Rudolf von Steiger verwandelt seit über 10 Jahren wissenschaftliche Daten in Musik. Im Interview mit Norient spricht der Weltraumphysiker über Musik und Naturwissenschaft, sonische Phänomene im All und erklärt, weshalb er die Utopie der Marsbesiedelung für Unsinn hält. Ausserdem erläutert von Steiger die Hintergründe einer Live-Improvisation des Schweizer Orchesters für Neue Musik Basel Sinfonietta. «Conversation with Curiosity» vertont Daten des Mars-Roboters Curiosity.
[Hannes Liechti]: Sie sind Weltraumphysiker am International Space Science Institute in Bern. Wie definieren Sie Klang, Musik und Lärm?
[Rudolf von Steiger]: Ich definiere diese Kategorien ganz wissenschaftlich. Klang ist für mich, wenn das Spektrum eine oder mehrere Linien zeigt. Ein Klang wird dann zum Lärm, wenn keine einzelnen Frequenzen mehr dominieren und es nur noch ein Rauschen ist. Hinter Musik aber steckt ein organisierender Geist, der Klänge bis hin zu Lärm – ich verstehe das ganz breit – auf eine gewisse Weise ordnet.
[HL]: Bei der Verbindung von Musik und Naturwissenschaft mag mancher zunächst einmal an Akustik oder Musiktheorie denken. Wo liegen die Verknüpfungen für Sie?
[RvS]: Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass viele Mathematiker auch Musiker sind. Ich glaube, wissenschaftliches und musikalisches Denken hat viele Parallelen. Auch Bach hat immer wieder mathematisch argumentiert. Zum Beispiel in einer Kantate, in der während der Sopran den Satz «Gottlob, nun geht das Jahr zu Ende» singt, genau 365 Noten zu zählen sind. Ich kann nicht beurteilen, ob hier tiefere Bedeutungen dahinterstecken, die Parallelen zwischen Musik und Mathematik sind aber nicht von der Hand zu weisen.
[HL]: Welchen Stellenwert haben sonische Phänomene im All, in dem durch das Fehlen von Luft Todesstille herrscht?
[RvS]: Die spielen eine grosse Rolle, in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. In der Naturwissenschaft gelten alle Schwingungen, die durch Druck ausgelöst werden, als akustische Phänomene. Die Sonne etwa schwingt als Gaskörper mit akustischen Wellen. Diese kann man wunderbar analysieren und damit viel über das Innere und die Zusammensetzung der Sonne herausfinden. Oder vor ein paar Jahren hat man eine Sonde auf den Titan geschickt. Als diese durch die Atmosphäre des Saturn-Mondes eingetreten ist, hat sie akustische Signale registriert und an die Erde übermittelt.
[HL]: Für den Laien ausgedrückt: Das All ist voller Klänge, nur hören wir sie nicht.
[RvS]: Ja genau. Die Wellenlängen bewegen sich nicht im Hertz- sondern im Mikro-, Nano- oder sogar Piko-Hertz-Bereich, das ist für das menschliche Ohr nicht hörbar. Dort, wo es aber kein Medium (wie auf der Erde die Luft) gibt, existieren auch keine akustischen Wellen. Zwischen der Erde und dem Mars gibt es etwa kein Medium, wir können der Marssonde also nicht zurufen.
[HL]: Mit Ihrer Formation HUGO – der Name kommt vom Human Genome Project – verarbeiten Sie seit Jahren wissenschaftliche Daten zu Musik. Wie muss man sich das vorstellen?
[RvS]: Zu Beginn stehen wissenschaftliche Datensätze wie DNA-Codes, Proteine, Daten eines Storchenflugs oder Umlaufgeschwindigkeiten von Planeten. Ich bestimme Algorithmen, die diese Daten in Musik umwandeln. Meine beiden HUGO-Kollegen, Daniel Schümperli (Klarinette) und Lukas Frey (Kontrabass) erarbeiten dazu ein Improvisationskonzept. Beide Herangehensweisen, die computergenerierte Musik und die improvisierte Interpretation stellen wir dann einander gegenüber. Dieses Grundkonzept geht zurück auf das Buch «Le hasard et la nécessité» des französischen Molekularbiologen Jacques Monod (1970). Er vertritt darin die These, dass fixe Regeln erst durch das Durchbrechen, durch den gelegentlichen Fehler im genetischen Code, zu einer freieren Weiterentwicklung, zu einer Evolution führen können. Das ist HUGO. (Siehe auch Norient-Artikel aus dem Archiv).
Das neuste Stück von HUGO: «Mont Crosin – Ein leises Säuseln (A Gentle Whisper)»
[HL]: Ist das nun schon Musik oder immer noch Klang?
[RvS]: Es ist insofern Musik, als dass ich die Daten anhand von Algorithmen in Töne umwandle und so auch ordne. Ich würde das aber noch nicht als Kunst bezeichnen. Dafür braucht es noch jemanden, der einen künstlerischen Impetus dazu bringt. In unserem Fall sind das die improvisierenden Musiker.
[HL]: Sie würden also gewissen strenge Ausprägungen von Formen Neuer Musik wie Serialismus, Aleatorik oder fraktale Musik nicht mehr als Kunst bezeichnen.
[RvS]: Wenn es sich um rein algorithmische Umwandlungen handelt, die gegebene Daten nur umwandeln, dann ist das für mich keine Kunst. Aber Musik schon.
[HL]: Im aktuellen Abonnementskonzert der Basel Sinfonietta steht mit «Conversation with Curiosity» ein Stück auf dem Programm, das auf Daten des Mars-Roboters beruht, die Sie dem Orchester geliefert haben. Wie kam es dazu?
[RvS]: Die Sinfonietta war auf der Suche nach einem Stück als Ergänzung zu Thomas Kesslers «Utopia II» (siehe Box). Damals ist gerade der Roboter Curiosity auf dem Mars gelandet. Es ist den Wissenschaftlern gelungen, zuerst eine Tonaufnahme einer menschlichen Stimme und dann einen Song des US-Rappers Will.i.am an die Sonde zu schicken und von dieser an die Erde zurück zu übermitteln.
Die Idee des Basler Orchesters war es nun, Musik von der Erde auf den Mars zu übertragen und dort abzuspielen oder Geräusche vom Mars auf die Erde zu übermitteln. Da musste ich enttäuschen: sich in real time in die Kommunikation zwischen der Erde und dem Mars-Roboter einzuklinken, ist kaum möglich. Zu gross die Gefahr, auf diese Weise einen falschen Befehl zu übermitteln, der die Sonde zum Absturz bringen könnte.
Ich habe schliesslich Daten der Wetterstation des Roboters zusammengestellt: Diagramme zu Luftdruck, Wind, Temperatur und UV-Strahlung auf dem Mars. Das Orchester hat ausgehend davon ein Improvisationskonzept erarbeitet. Was die Basel Sinfonietta nun daraus gemacht hat, weiss ich nicht. Da bin ich ebenso gespannt wie Sie. (Artikel von Theresa Beyer über die Live Improvisation der Basel Sinfonietta auf SRF-Online).
[HL]: Das Konzert steht unter dem Titel «Utopia». Was halten Sie denn als Weltraumphysiker von der Utopie, dereinst den roten Planeten zu besiedeln?
[RvS]: Das ist für mich eine sehr zwiespältige Idee. Ich glaube nicht, dass uns diese Utopie im Sinne des Slogans «Go West» – packen wir die Planwagen und gehen in den Westen – wirklich weiterbringen kann. Dafür sind die Lebensbedingungen auf dem Mars schlicht zu lebensunfreundlich. Das soll aber nicht heissen, dass wir keine robotische Missionen auf den Mars schicken sollten, die den Planeten für uns erforschen.
[HL]: Warum sollte sich denn jemand Musik anhören, die aus wissenschaftlichen Daten entstanden ist?
[RvS]: Man kann dadurch einen neuen Zugang zu den Daten bekommen. Wir sind allgemein ziemlich optisch fixiert, das heisst, wir müssen alle Daten immer optisch in Diagrammen darstellen. Ich finde es aber spannend, den akustischen Kanal zu wählen und dadurch einen neuen Zugang zu erhalten.
[HL]: Haben Sie selbst schon ähnliche Erfahrungen gemacht?
[RvS]: Ja, im Zusammenhang mit einer Vertonung über Sonnenwinddaten. An der Universität von Michigan, mit der ich eng zusammenarbeite, schreibt der Musiker Robert Alexander mit einem NASA-Stipendium an einer Dissertation über Sonification. Alexander hat uns diese Daten akustisch vorgeführt: Wir haben zwar nichts wirklich Neues herausgehört, fanden aber unsere vorgängigen Interpretationen im akustischen Ergebnis bestätigt. Das war eine spannende Erfahrung.
Komposition von Robert Alexander zum Venustransit vom 6. Juni 2012:
[HL]: An welchen Projekten arbeiten Sie mit HUGO zurzeit?
[RvS]: Wir haben in einem deutschen Dokumentarfilm mitgewirkt und ein Stück für den Soundtrack entwickelt. In «Das dunkle Gen» geht der Arzt Frank Schauder auf die Suche nach den Wurzeln der Depression, einer Krankheit, unter welcher er selbst leidet. Frank untersucht in dem Film auch die möglichen genetischen Ursachen der Krankheit. Für den Soundtrack haben wir ein Protein vertont, das mit Depressionen im Zusammenhang stehen könnte.
[HL]: Welche Daten stehen noch auf Ihrer musikalischen Wunschliste?
[RvS]: Eine Idee, die mir seit langem im Kopf herumschwebt, ist die Vertonung eines EKGs. Ich weiss nicht, ob es möglich ist, diese Daten so in Musik umzuwandeln, dass man minime Anomalien akustisch erkennt, ohne dass der oder die Kardiologin das Diagramm minutiös absuchen muss. Bis jetzt hatte ich diesbezüglich aber noch keine zündende Idee.