Als «Neue Konzeptualisten» konfrontiert eine junge Komponistengeneration die Neue Musik mit Multimedialität und globaler Vernetzung. Sie sie die erstarrten Spielregeln der Kunstmusik infrage und rüttelt am Werk- und Kunstbegriff. Ein conceptual turn in der Neuen Musik? Aus dem Norient Buch Seismographic Sounds (hier bestellbar).
Die Maschine macht die Kunst
In der bildenden Kunst, der Literatur und der Philosophie ist Konzeptualismus ein «verunreinigter» Begriff. In der Musik verhält es sich kaum anders: Die Reinheit des Ismus existiert auch hier bestenfalls in vitro. So beobachtet Johannes Kreidler in seinem Text Neuer Konzeptualismus. Methoden «viele Misch- und gemässigtere Formen» und Jennifer Walshe vermutet sogar eine semantische Fehlleistung: «The term ‹conceptualism› in new music», schreibt sie in (Some Other) Notes on Conceptualisms, «is now used in much the same way as ‹experimental› – a very loose designation which refers to an open, messy, incredibly rich and vibrant field of activity [...]». Festzuhalten bleibt dennoch: Kaum einem Begriff kommt im aktuellen Diskurs der Neuen Musik mehr Reizwortqualität zu als dem des Konzeptualismus – womit gewissermassen eine Tradition ihre Fortsetzung erfährt.
Knapp fünfzig Jahre zurück: Mit seinen 1967 erschienenen Paragraphs on Conceptual Art, die heute als theoretische Basis der Konzeptkunst gelten, forderte der US-Amerikaner Sol LeWitt eine drastische Wende im künstlerischen Denken und Handeln ein: Die gedankliche Dimension eines Kunstwerks sollte Vorrang haben vor seinen material- und mediumspezifischen Eigenschaften. «In conceptual art», schreibt LeWitt, «the idea or concept is the most important aspect of the work. When an artist uses a conceptual form of art, it means that all of the planning and decisions are made beforehand and the execution is a perfunctory affair. The idea becomes a machine that makes the art». Das bedeutete nichts weniger, als dass Qualitäten wie Handwerk, Erhabenheit und Originalität in ihrer absoluten Funktion infrage gestellt wurden. Eine solcher Entwurf irritierte die Zeitgenossen: Die Neuheit dieser Werke, befand damals der Kunstkritiker Clement Greenberg in Minimal Art. A Critical Anthology, resultiere lediglich aus einer «Verkleinerung des Bereichs, in dem Dinge ungestört Nicht-Kunst sein können».
Womöglich ist es nach wie vor diese Absage ans Definierte, an die historisch sanktionierte Trennung zwischen Kunst und Nicht-Kunst, die auch den gegenwärtigen musikalischen Konzeptualismus zum skeptisch bis feindlich betrachteten Phänomen macht? «[A]n open, messy, incredibly rich and vibrant field of activity» – mit Öffnungen dieser Art hat sich die Musik schon immer schwergetan. Mit dem conceptual turn erfuhr die Objekthaftigkeit bildender Kunst eine Umprägung, die in der Musik – genauer gesagt in der kompositorischen Praxis – zunächst kaum Entsprechungen fand. Von den ästhetischen Entwürfen etwa John Cages oder Alvin Luciers abgesehen, blieb hier das Werk, das heisst die nach handwerklichen Standards herzustellende und aufzuführende Partitur, die entscheidende Instanz.
Ausbruch aus dem Kunstmusik-Kosmos
Erst in jüngerer Zeit ist die Zahl der Komponisten gestiegen, deren Skepsis diesen scheinbaren Selbstverständlichkeiten gilt. Ihre Distanz äussert sich im Bedürfnis, sich in kritische Relation zu Erlerntem und Gewohntem zu setzen – vertraute Gefüge werden gestört, Übereinkünfte zur Disposition gestellt. Zugleich wächst das Interesse an Wirkung und Rezeption der Neuen Musik, die sich im kulturellen Diskurs mehr und mehr isoliert hat und bestenfalls als randständige Spezialistenkunst wahrgenommen wird.
Einer dieser Komponisten ist Johannes Kreidler (siehe auch Interview und Podcast auf Norient), der 2013 mit seinen 21 Sätzen über musikalische Konzeptkunst den conceptual turn für die (Neue) Musik reklamierte. «Ein Konzeptstück wird von einer pointierten Idee determiniert», lautet der erste dieser Sätze. Auch hier wird – analog zu Sol LeWitts Entwurf – der Fokus auf den begrifflichen Aspekt des Kunstwerks gerichtet. Anstatt das mehr oder minder kreative Zusammenbasteln musikhistorisch abgesegneter Topoi als Komponieren zu begreifen, verlagert sich die künstlerische Intention vom Wie der Machart auf das Wozu des ästhetischen Gehalts und damit auf die Frage nach der Signifikanz des musikalischen Kunstwerks ausserhalb eines szeneinternen Schutzraums.
Mit der Anwendung einer konzeptuellen Ästhetik auf die Musik wird das tradierte Paradigma des Werks nachdrücklich in Frage gestellt – und mit ihm sämtliche Attribute, die dem Phänomen Kunstmusik angeheftet werden: die bewundernswerten Fähigkeiten der Interpreten, die Aura ihres (post-)symphonischen Instrumentariums, das quasi-liturgische Ritual des Konzerts. Konzeptuelle Stücke brauchen keinen Konzertsaal, weder Bratsche noch Oboe – YouTube und MIDI-Sounds tun’s auch. Der ästhetische Apparat des Musikalischen reicht hier von den Exponaten und Wiedergabemedien der bürgerlichen Musikkultur bis hin zu den unzähligen «Archivalien» und Distributionsmöglichkeiten des Internets.
Musik aus Nicht-Musikalischem
Dieser erweiterte Materialbegriff hat in der Neuen Musik in jüngster Zeit ein Bewusstsein dafür erzeugt, dass die Bedingungen eines künstlerischen Zugriffs auf die Gegenwart mit dem Rahmen der traditionellen Aufführungspraxis kaum mehr vereinbar sind. Dementsprechend wird nach Formen der Darstellung gesucht, die sich explizit mit den Erscheinungsformen von Musik im Kontext einer globalen Vernetzung beschäftigt. So bringt etwa die Komponistin Brigitta Muntendorf in ihrer Werkreihe «Public Privacy» Live-Performer mit virtuellen Instrumentalisten in Verbindung: Die konkrete Bühnensituation wird mit einer weiteren Spielfläche konfrontiert – mit YouTube.
Auf diese Weise entsteht eine permanente Ambivalenz, angesiedelt zwischen den Polaritäten Präsenz und Abwesenheit, Realität und Virtualität, «High» und «Low», Authentizität und Fake. Darüber hinaus wird Musik vom Phänomen zum Wahrnehmungsmodus umgedeutet, indem zunächst noch Aussermusikalisches durch entsprechende Kontextualisierungen musikalisiert wird. Dabei sind die verwendeten Materialien denkbar divergent: In Johannes Kreidlers «Shutter Piece» ist es das Video eines Fussballspiels, das als rhythmische Ebene eingesetzt wird, während Stefan Prins in sein Stück «Generation Kill» die Aufnahmen von Drohnen des US-Militärs in Afghanistan einbindet.
Im Zuge des conceptual turn findet eine denkbar nonkonformistische Aneignung der gegenwärtigen Medienvielfalt statt. Nichts ist mehr sicher vor dem musikalischen Zugriff. Das bewirkt eine ästhetische Expansion, die im Umkehrschluss mit Reduktion einhergeht: mit der kontinuierlichen Verkleinerung des Bereichs, in dem Dinge ungestört Nicht-Musik sein können.