Musik ist keine universelle Sprache. Aber sie kann ein Mittel zur Verständigung sein. Der Ethnologe und Kurator Johannes Rühl hat zwei Musik-Austauschprojekte begleitet und beobachtet, dass man eine bereichernde und nachhaltige musikalische Erfahrung nicht auf dem Reissbrett entwerfen kann. Vielmehr kommt es auf die Bereitschaft der einzelnen Musiker*innen an – und den kulturellen Kontext.
Für Schweizer Musiker*innen ist oft recht einfach, zu verreisen, um mit Musiker*innen aus anderen Ländern zusammenarbeiten. Andersherum ist es ungleich schwerer, eine Begegnung zustande zu bringen. Für den «Export Schweizer Kultur» ist die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia zuständig, ähnlich wie das Goethe Institut, das British Council oder Institut Français. Der Import in die Schweiz dagegen hat oft weniger finanzstarke Fürsprecher. Diese Asymmetrie bilden die zwei Projekte mit Schweizer Beteiligung ab. «Nass Makan» in Kairo und «Building Bridges» in Ascona.
Nonverbale Kommunikation
Eine von der Aussenstelle von Pro Helvetia in Kairo initiierte und finanzierte Begegnung von Ägyptischen und Schweizer Musikern fand im Frühjahr 2019 in Zusammenarbeit mit Norient statt. Partner auf der ägyptischen Seite war das «Egyptian Center for Culture and Arts - Makan» unweit des Tahir Platzes unter der Leitung des Gründers Ahmed El Maghraby. Das Kulturzentrum setzt seit seiner Gründung vor über 20 Jahren auf den Kulturaustausch und gibt regelmässig neben Gastmusiker*innen aus Ägypten, solchen aus der ganzen Welt eine Bühne.
Im April 2019 nahmen drei Schweizer Musiker*innen an einem siebentägigen Workshop mit ägyptischen Musiker*innen teil: Der volksmusikalisch versierte, aber auch jazzerfahrene Akkordeonist Hans Hassler, die klassisch ausgebildete Cellistin Sara Käser und der traditionell orientierte Appenzeller Hackbrettspieler Elias Menzi trafen auf die Musiker*innen des vielköpfigen oberägyptischen Zar-Ensembles Mazaher rund um die Sängerin und Percussionistin Om Sameh.
Normalerweise sind es Musiker*innen aus den Bereichen des Jazz oder der freien Improvisation, die nach Makan kommen. Dass auch die europäische Seite ihre eigene regionale, volksmusikalische Tradition mit ins Spiel brachte, war neu. Die Mitglieder von Mazahar sprachen kein Englisch, sodass die Gruppe gezwungen war, weitgehend nonverbal und ausschliesslich über die Musik zu kommunizieren.
Einseitige Annäherungen
Die Schweizer*innen waren begeistert von dieser einzigartigen Erfahrung, für die Ägypter*innen schien es kaum einen Unterschied zu machen, welcher westliche Musikstil sich ihnen nun genau näherte. Doch gerade die Traditonsverbundenheit beider Seiten brachte grösstmögliche Unterschiede der musikalischen Praxen zutage: Auf der einen Seite die sehr laute, ritualisierte perkussionsbetonte Besessenheitsmusik des Mazahar Ensembles, auf der anderen Seite die Klänge der Schweizer Gäste mit ihren vergleichsweise zartbesaiteten Instrumenten.
Nur langsam begriffen sie, um was es sich bei dieser Zar-Performance handelte, wie die Akteur*innen des Ensembles zueinander standen und wie ihre Musik strukturiert war. Schlicht durch behutsames Imitieren näherte man sich vorsichtig der Tonalität und dem Rhythmus des Trance-Rituals an. So entwickelte sich mit viel Übung im Laufe der Tage eine gemeinsame Verständigung, bei der man subtil zueinander fand.
Harmonisch komplex war diese Musik nicht, aber die ungeraden Rhythmen wurden zur Herausforderung. Zeitweise war es schlicht die Lautstärke, gegen die die europäischen Instrumente nicht ankamen. In solchen Momenten war vor allem die Sängerin Om Sameh sehr bemüht, zu integrieren. Sie forderte die europäischen Musiker*innen immer wieder auf, mit Cello, Hackbrett und Akkordeon solistisch einzusteigen, während sich der Rest des Ensembles zurückhalten sollte.
Umgekehrt fand kaum Verständigungen statt. Nur zögerlich begleiteten die ägyptischen Gastgeber Elisa Menzi (Hackbrett) oder Hans Hassler (Akkordeon), als sie Volksmusik aus der Schweizer Bergwelt einbrachten. Als die Schweizer das bekannte Volkslied «Berewegge, Chäs ond Brot» anstimmten und Elias Menzi auf seinem Hackbrett ein Appenzeller Zeuerli spielte, war die Neugierde auf der anderen Seite zwar gross. Doch wirklich bewegte sich meist erst dann etwas, wenn die Schweizer*innen sich ihrerseits dem Groove von Mazahar anglichen.
Die ägyptischen Musiker*innen hatten, trotz der vielen Workshops, die sie zuvor bereits mit Europäern veranstaltet haben, kaum Interesse daran, etwas Gemeinsames entstehen zu lassen. Entsprechend intensiv und herausfordernd war der Lernprozess für die Teilnehmer*innen aus der Schweiz und wurde vielleicht gerade deshalb für ihr eigenes musikalisches Weiterkommen sehr wertgeschätzt. Unter den Gästen war man sich jedoch einig, dass jeder Kunstanspruch in solchen Momenten fehl am Platz und die Differenz niemals wirklich aufzulösen sei, solange nicht der Wille da ist, dass im Einvernehmen etwas ganz Neues entstehen soll.
Positive Verwirrung am Lago Maggiore
Eine ganz andere Ausgangslage bietet sich, wenn Musiker*innen mehrerer unterschiedlicher Musiktraditionen zusammenkommen. Seit Jahren ermöglicht das von der englischen Anthropologin Angela Hobart gestiftete Centro Incontri Umani (CIU) in Ascona unterhalb des Monte Verità dafür Gelegenheit. Auf dem Anwesen der Stiftung in einem grosszügigen Park kommen jeweils im Herbst bis zu sieben herausragende Musiker*innen zusammen, wobei jedes Jahr ein Teil von ihnen ausgetauscht wird, um neben stetiger Erneuerung auch ein Netzwerk unter den Akteur*innen entstehen zu lassen.
Die Herkunftsländer der bisher eingeladenen Musikerinnen und Musiker waren Indien, Nigeria, Usbekistan, Schweiz, Vietnam, Frankreich, Syrien, Iran, Ukraine, Österreich und Italien. Nach zehn Tagen Leben und Arbeiten im CIU geht es jeweils auf eine kleine Konzertreise. Das Ergebnis ist nicht eine vollkommene Melange unterschiedlicher Musiktraditionen, keine Avantgarde, frei improvisierte, Neue Musik oder Jazz. Sondern eine Musik, die jeweils die eigene musikalische Sozialisierung als Ausgangspunkt für das gemeinsame Musizieren anwendet, wo gerade der Unterschied das Material ist, das es zu bearbeiten gilt.
Gemeinsamen Nenner finden
Im Gespräch mit den sehr erfahrenen Musiker*innen zeigt sich, dass das Zusammenarbeiten zum Teil ganz anders wahrgenommen wird, zumal die beteiligten Instrumente bzw. ihre traditionelle Spielweise nur bedingt miteinander kompatibel sind, worin letztendlich aber auch der Reiz liegt: Cello, Sitar, Santur (Iranisches Hackbrett), italienische Rahmentrommel, Drehleier und Nickelharpa können nicht ohne weiteres miteinander harmonieren. Das diatonisch gestimmte Iranische Santur zum Beispiel versteht sich nur nach mühsamen Absprachen mit der Drehleier. Für die stets von Tabla-Perkussion begleitete Sitar wiederum macht ausgerechnet die auf einen Grundton gestimmte Rahmentrommel am meisten Schwierigkeit im Zusammenspiel - das Vokabular indischer Rhythmen ist ein völlig anderes. Für die Drehleier macht nicht das Santur, sondern die Sitar die meisten Probleme, wobei die ähnliche Nickelharpa ebenfalls mit dem Santur nur bedingt zurechtkommt.
Die musikalische Sprachverwirrung scheint kompliziert, weil sich jeder in einer anderen Problemkonstellation befindet. Doch bei grösster Offenheit kann im Prinzip jedes Instrument mit jedem anderen harmonieren. Die Ursache der Unvereinbarkeit liegt viel mehr bei den Musiker*innen selbst als bei ihren Instrumenten. Es ist vor allem die Bereitschaft, sich auf das gegenüber einzulassen, sich selbst zurückzunehmen, zu verstehen und zu lernen. Und zwar jeder aus der Perspektive seiner eigenen Tradition und des musikalischen Systems aus der man kommt und in dem man gewohnt ist, sich zu bewegen. Für alle gilt, dass sie bei der Annäherung zunächst ihr vertrautes Spektrum der musikalischen und spieltechnischen Möglichkeiten drastisch reduzieren müssen, um einen gemeinsamen Nenner als Ausgangspunkt aufzuspüren.
Unvereinbarkeit macht kreativ
Die iranische Santurspielerin Arezoo Rezvani ist in der Gruppe die Einzige, für die vierteltönige Intervalle selbstverständlich sind. Zudem muss ihr Hackbrett ständig umgestimmt werden, je nachdem, welche Tonart verlangt wird. Olena Yeremenko aus der Ukraine ist professionelle Geigerin. Sie spielt in diesem Projekt allerdings die schwedische Nyckelharpa. Ihrer Meinung nach geht man am besten in solch ein Projekt ganz ohne Erwartungen. Der Italiener Paolo Rosetti Murittu, Spezialist für Rahmentrommel für Alte Musik, meint, man müsse zwar seine Vorurteile ablegen, jedoch ohne seine Identität zu ignorieren, die man ja sowieso nicht los wird.
Das Entscheidende sei doch gerade, dass hier ganz unterschiedliche Persönlichkeiten mit ihrem kulturellen Ballast zusammenkommen. Sara Käser am Cello zufolge sei es am Anfang sowieso eine heillose Überforderung. Es brauche eine Weile, bis man sich gefunden habe. Um sich zu öffnen, müssen persönliche Beziehungen aufgebaut werden. Durch das Zusammenleben in Ascona sind die Voraussetzungen dafür optimal.
Der Drehleier-Spieler Matthias Loibner allerdings ist der Ansicht, dass der Unterscheid eigentlich nicht viel grösser ist als wenn er sich mit Musikern aus dem eigenen kulturellen Umfeld trifft. Wenn sich mehr als zwei Musiker treffen, sei man immer gezwungen, sich zu reduzieren. Gaurav Mazumdar, der permanente Gast und musikalische Leiter des Projektes, hat sein eigenes Credo. Er versucht zunächst einfach alles zu vergessen. Aber nicht alles lässt sich auslöschen. Schon der Klang des Instrumentes ist bei der obertonreichen Sitar mit seiner speziellen Anschlagtechnik unverkennbar. Für Gaurav Mazumdar steht der Lernprozesses im Vordergrund. Nämlich gut zu beobachten und den Anderen in seiner ganzen musikalischen Komplexität versuchen, so weit wie möglich zu verstehen, und sei es nur durch wiederholtes Nachspielen.
Je unbekannter, desto kreativer
Doch nicht alles lässt sich abstellen. Man ist ja immer noch derselbe mit dem Instrument, das erlernt wurde. Sich von der gelernten Spieltechnik und vom vertrauten Klang zu lösen, sagt Mazumdar, sei am schwierigsten. Zwei divergierende Erfahrungen In Kairo wie in Ascona, waren die unterschiedlichen Musiker*innen gezwungen, Gemeinsamkeiten auszuhandeln. Im Tessin suchten sie eine eher behutsame Annäherung und Verständigung. Für alle Beteiligten galt: je fremder das Gegenüber, um so mehr gehen die Ohren auf. Erst wenn Grenzen sichtbar sind, entsteht auch der Reiz, sie zu überwinden.
In Kairo begegneten sich die Musiker*innen nicht auf Augenhöhe. Da das Projekt von der Schweiz finanziert wurde, waren die europäischen Musiker*innen zunächst in der Geberrolle, im musikalischen Aufeinandertreffen drehte sich die Hierarchie jedoch um: Das Mazahar Ensemble suchte nicht wirklich den Austausch für etwas Neues, sondern lud die fremden Musiker*innen ein, an ihrem Ritual teilzuhaben. Die vom Ausland finanzierte Begegnung war für sie Teil einer ökonomischen Überlebensstrategie, von der auch das organisatorisch verantwortliche Kulturzentrum Makan profitierte.
Abhängig von internationaler Förderung
In einem Land, in dem es praktisch keine Kulturförderung gibt, sichern derartige internationale Partnerschaften die institutionelle Existenz. Auch dieser Aspekt spielt in die musikalische Begegnung hinein. Schweizer Musiker*innen, die Musik afrikanischer Trance-Rituale (nach)spielen, sind womöglich genau so wenig glaubhaft wie die Heilungskraft afrikanischer Masken in europäischen Museen. Zudem ist das Zar-Ritual von Mazaher, das regelmässig im Zentrum von Kairo aufgeführt wird, weit weg von seinem ostafrikanischen Ursprungszusammenhang. Dennoch sind die ägyptischen Musiker*innen beseelt von ihrer Musik, die im urbanen Kontext von Kairo durchaus folkloristisch erscheinen mag.
Und auch das Publikum im Makan Musikzentrum hatte wohl kaum ernsthafte Heilserwartungen. Anders als in Ascona, wo sich alle Beteiligten hierarchielos am selben Ausgangspunkt befanden, zeigte sich in Kairo, dass für das ägyptische Ensemble um Om Sameh und ihre in der Tradition verwurzelte Spielpraxis eine interkulturelle musikalische Begegnung wenig Sinn macht. Denn für sie gab es schlichtweg keinen Grund, den eigenen kulturellen Kontext zu verlassen. Musik ist keine Sprache. Die Verständigung mit ihr ist und bleibt ein ambivalentes Unterfangen.
Die Kommunikation miteinander über Musik wird immer auf das gegenseitige musikalische Versteh- und Sprachvermögen beschränkt sein. Wie in der gesprochenen Sprache mischt sich auch in der Musik kulturell determinierte Voreingenommenheit mit Vorwissen, das oft nicht weit über das Ungefähre hinausgeht. Dennoch kann eine Verständigung gelingen, wenn die Voraussetzungen stimmen.