal al-Zoughbi, die Stars Anfang der 2000er Jahre, wurden ersetzt durch Haifa Wehbe und Nancy Ajram. Früher sang eine Sängerin im Dialekt ihres Heimatlandes. Heute singt sie ein Lied im libanesischen Dialekt, eines auf Ägyptisch, eines im Golf-Dialekt – man will möglichst alle Geschmäcker bedienen in der arabischen Welt. Vor ein paar Jahren waren die Videoclips noch billig und einfach produziert, heute sind sie es sehr professionell. Die teuersten Clips kosten bis zu 300’000 Dollar, billigere um die 20’000 Dollars und Low Budget-Produktionen 3’000 bis 5’000 Dollar.
Viele Videoclips werden heute außerhalb der arabischen Welt gedreht. Vor allem in der Türkei und in Osteuropa finden die Regisseure für wenig Geld Models mit dem beliebten hellen Hauttyp. In einem Videoclip soll Miss Kasachstan für 100 Dollar aufgetreten sein. Drehen im Ausland das zeigt auch: Ich bin erfolgreich und weltofffen. Früher wanderten die Sängerinnen und Sänger in billigen Kulissen voll von Palmen und kitschigen Wasserfontänen herum. Heute trinken sie in einer Stadt italienischen Espresso oder flirten in einem idealisierten Dorf mit ungehobelten Farmern. Die Männer sind oft David Beckham-Typen oder Latin Lovers. Sie tragen gerne Designer-Kleidung, oder sie zeigen ihre gestählten Oberkörper. Frauen und Männer fahren in teuren Autos herum, oder sie tanzen an perfekten Stränden. Die Frauen räkeln sich gerne auf einem luxuriösen Bett in einer luxuriösen Villa. Sie tragen mal sexy Lingerie, mal treten sie als orientalische Schönheiten auf.
90 % der Lieder und Videoclips handeln von Liebe und Sehnsucht, 10 % von Hochzeiten, dem Mutter sein, und von Kindern. Viele der Videos provozieren immer wieder konservative und religiöse Kreise. Die Satellitensender sind aber zu einem großen Teil immun gegenüber dieser Kritik. Sie senden oft aus Europa und den USA und lassen sich nicht so einfach zensurieren. Gelegentlich aber wird der Druck derart groß, dass ein Video tatsächlich nicht mehr gespielt wird. Für Skandale sorgten etwa die Clips von Ruby aus Ägypten. In der kommerziellen Popmusikwelt ist sie die Königin des Bauchtanzes. Sie wackelt ihre Hüften zu Techno Dance Pop und zu lokalem Chaabi Pop. Und das in verschiedenen Kontexten und in verschiedenen Kleidern: Mal als Girlie Cheerleader, dann im Gymnastikanzug, dann im eleganten roten Kleid, im Strandbikini, an der Stange im Striplokal, oder im Stil von Cleopatra mit einer Boa um den Hals.
Der im August 2008 verstorbene palästinensische Dichter Mahmoud Darwish nannte das, was die Satellitenstationen offerieren, «Petro-Kultur». Diese habe den kulturellen Niedergang in der arabischen Welt zusätzlich beschleunigt. Und doch schauen alle hin, sagt Walter Armbrust, Medienwissenschafter und Ägypten-Experte an der Oxford University: «Liebe und Sex waren schon immer ein Thema. Man lese nur die uralte erotische Literatur der Araber oder schaue ihre Filme der 1940er- bis 1970er-Jahre an: In Chit Chat on the Nile etwa wird auf einem Hausboot gekifft, was das Zeug hält. Anschliessend verschwinden die Männer mit ihren Flittchen in der Kabine.»
Rückblick in die Geschichte der Arabischen Popmusik
Die Diskussionen um Frauenrollen haben eine lange Vorgeschichte in der arabischen Welt. Der Musikethnologe Jihad Racy entdeckt eine klare Männerdominanz in der sogenannten Tarab-Kultur – der arabischen Kunstmusik der kleinen takht Ensembles. Es gab in dieser Tarab-Kultur aber auch immer wieder große Sängerinnen. Racy betont, dass gerade Sängerinnen der Musik eine besondere Note geben können. Und dennoch: Die Position von Frauensängerinnen wurde immer wieder von konservativen Attitüden bedrängt. Es gibt einen weitverbreiteten Glauben, dass eine professionelle Sängerin ihren Ehe- und Mutterpflichten nicht korrekt nachkommen kann. Fairuz wurde auch darum die populärste Sängerin des Libanons überhaupt. Sie hatte es immer wieder geschafft, die Rolle der Künstlerin, Mutter und Ehefrau zu verbinden. In ihren Musiktheaterstücken spielte Fairuz das unschuldige Mädchen vom Lande, in ihrem Privatleben ging sie nie auf Parties, gab keine Interviews: Sie baute sich eine Reputation auf wie die der Heiligen Jungfrau Maria, wie Ines Weinrich in ihrem Buch zu Fairuz schreibt. Sabah, ihre große Konkurrentin, war das pure Gegenteil. Sabah war Stammgast bei allen Parties, und sie sorgte immer mal wieder für einen Skandal. Dass sie nie den gleichen Status erreichte wie Fairuz, hat wahrscheinlich auch damit zu tun. In Ägypten ähnelt sich die Geschichte: Die ägyptische Diva Umm Kulthum trat zuerst als Knabe auf. Später wurde sie dann die wichtigste arabische Sängerin aller Zeiten. Sie war aber immer geschützt durch hohe ägyptische Politiker. «Um Kulthum war der Inbegriff der weiblichen Ehrsamkeit», schreibt Jihad Racy. Sie hatte einen konservativen, religiöse Erziehung genossen, und sie wurde von ihrer Familie voll gestützt. Wenn sie auf der Bühne sang, stand da immer ein unsichtbares Schild vor ihr: «Do not Touch!». Asmahan war eine von Umm Kulthum schärfsten Konkurrentinnen. Sie war eine unabhängige starke self-made Frau, wie Sherifa Zuhur in ihrer Biographie zu Asmahan schreibt. Asmahan starb an einem mysteriösen Autounfall: Sie wurde umgebracht, glauben viele bis heute.
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Die subkulturelle Musikerinnen-Szene
Für die Rapperinnen, She-DJs, Jazzmusikerinnen, Sounddesignerinnen, Tontechnikerinnen und Elektro-Akustikerinnen in Beirut sind weder Fairuz noch Umm Kulthum noch Haifa Wehbe ein Vorbild. Einige bevorzugen Asmahan und Sabah: Die beiden lebten jedoch Mitte des 20. Jahrhunderts zu flatterhaft, sonst hätten sie wohl dieselbe Berühmtheit erlangt wie Umm Kulthum und Fairuz. Joelle Khoury nennt die Schriftstellerin Virginia Woolf als Vorbild: «Eine starke, eigenwillige, unabhängige Frau, die am Leben zerbricht und Selbstmord begeht.»
Joelle Khoury ist eine der wichtigsten Jazzmusikerinnen und Komponistinnen in Beirut. Sie unterrichtet am staatlichen Konservatorium und organisiert dort Workshops etwa zu John Cage – ein wahrlich modernistischer Ansatz in einer eher konservativen Institution. Der Gitarrist Raed el Khazen erzählt: «Für viele Musiker ist Joelle Khoury einfach nur verrückt. Eine Frau in der Menopause, sagen sie. Auch Journalisten attackieren Joelle: «Warum schreibst du so männliche Musik?», fragen sie. Und selbst ihre eigene Band mag nicht immer auf sie hören. «Manchmal sage ich dann einfach meinem Mann, er solle mit den Musikern sprechen.» Das libanesische Symphonieorchester wollte ihre neueste Komposition bloss einmal üben. Am Konzert spielte es dann so falsch, dass Khoury im Sessel hätte versinken wollen. «Bei einem Mann wäre das nie passiert», meint Raed El Khazen.
Sich ärgern bringt nicht viel. Die Szene ist auch voll von Männern, die mit dem ganzen Macho-Gehabe nichts mehr zu tun haben wollen. Für Joelle Khoury ist klar: «Wir akzeptieren die uns zugewiesene Rolle einfach nicht mehr. Wir wollen nicht mehr bloss warten – auf unseren Ehemann, unseren Liebhaber, unser Kind, oder auf bessere Zeiten». Vor Sexyness scheuen diese Künstlerinnen sowieso nicht zurück: «Schliesslich sind wir Frauen!», sagt eine Musikerin.
Zum Beispiel Yasmine Hamdan: Sie ist selbstbewusst, stark, sexy. Ihr neuestes Album hat sie mit dem Madonna-Produzenten Mirwais aufgenommen. Ein Videoclip spielt in Kairo, im Jahr 2019. Hamdan fliegt als erste arabische Astronautin zum Mond. Man spürt förmlich ihren Traum von einer modernen, weltoffenen arabischen Welt. Und von einer selbstbewussten, erfolgreichen arabischen Frau. Hamdan ist sexy wie Haifa, aber keine Marionette.