Seit einigen Jahren geistert der Begriff «Hauntology» durch die britische Musiklandschaft. Damit versucht man die schillernden Klänge von Elektro-Formationen wie Burial oder den Sound des Ghost-Box-Labels ästhetisch zu erklären. Es scheint, als meldete sich hier in alten Klangsignaturen Unheimliches und Verdrängtes.
«Hauntology» – damit ist weniger ein Genre gemeint als ein Konzept, das die musikästhetischen Diskurse in Grossbritannien in den letzten Jahren mitbestimmte. Der Begriff geht zurück auf Jacques Derrida, der in «Marx' Gespenster» darzulegen versuchte, wie die menschliche Existenz am Anfang des 21. Jahrhunderts von Geistern der Vergangenheit besessen ist. Als Beispiel führte Derrida insbesondere den Marxismus an, der den Kapitalismus auch nach dem Ende des real existierenden Sozialismus noch heimsuche. – Seit 2006 wird Derridas Hauntology-Konzept von britischen Pop-Theoretikern wie Simon Reynolds oder Mark Fisher (alias K-Punk) thematisiert. Sie beziehen die Idee auf Sounds, wie sie in den Dubstep-Nocturnes von Burial, den halluzinatorischen Soundscapes von Leyland Kirby (aka The Caretaker), den psychedelisch verklärten Sample-Songs von Broadcast oder im retrofuturistischen Sound-Design des Ghost-Box-Labels zu hören sind.
Gespenstisches Knistern
«Es gab einige Formationen, deren Musik sich im weitesten Sinne als gespenstisch bezeichnen liess», sagt Mark Fisher. «Am offensichtlichsten war das beim Label Ghost Box – schon der Name hat ja etwas Geisterhaftes.» Das Label, das sich auf englische Elektronika zwischen den fünfziger und siebziger Jahren und ihrem Bezug zur Fernsehästhetik jener Zeit spezialisiert hat, hinterlasse einen esoterischen Eindruck. Zur gleichen Zeit sei die Gruppe Mordant Music mit ihrem Album «Dead Air» aufgetaucht, das einige Ähnlichkeiten mit den Ghost-Box-Veröffentlichungen aufwies. Die grösste Sache war 2006 indes die Veröffentlichung des ersten Burial-Albums, das tatsächlich über alle Massen gespenstisch klang. Und es enthielt ein zentrales klangliches Element, das für hauntologische Musik oft kennzeichnend ist: Das Knistern alter, gesampleter Vinyl-Schallplatten, im Mix in den Vordergrund gerückt, wurde zu einem charakteristischen Bestandteil des Klanguniversums. Wie Mordant Music beschäftigte sich auch Burial mit Erinnerung und dem Verlust von Zukunft. «Die verlorene Zukunft, die in Burials Musik betrauert wird, ist jene, die einem in den neunziger Jahren die Dance-Music versprach – in Jungle, Garage, 2-Step», erklärt Marc Fisher.
Auf dem Blog k-punk.abstractdynamics.org schreibt Fisher, der auch als kapitalismuskritischer Buchautor in Erscheinung getreten ist, unsere Gegenwart stehe, was Zukunftsentwürfe betreffe, im Vergleich mit der Vergangenheit schlecht da. Vielleicht deshalb klingen und knistern die alten Zukunftsentwürfe im Sound der Hauntology manchmal auch fast etwas nostalgisch. Nostalgie an sich ist Theoretikern wie Fisher noch kein Problem. Problematisch sei für die Gegenwartskultur indes Nostalgie im Sinne des «Nostalgie-Modus» – es handelt sich dabei um einen Begriff des amerikanischen Literaturwissenschafters Frederic Jameson: Dieser ging aus vom Film «Body Heat» aus den frühen achtziger Jahren, der sich auf inhaltlicher Ebene nicht auf die Vergangenheit bezog, formal aber – in der Nachahmung von Stilmitteln aus den vierziger Jahren – überaus nostalgisch war. Filme wie «Body Heat», findet Jameson, seien symptomatisch für die Unfähigkeit, ein spezifisches Bild der Gegenwart zu zeichnen.
Diese Unfähigkeit, schreibt nun Mark Fisher, sei charakteristisch für die kulturelle Gegenwart schlechthin – und besonders relevant für Pop: «In den achtziger und neunziger Jahren konnte man Musik – insbesondere Dance – noch als Gegenpart zum verstehen.» Während der britische Indie-Rock bereits damals unter diese Kategorie fiel, beschwor Dance trotz Sampling und anderen Techniken der Rekombination den Geist einer Pop-Moderne, eines populären Modernismus: «Was hier produziert wurde, klang völlig neuartig.» Unterdessen aber sei auch Dance dem «Nostalgie-Modus» anheimgefallen. «Die Krise ist seit Mitte der nuller Jahre offensichtlich.»
Ob Robbie Williams im Vierziger-Jahre-Swing-Modus, Amy Winehouse mit ihrer originalgetreuen Kopie vom Soul der sechziger Jahre oder jene zahllosen Bands, die die Musik der achtziger Jahre aufleben lassen (vom Post-Punk bis zum Synthi-Pop) – im Mainstream finden sich zahlreiche Beispiele für den «Nostalgie-Modus». Wo aber Rückblick und Pastiche zum Normalfall geworden sind, wird Geschichte gerade gelöscht: Sie ist als solche nicht mehr erkennbar – denn alles wird Gegenwart. Im Vergleich dazu erweist sich die Musik der Hauntology als geradezu utopisch. So wird etwa in der Musik von Ghost-Box-Acts wie The Focus Group, Belbury Poly oder The Advisory Circle ein Zusammenhang von Wissenschaft und Mystik imaginiert, der nichts mit der tatsächlichen Geschichte zu tun hat. Und die Gruppe Demdike Stare hat in neogotischer Düsternis jüngst auf drei Alben (jetzt auf der 3-CD-Box «Tryptych» erschienen) zwar alte Horrorfilm-Soundtracks, Ethno-Samples, Dub-Effekte, Techno und Industrial synthetisch vereint. Es geht dabei aber gerade nicht um die Reinszenierung eines etablierten historischen Kanons, sondern um die Neu-Kontextualisierung von Vergessenem und Verdrängtem. Oft sind in alten Sounds Zukunftsentwürfe enthalten, die nie realisiert wurden, und Horrorvisionen, die nicht eingetreten sind. Das eine wie das andere wird von der Hauntology an die Oberfläche gespült, neu zur Disposition gestellt.
Das Unheimliche
Und plötzlich erscheint die musikalische Vergangenheit nicht mehr als ein sicheres ästhetisches Terrain – es ist das Unverdaute, das Unheimliche, das in dieser Klang-Archäologie hervortritt. Wunderbar deutlich wird dies auf der DVD «MisinforMation», die Mordant Music in Zusammenarbeit mit dem Central Office of Information veröffentlicht hat. Eine archivarische, «hauntologische» Arbeit, die nichts Museales an sich hat. «Im Museum wird die Vergangenheit aufbewahrt», sagt Mark Fisher, «das Archiv kann hingegen für aktuelle Projekte genutzt werden. So gerade ist zu verstehen.» Auf der DVD «MisinforMation» finden sich nun Ausschnitte aus Lehr- und Dokumentarfilmen der siebziger und achtziger Jahre, die vom COI damals für Schulen und für das öffentlichrechtliche Fernsehen produziert wurden. Die Bilder aber werden mit einem dräuenden, mit Echo verhangenen Score von Mordant Music unterlegt, der von Originalkommentaren der Tonspur nur noch einzelne Worte oder Silben übrig lässt.
Wo der sinnstiftende Kommentar wegfällt, ermöglichen die Bilder eine neue Lesart der Dinge und Verhältnisse. So mutiert ein ursprünglich optimistisches Feature über «New Towns» (Hochhaussiedlungen am Stadtrand) in Grossbritannien zum «Dark Social Template» – ein schauderhaftes Siebziger-Jahre-Bild, das einem heute bald unendlich fern, bald unbequem vertraut vorkommen muss. So stellt sich am Ende des Mordant-Music-Remix nicht hübsche Sepia-Sentimentalität ein, sondern ein Bild von Ödnis und Trostlosigkeit ebenso wie von düsterer Schönheit und Unheimlichkeit, von Geheimnis und neuen Chancen.