Blinde Passagiere
In ihrem Text beschreibt die Klarinettistin Shabnam Parvaresh, welche Musik sie in ihrer Kindheit und Jugend begleitet hat. Die Erinnerungen an ihr Elternhaus verbinden sich zunächst mit geliebten Tonträgern, später mit endlosen Downloads. Was sie als Musikerin noch im Gepäck hatte, entdeckte sie aber erst in Deutschland.
Denke ich an Musik, kommen mir frühe Erinnerungen meiner Kindheit in Iran in den Sinn. Ich sehe meinen Vater in einem bequemen Sessel im Wohnzimmer unseres alten Hauses in Teheran sitzen. Als leidenschaftlicher Sammler von Artefakten aller Art hatte er eine grosse Kollektion von Schallplatten und Kassetten angehäuft, dessen Spektrum, von Buddy Rich bis Beethoven, sämtliche Spielarten des westlichen Klassik-, Rock- und Jazzkanons umfasste. Der Besitz dieser Aufnahmen war (und ist) in Iran eigentlich teilweise verboten und bei vielen der Aufnahmen handelte es sich um Raubkopien, die in Kellern und auf Dachböden auf ausgeleierte Kassettenbänder überspielt wurden. Vor dem Schlafengehen hörte ich Tschaikowskis «Nussknacker Suite» auf diesen knisternden Bändern, deren leicht verzerrter Klang mich in eine andere Welt transportierte. Die Musik schuf mir ein Paralleluniversum, das mit der realen Welt vor meiner Haustür nichts zu tun hatte. Alle Zwänge und Verbote des Alltags in der Islamischen Republik schienen für die Länge eines Kassettenbandes von der Musik überdeckt und in weite Ferne gerückt.
Zwischen schier endlosen Downloads und Tradition
In meiner Jugend in den 1990er Jahren kam das Internet in Iran auf und öffnete eine völlig neue Welt. 2020, als ich das Sheen Trio gründete, schrieb ich den Song «5 Days 8 Hours and 35 Minutes» in welchem ich diese Zeit mit ihrer gespannten Ungeduld während eines schier endlos dauernden Musikdownloads thematisiere. Die knackende und knirschende Modemverbindung ermöglichte uns damals einen zwar langsamen, aber für unsere Verhältnisse schier grenzenlosen Zugang zu aller erdenklichen Art von Musik.
Ich verliebte mich unsterblich in Eddie Vedder von Pearl Jam, hörte Grunge-Rock und gründete mit meiner Schwester meine erste Band im Wohnzimmer unseres Elternhauses. Was bis dahin in meinem musikalischen Kosmos überhaupt keine Rolle gespielt hatte, war die Musik, mit der ich heute in meinem Alltag als Musikerin häufig in Verbindung gebracht werde: traditionelle iranische Musik. Als Jugendliche hatte ich noch keine Ahnung von den auf Vierteltonalität basierenden Skalen des Dastgāh-Systems, welche Ende des 19. Jahrhunderts durch iranische Musiker systematisch aufgeschrieben wurden, nachdem sie Jahrhunderte lang mündlich von Meister zu Schüler weitergegeben wurden.
Die Tonleitern des Dastgāh bilden bis heute den Kern des Gesamtrepertoires der traditionellen iranischen Musik. Sicherlich lief auf rauchgeschwängerten und von Rosinenschnaps befeuerten Partys in meinem Elternhaus immer wieder auch iranische Popmusik aus den 1960er und 1970er Jahren, die zuweilen auch traditionelle Instrumente in ihren Stücken gebrauchten. Der traditionellen iranischen Musik haftete in meinen Augen jedoch etwas Anstössiges an, da sie eine lange Zeit als einzige Musikform in Iran legal war. Für mich repräsentierte sie fälschlicherweise das islamische Regime, welches mit all seinen Verboten meinen Alltag reglementierte und viel Leid über meine Familie gebracht hatte. Traditionelle Musik war für mich die Musik der Aussenwelt, die man im Taxi hörte, im Restaurant, beim Einkaufen auf dem Markt oder die im Fernsehen lief, wenn die Märtyrer des Iran-Irak Krieges theatralisch beklagt wurden.
Ich hatte zwar als Kind eine Zeit lang Unterricht auf einem traditionellen Instrument, der Santur, bekommen, meine Leidenschaft für das Musikmachen entfachte aber erst als ich mit der Klarinette ein Instrument zu spielen begann, mit dem ich mir Zugang zu den Helden meiner Kindheit verschaffen konnte: Tschaikowski, Beethoven und Schostakowitsch.
Die Suche nach der eigenen musikalischen Sprache
Als Klarinettistin schaffte ich es bis in das Teheraner Symphonieorchester, wo wir neben westlicher Klassik auch viel Propagandamusik für das Regime spielen mussten. Als ich mich schliesslich entschieden hatte, Iran zu verlassen, um nach Europa zu gehen und Jazz-Klarinette zu studieren, war es, als ob ich musikalisch bei Null anfangen würde, schliesslich hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt kaum Jazz gespielt. Ich spürte aber, dass ich in dieser Musik und der freien Improvisation eine neue musikalische Heimat gefunden hatte. Was mir noch fehlte, war eine eigene musikalische Sprache. Ich war selbst erstaunt darüber, als sich im Laufe der Zeit in meinen Melodien immer wieder Bestandteile der traditionellen iranischen Musik wiederfanden, die anscheinend wie blinde Passagiere durch mein musikalisches Leben mitgereist waren, ohne dass ich sie wahrgenommen hätte.
So begann ich – anfangs unbewusst – Elemente aus dem Dastgāh-System in meine freien Soli auf der Bassklarinette und Klarinette zu integrieren. Etwas begann in mir zu resonieren und ich stellte fest, dass dies der Ansatz war, nach dem ich gesucht hatte. Seitdem experimentiere ich mit der Integration der Tonalität, des Sounds und auch der Rhythmik der traditionellen iranischen Musik in einen freien, explorativen Rahmen. So finden sich in meiner Komposition «Gozar», die ich anlässlich der Proteste in Iran im November 2019 schrieb, Elemente aus der schiitischen Prozessionsmusik. Anstelle des schiitischen Märtyrers Hossein gedenke ich jedoch den getöteten Demonstranten. In «The Dance of Two Cherry Trees» transponiere ich den Klang des persischen Holzblasinstruments Dozaleh auf zwei Klarinetten und denke an die beiden Kirschbäume im Hof unseres Hauses in Teheran.
«Flashback» beginnt mit einem Geflecht aus Vierteltönen und ungeraden Taktformen, die ich direkt dem Dastgāh-System entnommen habe. Die Vierteltonalität meiner Bassklarinette kollidiert mit einer Gitarrenmelodie, die sich zwar mit den Vierteltönen reibt, aber auch Spannung erzeugt.
Exotisierende Vorurteile
Je grösser der Abstand zu Iran wurde, desto stärker begann ich, die traditionelle Musik Irans wertzuschätzen. Und ich verstand, dass ihr musikalisches Erbe nichts mit dem islamischen Regime in Teheran zu tun hatte. Im Spiegel meiner Migration wurde sie mir plötzlich nahbarer und zu einem Referenzpunkt meiner Vergangenheit in Iran, wie entfernte Cousinen, mit denen man lange nicht gesprochen hatte, die aber trotzdem Familie sind. Zwar zeigen sich in meinen Kompositionen diese Schemen aus der Vergangenheit, ich nutze sie nun aber bewusst in einem assoziativen Kontext als ein Element von vielen.
Das kann Hörgewohnheiten herausfordern und meine Lust am Experiment und musikalischer Ambiguität stösst nicht überall auf Verständnis. Ein prominenter Kollege zeigte sich auf einem Festival in Deutschland erstaunt, dass ich als Iranerin offensichtlich keine traditionelle «iranische» Musik machen würde. Das Musikgeschäft ist eine noch immer von Männern dominierte Sphäre und die Erwartungen an eine schwarzhaarige Frau, mysteriöse orientalische Klänge zu spielen oder – besser noch – zu singen, sind allerorten spürbar. Ein anderes Mal wurde mir nach einem Konzert gesagt, meine Musik würde nicht so klingen wie ich aussehe. Dabei sollten solche Erwartungen Relikte der Vergangenheit sein. Ich sehe meine Musik als einen Ausdruck kultureller Gleichzeitigkeit. Sie dient mir als eine Leinwand, die Grenzen transzendiert und auf der ich meine Geschichte erzählen kann.
Shabnam Parvareshs Debütalbum «Gozar» mit ihrem Sheen Trio erscheint im Oktober 2022 auf Berthold Records.
Dieser Text ist Teil des Norient Specials «Klangteppich: Voices from the Iranian Diaspora and Beyond», veröffentlicht im Vorfeld von «Klangteppich. Festival für Musik der iranischen Diaspora IV». Das Special wurde kuratiert und editiert von Franziska Buhre. Mehr zum Programm und den Künstler*innen hier.
Klangteppich IV wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und vom Kofinanzierungsfonds Berlin.
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Published on May 19, 2022
Last updated on May 25, 2023