Wir befinden uns im Jahr 2002: Der algerische Rap drückt mit Worten aus, was die Jugendunruhen in Algerien mit Gewalt demonstrieren. Die Kolonialsprache Französisch haben die meisten der über hundert Rap-Bands abgelegt. Sie nehmen in Algerisch kein Blatt vor den Mund und formulieren lautstark ihren Zorn.
«Seit Anfang der 90er-Jahre organisieren wir Nachmittagspartys, drehen den Ghettoblaster auf und imitieren Hip-Hop aus dem Westen. Wir stossen dabei auf Widerstand: Rap gilt als zu westlich und zu politisch. Raï, Cháabi, andalusische und kabylische Musik sind nur eine Seite von Algeriens Kulturlandschaft, die andere heisst Rap.» Ourrad Rabah, Sprachjongleur und Leader der Rapformation MBS (Le Micro Brise le Silence) kommt beim Interview in Basel mächtig in Fahrt. Er beendet das lange Gespräch mit dem Satz: «Ich möchte mich für die wachsenden Rapszenen in Algier und Oran einsetzen und vielleicht mal ein Aufnahmestudio einrichten.» Wir tauschen Adressen aus, er will mir Kassetten aus Algier senden. Dann verschwindet er und trumpft nach Mitternacht auf der Bühne mächtig auf: mit algerischer Wortkunst, mit globalen und lokalen Sounds.
Zwei Monate später liegen die Kassetten im Briefkasten. Das Cover jeder einzelnen Kassette ist aus Karton, schief kleben Siegelmarken auf den Tonträgern, was dem Hörer wohl signalisieren soll: du hörst ein Original, keine Raubkopie! Totenköpfe und Slogans wie «Jeunesse perdue», «Mafia Politique» und «Virus Rap Algérien» stehen da zu lesen, und die Protagonisten nennen sich Algerian Gangsta Rap, Diable Rouge, S.O.S., Intik, Hamma Boys, Double Kanon oder Brigade Anti-Massacre. Fast alle tragen sie Stirnbänder, Basketball-Shirts und Nike-Mützen und schauen finster in die Welt – nichts vom Lächeln, mit dem die Raï-Sänger ihre Hörerschaft gewinnen. Vieles scheint von den Musiksendern MTV und M6 abgeguckt. Pop bis Soul swingt, Dire Straits und andere Globalsounds klingen an. Die Soundqualität ist miserabel bis okay, und mitten im Lied wechselt die Seite von A nach B.
Algerischer Rap im Offside
Die Weltmusik-Industrie ist weit weg. Sie setzt auf den geschliffenen, auf den vermeintlich lokal geprägten Raï und ignoriert die Bestrebungen der jungen Rap-Generation seit Jahren fast ganz – zu westlich, zu wenig professionell, lautet der Konsens. Rap gilt als Ausdruck zunehmender Amerikanisierung und ist daher keiner Unterstützung wert. Rap ist MTV-Kultur, ist McWorld, ist Sinnbild einer verlorenen Jugend, die ihre lokale Identität und ihre Wurzeln leugnet. Will Weltmusik aber Realitäten abbilden, gehört algerischer Rap ins Repertoire. Zudem ist Rap in Algerien weit weniger sinnentleert als der US-Rap, der sich in den Charts tummelt. Und algerischer Rap hat weit mehr zu sagen als der gut vermarktbare Global-Raï der Superstars Khaled, Cheb Mami oder Faudel.
Während Raï seit den achtziger Jahren von einer lokal geprägten Musik zu einer globalen Allerweltsmusik zieht, entwickelt sich algerischer Rap in die Gegenrichtung. «Fragen Sie meine Produzenten», antwortet der in Frankreich geborene Raï-Jungstar Faudel auf die Frage, wie denn sein nächstes Album klingen werde. Faudel singt über die Liebe, dazu spielt eine Allerweltsmusik. Musik für jeden Geschmack, fremdgesteuert und ohne lokalen Bezug, formt nicht nur er: Raï strebt den Pop-Olymp an, in Zukunft droht allein sein orientalisierender Gesang übrig zu bleiben. Sting hat 1999 im Song Desert Rose, einem Duett mit dem Cheb Mami, exakt die Erfolgschancen dieses Rezeptes aufgezeigt – sieben Millionen Mal ging der Song immerhin über den Ladentisch.
Viele Rapper bezeichnen die Stars des Raï als inhaltlose Variété-Sänger. Sie mögen teilweise recht haben, vergessen aber, dass Raï-Sänger nie frei agierten, sondern meist die Zugpferde für andere waren: An ihren Konzerten in Kabaretts und an Hochzeiten sangen sie auf Kommando des Masters of Ceremony (Barrah), der in einer Art Versteigerung Liederwünsche und Widmungen des Publikums sammelte; im Studio in Algerien spielten sie, was der Produzent verlangte – ähnlich tun sie es vielleicht heute im Weltmarkt.
In Algerien waren Raï-Songs stets schnelllebig auf den Hörergeschmack ausgerichtet. Es zählte die Stimme des Sängers, die Musik war eher nebensächlich. Hinzu kam und kommt die Politik des kolonialen und entkolonisierten Algeriens, die politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen und Kontexte, die auf die Raï-Musiker und ihre Kunst einwirkten. Auch wenn Musiker eigenständige, unberechenbare Persönlichkeiten sind, zeigt ein Blick in die Geschichte Algeriens der letzten fünfzig Jahre doch deutlich, dass Raï- und Rap-Musiker komplett andere Handlungsspielräume gewährt worden sind.
Raï gilt als Kolonial-Folklore
Raï hatte von Geburt weg einen schweren Stand. Bereits sein Vorgängerstil Wahrani galt in den 50er- und 60er-Jahren als vom Kolonialismus pervertierte Folklore und wurde mit Sittenzerfall und Verwestlichung gleichgesetzt. Politisch strahlte die panarabische Idee des ägyptischen Präsidenten Nasser bis nach Algerien aus, musikalisch wurden ägyptische Stars wie Umm Kulthum und Mohammed Abd al-Wahab gefördert, gehört und imitiert. Mit den Sängerinnen («Sheikhas»), die an zwielichtigen Orten in Oran auch für Angehörige der französischen und spanischen Armee «Folklore Oranaise» sangen, wollte das offizielle Algerien gerade während dem Kolonialkrieg nichts zu tun haben. Die Sängerinnen galten als Objekte geheimer Freuden, die tanzten, tranken und sexuellen Affären nicht abgeneigt waren.
Nach der Unabhängigkeit 1962 war es vor allem der Politiker Houari Boumedienne, der sich prägend in die Musikszene einschaltete. Er, der sich mit seiner sozialistischen Einheitspartei (FLN) stark auf die Sowjetunion ausrichtete und für Algeriens wirtschaftliche Unabhängigkeit gegenüber dem Westen kämpfte, machte sich für eine «anständige» nationale Musik stark, die die nationale Einheit und Einigkeit betonen sollte. Er ernannte andalusische Kunstmusik zur Nationalmusik. Den Raï-Musikern, die für ein angenehmes Leben einstanden, Sittenkodexe missachteten und in steifem oranischem Akzent Liebesaffären besangen, waren Boumedienne und die marxistischen Theoretiker seines Regimes alles andere als gut gesinnt.
Raï wurde mit Auftrittsverboten belegt und hatte von TV, Radio und den Printmedien ignoriert zu werden. Boumediennes Algerien sollte kein «Mekka von Revolutionären» sein, die unkontrollierbare Raï-Musik schien da gefährlich. Dass die algerische Jugend Musik aus dem Westen hörte und Bands wie The Students, The New Clarks, Les Welcomes, Bee Gees, Led Zeppelin, Beatles, Johnny Halliday oder Charles Aznavour imitierten, störte das Regime weniger. Es waren die Erfolge des Raï bei der Jugend und die Doppeldeutigkeiten der Raï-Texte, die den Machthabern Sorgen bereiteten.
Die Situation der Raï-Musiker verbesserte sich unter Chadli Bendjedid (1979-1991), dem Nachfolger Boumediennes. Bendjedid vermochte den wirtschaftlichen Niedergang des Landes nicht zu stoppen, wandte sich allmählich vom Sozialismus ab und öffnete Algerien wieder gegenüber den Industriestaaten. Im Westen hatte das Phänomen Raï bereits Interesse geweckt und so sah Bendjedid im Raï plötzlich eine Chance, Werbung fürs eigene Land zu machen. Raï sollte aus den Kabaretts und Cafés geholt werden, und 1985 fand in Oran denn auch das erste offizielle Raï-Festival statt. Da Mitte der siebziger Jahre die Schallplatte durch die billigere Kassette ersetzt worden war, begann Raï-Musik zu boomen. Die schnellere und billigere Produktion und das kurze Regalleben der Songs kurbelten die Raï-Industrie an, wirkten sich künstlerisch indes nicht unbedingt positiv aus.
Raï blieb indes ein Symbol für Demokratie; ganz traute die politische Führung dieser Musik noch immer nicht. 1988 wurden Raï-Musiker denn auch beschuldigt, mit ihren Liedern zur grossen Jugendrevolte aufgestachelt zu haben. Die meisten Sänger stritten dies ab; Cheb Sahraoui betont, dass es keinen Zusammenhang zwischen Raï und der Oktoberrebellion gab, auch wenn Khaleds «Harba Ouine» (Flucht, aber wohin) zur Hymne der aufgebrachten Jugend wurde, die für demokratische Rechte protestierte. Der Jugendaufstand führte zu den ersten freien Wahlen in Algerien, die von der islamistischen Gruppierung FIS gewonnen wurde. Allerdings putschte die Regierung und betrog die FIS damit um ihren Sieg.
Seither führen Regime und verschiedenste islamistische Gruppierungen einen undurchsichtigen Krieg, kämpfen betrogene islamische Gruppierungen gegen das Regime. Diesem Kampf fiel unter anderem auch der Raï zum Opfer. Ab den 90er-Jahren standen sämtliche Sängerinnen und Sänger des Raï auf der schwarzen Liste der FIS. Cheb Hasni (1994), der Produzent Rachid Baba-Ahmed (1995) und der Berber-Sänger Matoub Lounes (1998) wurden ermordet. Viele Sänger zogen ins Ausland, der Raï wurde zur Weltmusik.
Rap löst Raï bei den Jugendlichen ab
Die neue algerische Jugendmusik heisst Rap. Rapmusiker rügen die Raï-Sänger dafür, sich gegen die Anschuldigungen gewehrt zu haben, auf die Oktoberrevolution 1988 Einfluss gehabt zu haben. Rapmusiker äussern sich politisch und sind zu einem wichtigen Sprachrohr der jüngsten Jugend-Protestbewegungen geworden, die sich von der Kabylei auf die grossen Städte ausgebreitet haben. Vom politischen Aspekt ihrer Musik her, führt die Rap-Szene die Tradition der Protestsänger fort, die vor allem in der Kabylei sehr stark ausgeprägt ist.
«Unsere Musik ist immer politisch», sagt nicht nur der Berbersänger Idir: «Es gibt Algerier, die den 1994 ermordeten Cheb Hasni hören und FIS wählen, während das für Anhänger des 1998 ermordeten Berbersängers Matoub Lounes undenkbar ist.» Ähnlich wie in der kabylischen Musik sind viele algerische Raptexte verbale Faustschläge gegen den Staat. Arbeitslosigkeit, Bildungsnot, fehlende Zukunftsperspektiven, Gewalt und Drogen werden angeprangert, Tabus gebrochen. Einschüchtern lässt sich die neue Generation nicht: weder vom Regime, noch von den Islamisten. «Wenn du schweigst, stirbst du, wenn du sprichst, stirbst du auch; also sprich und stirb!», schrieb der algerische Schriftsteller Tahar Djaout und wurde kurz danach ermordet; Rapgruppen wie MBS (le Micro Brise le Silence) nahmen sein Motto auf und druckten es auf ihr CD-Cover.
«Werfen wir die Stille in ein Leichentuch. Der Rap ist die Waffe, mit der ich meine Wut reinige. Was mit mir geschehen wird, ist egal, auch wenn ich vor dem Richter lande. Ich lebe, ich will mein Land repräsentieren», rappen MBS, und auch die Gruppe Intik spricht Klartext: «Ich muss die Wahrheit aussprechen und denen eine Stimme geben, die misshandelt wurden. Ich spreche von Kindern, die verbrannten, von meinen Schwestern, die vergewaltigt wurden.» Über hundert Gruppen sollen sich heute allein in Algier der Rapmusik widmen. Der Absatz ihrer Kassetten soll enorm sein: MBS habe 80'000 Kassetten verkauft, Hamma Boys nicht viel weniger. Rap prägt heute Algerien. Und Algerien prägt den Rap. Selbst die Stars des Raï achten die algerische Rapgemeinde – jedenfalls geben sie das vor. Khaled etwa bewundert den Mut dieser «jungen Wilden»: «Verrückt, was die in Algerisch zu sagen wagen. Gefährlich, wirklich gefährlich.» Ein Blatt vor den Mund nehmen die «jungen Wilden» tatsächlich nicht: «Verflucht zu sein, ist keine Fiktion. Seit frühester Kindheit wurde ich vom Glück getrennt. In mir kocht der Zorn eines angeketteten Hundes. Mit zwanzig würde ich gerne ein neues Kapitel meines Lebens schreiben», rappt K-Rime von Intik.
Unabhängig und kaum fassbar
Bis heute (Februar 2002) sind die Sprechjongleure Algeriens kaum in grössere Strukturen eingebunden und deshalb auch kaum fassbar – zum einen weil niemand riskieren will, mit ihnen Geld zu verdienen, zum anderen, weil die jungen Musiker unabhängiger bleiben wollen als die Raï-Musiker. Die Rapper sparen oder borgen sich Geld, mieten sich eigene Studios und produzieren ihre Musik selber. «Die Produktion unserer Kassetten kostet ein Vielfaches mehr als im Raï. Wir nehmen in ein, zwei Tagen ein Stück auf, Raï-Sänger in einer Stunde ein ganzes Album», sagt Rabah: «Haben wir ein oder zwei Stücke fertig, versuchen wir sie einem Herausgeber oder Produzenten schmackhaft zu machen; Meistens gelingt dies nicht, kaum einer will etwas mit Rap am Hut haben. Ein Produzent wollte algerischen Rap fördern, heute ist er tot», sagt Rabah und schweigt. «Findest du einen Herausgeber, zahlt er dir einen Minimalpreis pro verkaufte Kassette», fährt er fort: «Wir sollen unser zweites Album 80'000 Mal verkauft haben; wie aber wollen wir das kontrollieren oder beweisen?»
Im Westen könnten die Sprechjongleure Algeriens von der Akzeptanz und vom Erfolg des Raï profitieren. Erste, in Algerien lebende Gruppen feiern in Frankreich Erfolge – bislang haben das nur immigrierte «Beurs» wie etwa Freeman und Imhotep von der Gruppe IAM oder Rim-K vom Kollektiv 113 geschafft. MBS und Intik haben erste internationale CDs eingespielt, und die Sampler Wahrap und Algerap liegen im Fnac auf.
Er könnte sich im Erfolg sonnen, habe die Realitäten in seinem Land aber nicht vergessen, betont Ourrad Rabah, und: «Wenn sich die politische Situation bessert, wird Europa sehen, wie viele unbekannte Seiten die grossartige Musiklandschaft Algeriens noch zu bieten hat.» Eines ärgert ihn besonders – und das sei zum Schluss angemerkt: «Immer wieder fragen westliche Journalisten nach der Frauen-Rapgruppe Les Messagères – als ob rappende Algerierinnen an sich was besonderes wären», sagt Ourrad Rabah. «Es gibt schliesslich mit den Moon Light Girls und den Raprockets verschiedene andere weibliche Rapgruppen. Diese Künstlerinnen stehen erst am Anfang, sie sollten nicht schon Titelbilder von europäischen Magazinen füllen. Oberflächlicher Erfolg bringt sie nur davon ab, ihre Kunst weiterzuführen. In meiner Gruppe MBS singt auch eine Frau – das ist doch normal. Ob Frau oder Mann, wir müssen vorwärts gehen und versuchen, uns musikalisch immer besser auszudrücken.»