Mit dem Noiseprojekt Sudden Infant befreit der Schweizer Musiker Joke Lanz unterdrückte Körperklänge und erkundet emotionale Grenzbereiche zwischen Trauma und Euphorie. Seine Noise-Sprache ist das Resultat seiner biografischen Prägung und Sozialisierung in den Achtzigerjahren. Aus dem Norient Buch Seismographic Sounds (hier bestellbar).
[Thomas Burkhalter]: Du bist ein erfahrener Noise-Musiker. Vielleicht kannst du diese schwierige Frage beantworten: Wie hängen Musik und Biographie eigentlich zusammen?
[Joke Lanz]: Die Musik, die ich mache hat viel damit zu tun, woher ich komme und wie ich aufgewachsen bin, denke ich. Als ich dreizehn Jahre alt war, hat sich mein Vater freiwillig aus dem Leben verabschiedet. Das hat bei mir viele Fragen und Gefühle ausgelöst. Ich verschrieb mich der Punkmusik: Ihre Einfachheit, Kraft und Körperlichkeit war für mich genau das Richtige, um meinen Schmerz zu verarbeiten und meine Wut rauszulassen. Später bin ich dann bei den Aktionisten gelandet und habe ihre Bücher geradezu verschlungen: über Fluxus, Dada und die Wiener Aktionisten. Die haben wiederum sehr viel Punk drin.
[TB]: Im Ausland stelle ich manchmal die Frage: «Wie prägt Kairo oder Karachi deine Musik?» Zuhause in der Schweiz fühlt sich dieselbe Frage falsch an – sie schreit nach einer klischierten Antwort. Ich frage trotzdem: Wie findet die Schweiz in deiner Musik statt?
[JL]: Ich bin im Mittelland aufgewachsen und habe darum keinen Bezug zur schweizerischen Bergwelt – damit hätten wir es schon, das Klischee. Die Unruhen in den Achtzigern in Zürich haben mich geprägt. Ich habe sie aber nie als etwas Schweizerisches empfunden, denn es gab sie ja zu der Zeit überall. Meine Musik war für mich schon immer eher etwas Weltumspannendes.
[TB]: Bleiben wir also bei Punk und Aktionskunst: Wie hast du sie in deine Musik überführt?
[JL]: Mich faszinieren Klänge, die der Mensch von sich gibt. Das kann Sprache sein oder Körpersounds: Stöhnen, Lachen, Schmatzen und Wut. Das geht ja schon los, wenn ein Säugling anfängt, sich mit irgendwelchen Lauten und dadaistischen Grunzgeräuschen auszudrücken. Ich möchte Klänge ins Rampenlicht stellen, die in unserer Gesellschaft eher tabu sind oder die man sofort unterdrückt. Wenn ein Kind weint oder heftig herumschreit, dann sagt man ja oft sofort: «Pscht, sei still! Schrei nicht so, du nervst die anderen Menschen um dich herum.» Ich versuche diese Klänge zu befreien.
[TB]: Wie bearbeitest du diese Geräusche?
[JL]: In meinem Heimstudio höre ich die Aufnahmen durch und lege die Teile, die ich spannend finde, auf dem Sampler oder Computer ab. Aber ich bin kein Computerfreak. Ich bereite lieber ein paar Sounds und Effekte vor und spiele dann alles live und direkt ein. Ich kenne mich doch: Wenn ich am Computer zigtausend Möglichkeiten habe, die kleinsten Fragmente von Sounds zu bearbeiten und durch Filter zu jagen, dann verliere ich die Energie und die Direktheit. Am liebsten trete ich live auf: Da kommen noch Mimik, Körpersprache und meine Präsenz als Performer dazu. Ich gehe tief in mich selber hinein, hole meine Untiefen hervor und erreiche so auch die Gefühle der Zuschauer. Ich halte ihnen gewissermassen den Spiegel vor.
[TB]: In deinen Performances und Produktionen hört man auch heute noch die Nähe zum Punk. Ist die Auflehnung aus den Achtzigern immer noch da?
[JL]: Zu Beginn war das viel existenzieller. Ich wollte extreme Positionen ausloten und war gegen jegliche musikalischen und gesellschaftlichen Strukturen und Regeln. Heute bin ich ruhiger geworden und kann knapp, sehr knapp von meiner Musik leben. Das geht nur, weil experimentelle Musik nicht mehr nur in irgendwelchen Underground-Kellern stattfindet. Heute ist sie längst vom grossen Kulturkuchen einverleibt. Ich spiele mittlerweile auf Festivals, vor gemischtem Publikum aus drei Generationen. Sie hören sich das an, weil sie es exotisch finden. Meine Musik hat nichts an Sprengkraft verloren, jedoch hat sich die Gesellschaft gegenüber Aussenseiterkulturen stark geöffnet.