Ich wuchs auf in einer ruhelosen Welt. Im Haus meiner Grosseltern, im Bombay meiner Kindheit war Stille ein kostbares Gut. Alles war laut, durch die immer offenen Fenster drängten die Straßen in die Zimmer, mit ihren kreischenden Hupen, knatternden Dieseln, den melodischen Schreien der fahrenden Händler. Auch im Haus schrie man selbst dann, wenn man es sachlich meinte: um das unaufhörliche Brausen der Stadt im Wohnzimmer zu übertönen, hatten meine Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins ihre Stimmen zu kräftigen Organen erzogen.
Nie war man allein. Aus der Küche drangen Zisch- Brutzel- und Hackgeräusche, aber auch jene oft in lautem Gekeife oder Gelächter kulminierenden Debatten in drei Sprachen – Gujarati, Marathi und Englisch – die sich nahtlos ins Esszimmer und in den Shivaji Park gegenüber fortsetzten, wo jeder Sonntag mit endlosen Lautsprechertests begann, Probeläufen für politische Massenveranstaltungen, deren geifernde Appelle regelmässig den Hof und die Bäume vor unserem Haus überschwemmten. Darin punktierten Affen, Tauben, Mynahs und Krähen den allgegenwärtigen Lärm, aber auch die stillsten Minuten, kurz vor Tag, in jener verhaltenen, verwunschenen Zeit, in der das Hecheln hunderter Morgengymnasten den Tag begrüßte, Tennisbälle und –rufe, das Klackern der Bambusstäbe, die in wie rituelle Tänze anmutenden Verrenkungen aneinandergeschlagen wurden. Manchmal konnte man, in diesen kurzen Minuten des Zwielichts, tatsächlich das nahe Meer rauschen hören, der Bordun für all die bald darauf einsetzenden Morgengesänge aus den Häusern rundum, und für die ferneren Rufe der Muezzins.
Die Welt war ein brodelndes Miteinander verschiedenster Klänge, menschlicher, technischer, natürlicher – und von Musik. Die singenden Rufe der Bettler, die blechern und quäkend lärmende Fröhlichkeit der Hochzeitsbands, die jeden Winter zu einem monatelangen Fest werden liess, die kreischenden Radios, die obsessive musikalische Beschallung jedes Unterfangens im öffentlichen Raum diente nicht, wie hierzulande, der Erzeugung klingender Schutzglocken vor dem Alltagslärm, sondern erzeugte, dendritengleich, ein Netz von Beziehungen: da sang die Tante in der Küche das Lied aus einem vorbeifahrenden Taxi mit, hupte der Taxifahrer im Rhythmus der an ihm vorbeiziehenden Prozessionsmusik, die wiederum Filmschlager intonierte, die aus einem der Läden am Strassenrand quollen.
Jeder hörte, jeder machte aber auch Musik: Fast jeder ältere Mensch, der mir in Indien nahe war, sang täglich seine Gebete und Lieder vor sich hin, in einer melodischen Komplexität, die mir noch heute erstaunlich erscheint. Klassische und populäre Musik bedeuteten nicht musikalische Kategorien, sondern verschiedene Stufen der Aneignung: alles, was man wiederholen konnte, mit sich singend im Alltag umhertragen, war populär – klassische Musik war dagegen das Unwiederholbare, das den Moment des Hörens und Machens herausschälte aus der ewigen Wiederholung der Welt.
Die Welt war eine Haut aus Lärm, in der man geborgen war, die einen nicht in Ruhe ließ. Dann kam ich nach Deutschland, aufs schwäbische, später norddeutsche Land, mit seinen geschlossenen Fenstern, den großen Schallschluckern Regen und Schnee, den wortkargen Konversationen im Unterton. Vorher war mein Elternhaus fast eine Insel der Stille im indischen Alltag gewesen, jetzt waren wir immer und überall, wo wir wohnten, die lautesten Nachbarn.
Was ich mitnahm aus Indien, war das Bewußtsein dafür, dass kein Klang je alleine daherkommt – aber auch die Sehnsucht nach dem köstlichen Geschmack der Stille und der Kraft, die aus ihr entsteht. In Hammah, dem niedersächsischen Dorf meiner Jugend am Rande des Sterneberger Moors, wurde ich in der regenrauschenden Stille der einsamen Nachmittage zum Komponisten, der Töne aufsuchte und aus der Erinnerung klaubte. Unbeholfen anfangs (und eigentlich noch immer), aber unbeirrt in meiner Suche nach dem sich immerzu wandelnden, und genau aus diesem Grund letztlich intellektuell undurchdringlichen Zusammenwirken disparater Klänge.
Tatsächlich hat mich Musiktheorie bei aller intellektuellen Lust, die sie mir ermöglichte, nie wirklich gefesselt, ihre pseudo-mathematischen Spiele und pseudo-histologischen Präparate, seien es Skalen, harmonische Analysen, Frequenzraster, Formmodelle, Mikrotöne, die mich allesamt sehr lange Zeit selber verwirrten, vom Komponieren dessen, was ich wirklich suchte, abhielten – heute erscheinen sie mir als ebenso viele Mittelchen gegen die Folgen einer frühkindlichen akustischen Mangelernährung. Ihre bedauerlichen Opfer schneiden sich in heroischer Geste die Ohren ab, um den Tumult (und die Süsse) der Welt nicht ertragen zu müssen. So wollte ich nicht leben.
Mein kompositorischer Umgang mit den verschiedenen Klangwelten, in die ich geworfen wurde, und auch jenen, die ich später aufzusuchen begann, arbeitet sich keineswegs an einer Konjunktion musiktheoretischer oder klanglicher Kulturphänomene ab. Das würde meinem Empfinden nicht gerecht. Mein Weg in diesem terrain vague ist ganz persönlich, aber darin vielleicht auch verbindlicher. Er lebt von dem aus meinem Werdegang erklärlichen akustischen Gefälle zwischen Grossstadt und Land, zwischen Gesang und Geräusch, vor allem aber zwischen den Regeln des Zusammenseins – und der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit von Harmonie und Bedeutung.
Einige meiner neuesten Arbeiten wie «Inside A Native Land» oder «Mora» erforschen vor allem das letzte Gefälle: wie kann man viele musizierende Individuen musikalisch einander zuhören lassen, ihnen Regeln geben, die ihnen den Kontakt zueinander erleichtern – und wie kann man dann aus diesem Kontakt Bedeutung entstehen lassen, eine Bedeutung, die ich als Komponist selbst noch nicht kenne, die jedoch auch über den Moment der Entstehung hinaus wirksam bleiben kann. Noch sind es nahezu monochrome Tableaux, die ich da entwerfe, in denen das Wuseln der Klänge sich vorerst auf wenige Gesten beschränkt, akustische Snapshots aus meiner Erinnerungstruhe, die Geschichten nur zwischen den Bildern erzählen.
Vielleicht ist das, so denke ich manchmal, überhaupt immer so, dass Bedeutungen nur im Zwischendrin entstehen. Hier ein Kinderschrei, dort ein Klavierton, dahinter der Diesel eines Lastwagens, ein Bohrer in der Wand und ein paar Worte Türkisch von der Straße herauf – so klingt es in meinem Berliner Arbeitszimmer gerade: und das ist eine schöne Metapher für meine Art von interkultureller Musik. So komponiere ich mir auch mein musikalisches Zuhause.
Immer wieder höre ich ich im Westen, dass wirkliche Musik nur aus der Stille kommen könne, aus der Stille der Welt. In Indien ist es dagegen die Lebensaufgabe eines klassischen Musikers, das Tosen der Welt mit heißem Bemühen in eine metaphysische Stille zurückzuführen.
Mir ist beides als Erfahrung nicht fremd – aber ich weiss: mein Glück als Musiker finde ich nur im Wechsel der Perspektiven, im Wirbel der Bedeutungen, in jener Gleichzeitigkeit des sich Fremdartigen, die mir ins Ohr brüllt, dass die Welt der Klänge formlos sei, ohne Ziel und ohne Gestalt, ein unzähmbares Flirren von Lebenszeichen und Klängen. Dann fühle ich mich wohl und bei mir. Und kann mich ruhig an meinen Schreibtisch zwischen all diesen Kulturen setzen – und komponierend in mich hinein dem lauschen, was von der rauschhaften Kakophonie der Welt, die mich jeden Tag meines Lebens durchweht, in meinem Hören hängen blieb.