Die Alpfahrt
Im Juni 1974 wollte ich der Alpfahrt nicht einfach wie bisher zuschauen, sondern Hirten und Herde auf einer Alp am Säntis erwarten, um das von weither vernehmbare Geläute der «Sänntomsschölle» aufzunehmen. Im Appenzellerland werden die drei grossen kostbaren Schellen der vordersten Kühe zum Schutz vor Schaden von zwei Älplern an je einem Jochstecken gebuckelt. Aus diesem unwillkürlichen Schellenschütteln hat sich das «Schölleschötte» als Bordunbegleitung zum mehrstimmigen Naturjodel entwickelt: eine einzigartige Musizierpraxis. Notizen aus dem Feld aus dem Norient-Buch Out of the Absurdity of Life (hier bestellbar).
Am Nachmittag vor der Alpbestossung durfte ich eine Bäuerin, die das Frühstück für die Hirten im Rucksack trug, begleiten. Mit dem Laster, worin die Schweine transportiert wurden, fuhren wir auf der Fahrstrasse so weit als möglich und mussten danach den Aufstieg unter die Füsse nehmen. Aus den angezeigten anderthalb Wegstunden wurden drei, weil sich die Schweine im feuchten Waldboden und auf der Weide lustvoll suhlten. Der für Schweine übliche Lockruf, ein immer gleich hohes Zischen auf «Sch sch sch» und ein Stock bewährten sich.
Als wir endlich bei der seit Monaten nicht mehr bewohnten Hütte unterhalb eines ansteigenden Schneefeldes angekommen waren, tranken wir erst einmal heissen Tee aus der Thermosflasche und assen ein Stück Brot. Danach machten wir uns vor dem Einnachten an allerlei Arbeiten. Ich musste für die Männer, die um Mitternacht mit Treiben beginnen sollten, Fleischplatten richten, den Küchentisch für acht Personen decken, beim Brunnen Wasser holen und danach beim Beziehen der Betten mit eiskalten Leintüchern und Kissenanzügen helfen.
Die freundliche Frau empfahl mir, mich in den Kleidern zu Bett zu legen. Weil auch sie vor lauter Kälte den Schlaf nicht finden konnte, verkürzten wir uns die Nacht mit Schwatzen. Mit klammen Fingern schaltete ich beim Kerzenschein das Tonbandgerät ein und hielt den spontanen Bericht übers Älplerleben fest. Um drei Uhr war es höchste Zeit, Feuer zu machen, Wasser zu kochen und Kaffee aufzugiessen.
Ich trat in den silbrigen Morgen hinaus, wusch mich am Brunnen und legte das Nagra-Aufnahmegerät bereit. Der Senne, die Hirten und Zuhirten und der Bub sollten schon da sein. Plötzlich leuchteten weit unten in einer blumigen Weide oberhalb des dunklen Waldes drei rote Tupfer auf. Hundegebell und ein Muhen waren die ersten vernehmbaren Geräusche. Aber dann konnte man die drei aufeinander abgestimmten Schellen von Ferne hören. Das leise Gebimmel wurde lauter und lauter und schwoll schliesslich zum vollen ehernen Klang an. Männer und Vieh waren heil angekommen. Man begrüsste sich, als hätte man sich seit langem nicht mehr gesehen. Die Alpgemeinschaft stand zum «Gradhebe» zusammen. Die Schellen wurden während des «Ruggusse» (mehrstimmig auf blosse Wortsilben im Wechsel von Brust- und Kopfstimme singen) hin- und herbewegt. Danach gab jeder jedem die Hand und wünschte einen guten Sommer. Ich bediente die Männer bei Tisch und durfte mich schliesslich selber stärken. Weil die Kühe nach der Alpauffahrt weiden dürfen, ohne gemolken zu werden, suchten die jungen Männer die Ruhe. Der Bauer blieb noch eine Weile bei seiner Frau in der Küche. Ich ging rund um die Hütte, um Blumen zu pflücken und hörte ihn durchs offene Fenster fragen: «Ond?». Die Bäuerin antwortete: «Si ischt e Gschaffigi, e Flissigi, aber halt e Reformierti und ersch no e Gstudierti.»
Sollte ich beim Eignungstest als innerrhodner Bergbäuerin durchgefallen oder durch meine Konfession und mein Hochschulstudium vor einem harten Leben bewahrt worden sein? Ich verabschiedete mich rasch und stieg frohgemut den Berg hinunter.
Dieser Text wurde zuerst publiziert im ersten Norient Buch «Out of the Absurdity of Life».
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Published on December 11, 2014
Last updated on May 01, 2024
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