«Polyphonia»

Polyphones Albanien

Review
by Theresa Beyer

«Polyphonia» ist ein Dokumentarfilm über die mehrstimmigen Gesänge in den Bergen Mittelalbaniens, über die Freundschaft zwischen einem orthodoxen und einem muslimischen Bauern, Landflucht und Generationskonflikte.

Ein Schluck schwarzer Kaffee, ein Gläschen hochprozentiger Raki und der Hirte Arif stimmt eine Melodie an. Nach dem ersten Takt setzen sechs ältere Herren ein und erzeugen einen durchdringenden Bordunton, der traditionsgemäss wie Glocken klingen soll. Im Dokumentarfilm Polyphonia gehen besonders diese Momente unter die Haut – hier wirkt das Miteinander-Singen wie eine organische Fortsetzung des Gespräches. Die Iso-Polyphonie (2005 wurde sie zum immateriellen UNESCO-Erbe erklärt) ist «eine existenzielle Art des Sich Ausdrückens, ein Akt der emotionalen Befreiung» schreibt der Filmemacher und Musikethnologe Eckehard Pistrick in seinem Reisetagebuch.

Man mag sich fragen, warum einem dieser geheimnisvolle Gesang in den ersten 20 Minuten des Films vorenthalten wird. Später erzählt einer der Sänger: «Ein bisschen singen wir alle, aber es braucht ein wenig Anstrengung bis das Lied oder ein Gespräch ,reif‘ ist und man sich miteinander versteht.» Auf diese Weise reift auch der Film: Langsam versinkt man in die malerische Bergwelt des oberen Shpati in Mittelalbanien. Der ausserordentliche Sinn für Lichtstimmungen und Details ist dem fotografischen Geschick des Dokumentarfilmers Björn Reinhardt zu verdanken. Manchmal verharrt er jedoch etwas lange auf den faltendurchfurchten Gesichtern, womit er seine Protagonisten in eine National-Geografics-Ästhetik hart am Kitsch plaziert. Echte Nähe hingegen erzeugt das Mit-Erleben des bäuerlichen Alltags. Ruhig verfolgt die Kamera wie der Esel beladen, das Beil geschliffen, die Ziegen verkauft werden. Der Kontext verrät dabei viel über die Musik: Während und nach der harten Arbeit bilden die meditativen Gesänge fest im Tageslauf verankerte Ruhepole.

«Polyphonia»

Doch der Film ist mehr als ein Portrait zweier befreundeter Hirten, welche die Liebe zur polyphonen Tradition teilen. Reinhardt und Pistrick wissen die Interviews mit Anastas, Arif und den Dorfbewohnern so zu verknüpfen, dass die Widersprüche der postsozialistischen Wirklichkeit Albaniens unaufgesetzt zur Sprache kommen. Es soll eine Strasse gebaut und Touristen angelockt werden – aber zugleich treiben Armut, Landflucht und Emigration den Zerfall der Bergdörfer weiter voran. Auch Anastas Kinder sind in die nächst grössere Stadt oder nach Griechenland gezogen. Bis der warmherzige Hirte im Jacket die Reise nach Griechenland antritt, stillt er seine Sehnsucht mit der passenden Ballade: «Die Alten haben ihr Leben geändert/ Und die Jugend bleibt in der Ferne/ Oh weh! Oh weh!/ Klagt ihr Armen, denn Kummer naht.»

Besonders den Älteren fällt die Neuorientierung nach dem Sturz des Regimes 1990 schwer – die sozialistische Diktatur steckt ihnen noch in den Knochen und hat unter anderem ihre religiöse Identitäten erschüttert. 1967 erklärte der Diktator Enver Hoxha Albanien zu einem «atheistischen Staat», verbot jegliche Religion, liess Kirchen und Moscheen zerstören. Allmählich finden die 70% Muslime und 30% Christen wieder zum Glauben zurück und leben friedlich zusammen. So ist es auch nicht ungewöhnlich, dass der muslimische Arif beim orthodoxen Osterfest mit von der Partie ist.

Die ältere Generation beklagt, dass die Jungen zwar wesentlich religiöser seien, sich aber nicht für die traditionelle Musik interessieren: «Die Jugend sitzt den ganzen Tag vor dem Fernseher. Sie wollen leichte Musik hören, sie wollen die Mädchen mit dem nackten Bauchnabel sehen.» Doch dem unlösbar erscheinenden Generationenkonflikt setzen Pistrick und Reinhardt Zwischentöne entgegen. Sie zeigen, dass traditionelle Tanzschritte auch mit arabeskem Pop im Diskolicht kombiniert werden und dass selbst der pubertierende Dorf-DJ die alten Gesänge wertschätzt: «Die gesungenen Verse sind echt schön, weil das eine lebendige Tradition ist. Das ist nicht so wie die arrangierte Musik, die im Computer produziert wird.»

«Polyphonia»

Biography

Theresa Beyer gehört seit 2011 als Editorin, Kuratorin und Mitherausgeberin des Buches «Seismographic Sounds – Visions of a New World» zum Kernteam von Norient und beschäftigt sich mit Themen wie Queeren Musikkulturen, experimenteller Musik in Städten wie Belgrad oder Neu Delhi, und reflektiert in Vorträgen über die Chancen des multilokalen Kuratierens. Neben ihrer Norient-Identität ist sie Musikredaktorin bei Radio SRF 2 Kultur. Follow her on LinkedIn.

Published on January 14, 2012

Last updated on May 01, 2024

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