Am 26. und 27. August fand in der Tonhalle Zürich die dritte «Stubete am See» statt. Unter den 40 Konzerten der 27 Ensembles sagten besonders die 13 Premieren viel über den aktuellen Umgang mit Volksmusik aus. Auch wenn die Innovationen und Zugänge vielfältig sind, darf noch mehr ausgereizt werden.
Vor romantischer Bergkulisse bläst ein junger Geissenhirt kraftvoll ins Alphorn, eine Frau in grün-roter Tracht singt aus voller Kehle und ein verliebtes Paar hebt zum Tanze an. Dieses volksmusikalische Idyll aus dem späten 19. Jahrhundert schmückt die Decke des grossen Saals in der Tonhalle. Bis zum Umbau 1936 wurde bei Trachtenfesten – im Trocadéro an der Stelle des heutigen Kongresshauses und im Pavillon am See – ausgelassen zu Volks- und Salonmusik getanzt.
Heute erscheint es im ersten Moment fremd, wenn Ländlermelodien und Jodelklänge durch die Hochkultur-Hallen schwirren. Die Stubete am See, das Festival für Neue Schweizer Volksmusik, begegnet diesem Zusammenprall mit Lebendigkeit: Da wird auf vier Bühnen in allen möglichen Besetzungen musiziert, im Foyer getanzt, in Moderationen munter parliert. Die Besucher und Besucherinnen wechseln ungezwungen von Saal zu Saal und so mancher Tonhalle-Abonnent beginnt im Dreivierteltakt zu schunkeln.
Fühlen sich aber auch eingefleischte Volksmusik-Fans in diesem Ambiente wohl? «Da würde ich nie hineingehen, die Stimmung ist so vergeistigt», sagt Verena Bösch aus Wolfhausen, die mit ihrem Mann am Sonntag zum Tanzen aufs Bauschänzli gekommen ist. Auf der Festival-Aussenbühne treffen sich verschiedene Musikerinnen und Musiker zum spontanen Zusammenspiel. Die Böschs finden dabei eine Stimmung wieder, welche sie mittlerweile auf vielen ländlichen Stubeten vermissen: «Hier dürfen wir einfach tanzen und werden nicht zurechtgewiesen.»
Experimentelle Zugänge
Das von Tonhalle-Klarinettist Florian Walser (künstlerische Leitung) und Johannes Schmid-Kunz (administrative Leitung) organisierte Festival spiegelt den aktuellen Entwicklungsstand der Szene wider. Um Innovationen anzukurbeln, vergibt die Stubete am See Kompositionsaufträge, fördert den Nachwuchs und fordert von Ensembles, die schon 2008 und 2010 vertreten waren, neuen Stoff in Form von Premieren.
Auch wenn die Szene überschaubar ist, zeigt sich ihre Musik vielfältig. Den jungen Kontrabassisten Pirmin Huber aus Obermarch, der derzeit an der Musikhochschule Luzern mit Schwerpunkt Volksmusik studiert, entdeckt man in verschiedenen Formationen, mit Zugängen zur Volksmusik von intuitiv bis intellektuell: in der eher bodenständigen Stegreif GmbH, im Ländlerorchester (dem Hausorchester der Stubete am See) und im Marcel-Oetiker-Trio. Das Ensemble um den virtuosen Schwyzerörgeler Oetiker bedient sich bei der Premiere «Zeitgenössische Ländlermusik» einer Kompositionstechnik des Jubilars John Cage. Die drei Musiker blicken nicht auf Noten, sondern haben Stoppuhren und ein Raster mit stilistischen Anweisungen vor sich, das die Dauer der musikalischen Ereignisse bis auf die Sekunde festlegt. Es entsteht eine rhythmisch komplexe, jazzige «Komprovisation» voller Be- und Entschleunigungen. Zwischendurch sprudeln Ländlermelodien hervor, die aber wenige Takte später schon verfremdet, vom Schlagzeug (Christian Zünd) aufgespalten oder von Oetiker ironisch gebrochen werden.
Balztänze in Jodelsprache
Ganz andere experimentelle Extreme loten die Komponistin und Zeichnerin Charlotte Hug und der Volksmusik-Erneuerer Noldi Alder in ihrer Premiere «näbis Neus» aus. Auf der Bühne im kleinen Tonhalle-Saal hängen zwei «Son-Icons», die berühmten Klangzeichnungen der Zürcherin. Um die flatternden Transparente entwickelt sich eine dramaturgisch durchgestaltete Balztanz-Improvisation. Spielt Alder auf dem Hackbrett und mit der Violine ein rasantes Tonbingo, trumpft Hug mit achtstimmigen Bratschen-Klängen auf. Dann folgen Seufzer, suchende Juchzer, winselige Hilferufe und verzerrte Urschreie. Stimmliche Kopulationen, die im Spannungsfeld zwischen Trieb und Vereinsamung aus dem Naturjodel ein neues Klangerlebnis kreieren. Erst am Ende findet sich ein Hauch von Melodie, der aber im Atem des liebenden/kämpfenden Duos erlischt. Wie auch bei anderen Premieren der «Stubete am See» hat die aufregende Aufführung mit dem gesetzten Zeitrahmen ihre Mühen: 50 Minuten mit Innovation zu füllen ist schwierig. Da sind Effektreihungen und Wiederholungen als Fugenmaterial kaum zu vermeiden.
Klassik trifft Volksmusik
Wie bei den letzten Alpentöne-Festivals in Altdorf zieht sich die Begegnung von Klassik und Volksmusik durch beide Festivaltage. Dabei ist die Volksmusik nicht nur Muse, sondern sie wird als eigenständiges Material in verdichtete Kompositionen eingebettet. Die Komponisten und Arrangeure bedienen sich einer Stilpalette von Filmmusik bis Musical, Folk, und Jazz, sie nähern sich traditionellem Material selbstbewusst wie einst Ástor Piazzolla oder derzeit Marc O‘Connor. Doch die ausführenden Kammerorchester (Camerata Schweiz, Thurgauer Kammerorchester und Zuger Sinfonietta) hätten mehr Mut beweisen müssen, sich vom gewohnten Schönklang ab- und den schroffen und tänzerischen Elementen zuzuwenden.
Groovige Spielfreude findet das zehnköpfige Ländlerorchester in Markus Flückigers neunsätzigem Schloffätanz, einem von Pro Helvetia finanzierten Kompositionsauftrag. Zwischen den Spannungsbögen der vorantreibenden Ländler-Umdeutungen sind besonders die Ruhepole im Stile amerikanischer Minimal Music und die jazzige Piano-Stimme (Patricia Ulrich) aufregend. Eine wilde Kaskade von Ideen, die mit stehenden Ovationen belohnt wird.
Durchweg kurzweilig wirkt Fabian Müllers Hanneli-Concerto vor allem deswegen, weil der Cellist der Helvetic Fiddlers den verschiedenen «Dialekten» der Volksmusik feinfühlig nachzuspüren weiss und sie zu einem organischen, schwungvollen Ganzen vereint. Den programmmusikalischen Rahmen bildet eine Reise der Ethnologin Hanni Christen (1899–1976) durch die Schweiz.
Rücken frei für Wagnisse
Die diesjährige Stubete am See hat gezeigt, dass Volksmusik besonders dann glaubwürdig erneuert wird, wenn eine tiefgründige Beschäftigung und Identifikation mit den Musiktraditionen dahintersteckt. Ein wahrer Schatz sind die Balladen, der sich die Helvetic Fiddlers und die Thuner Sängerin Kristina Fuchs annehmen und mit neukomponierten Melodien zum Leben erwecken. In den wiederangeeigneten Texten geht es nicht um Patriotismus, sondern um einfache Geschichten: sie handeln von einer emanzipierten Müllerin oder einem Bauern, welcher lieber die arme als die reiche Frau heiratet.
Wie die Ensembles mit dem überlieferten «Rohmaterial» umgehen und wie prägend die Personalstile sind, lässt sich anhand der Bürgenstock-Polka verfolgen, dem diesjährigen Pflichtstück. Über das beste Arrangement stimmt das Publikum im Netz ab. Dabei ist neben der Innovations- und Variationsfreude schlicht und einfach die Sympathie für die Musiker wichtig. So muss man ihn einfach mögen, den wunderbar brummeligen Marco Zappa aus dem Tessin mit dem kabarettistischen Sendungsbewusstsein italienischer Cantautori.
Auch das Selbstverständnis und musikalische Temperament der Unterengadiner Musikerfamilie Janett alias Ils Fränzlis da Tschlin erwärmt nicht nur jede Beiz, sondern sogar den grossen Tonhalle-Saal. Wenn dazu noch der Organist Rudolf Lutz an der mächtigen Kleuker-Steinmeyer-Orgel abrockt und sie mal Leierkasten, mal Hammond-Orgel sein lässt, macht Volksmusik einfach Spass: Sowohl Berührungsängste wie Reglementierungen sind gefallen. Jetzt kann noch mehr gewagt werden.
Nachwuchs in der Neuen Volksmusik
Rumpus (Christian Simmen: Trompete, Flügelhorn; Fränggi Gehrig: Akkordeon, Arrangements; Thomas Stalder: E-Bass; Christoph Gautschi: Perkussion) aus dem Kanton Uri mixt Schweizer Volksmusik mit kubanischen, balkanischen und jazzigen Klängen.
[Theresa Beyer]: Woher kommt euer Bezug zur Schweizer Volksmusik?
[Fränggi Gehrig]: Volksmusik habe ich von klein auf gehört. Mein Vater spielte Akkordeon und Klavier und wenn wir gemeinsam wandern gingen, wurde immer viel gesungen.
[Christoph Gautschi]: Mein Bezug ist ein ganz anderer. So wie wohl jeder Schlagzeuger habe ich mit Rock angefangen, dann habe ich Jazz studiert und elektronische Musik gemacht. Erst als ich länger in Kuba war und mich die dortige Folklore so faszinierte, begann ich mich auch für meine eigene traditionelle Musik zu interessieren. Das Echte, das Lebensfreudige, die Kraft der Volksmusik – das musste ich erst finden.
[TB]: Was gab es da rhythmisch für Entdeckungen?
[CG]: Rhythmisch finde ich die Schweizer Volksmusik nicht sehr spannend, da hat die kubanische Rhythmik viel mehr zu bieten. Daher kommt wohl auch mein Anreiz, das miteinander zu kombinieren.
[TB]: Fränggi, wie integrierst du die verschiedenen Einflüsse?
[FG]: Da wir nicht einfach irgendwelche Stilrichtungen kopieren wollen, schreibe ich oft nur ein Lead sheet. Alles andere entsteht dann im Zusammenspiel. Ganz aus dem Bauch heraus mixt es sich so zu einem Rumpus-Arrangement.
[TB]: Könnt ihr euch mit der Szene der Neuen Volksmusik identifizieren?
[FG]: Auf jeden Fall, uns gefällt die Mentalität. Zwar machen wir konzertante Musik, aber trotzdem sind wir alle vier nicht die klassischen Notenfresser, die stundenlang die gleiche Stelle üben.
[CG]: Einfach spielen und probieren. Mir spricht das alles sehr aus dem Herzen.