Popsterne in Addis Abeba
Addis Abebas moderne Populärmusik teilt sich in drei Generationen auf. Ab den 1930er Jahren swingte die äthiopische Hauptstadt zu Bigband-Sounds. Die 1960er und 1970er Jahren waren dominiert von der abessinischen Musik, ehe in den 1980er Jahren eine neue Popgeneration auf sich Aufmerksam machte. Nicht zur Freude von jedermann.
Taxifahrer Filimon schliesst seinen blau-weissen Lada Baujahr 1969 kurz. Es ist Samstagnacht in Addis Abeba, 23 Uhr. Die Bole Road, eine der Hauptachsen der Stadt, ist fast unbevölkert. Nur vor dem Eingang der Disco Illusion stehen ein paar Glückliche der Jeunesse dorée. Wer am Türsteher vorbeikommt, trägt weder Plastiksandalen noch Turnschuhe. Hier tanzen die Reichen und Schönen der äthiopischen Metropole zu R 'n' B und den internationalen Charts. Wir tuckern vorbei, heute suchen wir den abessinischen Groove: im Nachtklub Gazebo.
Filimon schmunzelt, als er den gähnend leeren Parkplatz entdeckt: «I wait. You be back soon.» Im schummerigen Innern begrüsst uns der Besitzer und Saxofonist Danny Boy. Er trägt sein langes Haar mit viel Pomade, eine sportliche Sonnenbrille und schweres Gold um sein Handgelenk. Danny Boy ist ein fester Bestandteil der Nachtklubszene von Addis Abeba. Nachtklub bedeutet in Äthiopien stets Livemusik. Eine so genannte Miniband, bestehend aus Keyboarder, Bassist und Saxofonist, begleitet eine Hand voll Sängerinnen und Sänger. Diese arbeiten in Rotation: Ein Sänger gibt zwei bis drei Lieder zum Besten, bevor er vom nächsten abgelöst wird. Von 22 Uhr abends bis 4 Uhr in der Früh, sechs Tage die Woche, singen sie die aktuellen Hits und modernen Klassiker der äthiopischen Popmusik. Danny Boy, einer von rund 20 Nachtklubbesitzern der Hauptstadt, spielt eine wichtige Rolle als Coach seiner Schützlinge. An der staatlichen Yared Music School wird kein Gesang unterrichtet. Die äthiopischen Musikstars von morgen trainieren im Nachtklub, der gleichzeitig wichtigster Arbeitgeber ist. Die Stimmung im Gazebo ist noch auf dem Nullpunkt. Hinten im Raum sitzen einzelne Nachtschwärmer und gönnen sich ein lokal gebrautes Bier. Auf unsere Frage, wieso sich keine «ferenjis» (Ausländer) in die Nachtklubs trauten, lacht Danny Boy. «Ferenjis gehen in die zahlreichen Bars, um Prostituierte aufzureissen. Sie interessieren sich nicht für die aktuelle äthiopische Musik.»
Drei Generationen von Musikern
Äthiopiens moderne Populärmusik teilt sich in drei Generationen auf. In den letzten Jahren von Kaiser Haile Selassies Herrschaft (1930-1974) swingte die Hauptstadt zu Bigbands, die gekonnt nationales Liedgut mit Jazz aufpeppten. Zu dieser ersten Generation gehören die herausragenden Crooner Mahmoud Ahmed und Tlahoun Gessesse. Beide sind noch heute populär wie auch die 1990 verstorbene Bzunesh Beqele, die in Begleitung der Imperial Bodyguard Band den äthiopischen Swing in die Nachtklubs brachte.
Die Sechziger- und Siebzigerjahre waren das goldene Zeitalter der abessinischen Musik. Francis Falceto veröffentlichte die musikalischen Highlights dieser Epoche in der zwanzigteiligen Serie «Ethiopiques», die beim französischen Label Buda Musiques erscheint. Erst Ende der Achtziger machte eine neue Popgeneration von sich hören. Ihre bekannteste Vertreterin ist Aster Aweke, deren Debüt «Aster» 1989 sofort einschlug. Im amerikanischen Exil gross geworden, reicherten Sängerinnen wie Aster Aweke oder Chachi Tadesse den äthiopischen Pop mit dem Synthesizer und neuen Musikstilen wie Reggae an. Die aufstrebende Worldmusic- Industrie verhalf ihnen dann bisweilen zu internationaler Aufmerksamkeit.
Mit der dritten und jüngsten Generation von Popmusikern erlebt die Musikbranche Äthiopiens derzeit einen Boom. Seit ein paar Jahren vertreten Sängerinnen wie Egigyehu alias Gigi oder der Überflieger Tewodros Kassahun, besser bekannt als Teddy Afro, einen aktuellen Pop, der Originalität und kommerziellen Erfolg verbindet. Die Newcomerin Zeritu Kebede zum Beispiel klingt beim ersten Hinhören wie Äthiopiens Antwort auf Céline Dion. Und wie so oft bewundern die Jungen die Alten - und die Alten kritisieren die Jungen. Der Komponist und Begründer des «Ethiojazz», Mulatu Astatke, dank Jim Jarmuschs Film «Broken Flowers» derzeit in aller Munde, hat wenig gute Worte für die «jungen Wilden» übrig: «Sie benehmen sich wie falsche Europäer», schimpft er im Gespräch. «Sie kopieren schlicht und einfach den westlichen Musikstil. Wir sollten nicht vergessen, dass wir Afrikaner sind!»
Eine der Aufsteigerinnen am äthiopischen Pophimmel ist Tsedenia Gebre Markos (siehe Interview). Wir suchen sie im Nachtklub Cave auf, wo ihre Performance zum festen Repertoire gehört. Beim Herabsteigen in die dunkle Höhle schlagen uns laute Beats entgegen. Die Tanzfläche ist voll mit Menschen zwischen zwanzig und fünfzig. Während sich die einen in Iskista üben, dem einheimischen Schultertanz, hüpfen andere ausgelassen über den Dancefloor. Nach Tsedenia schmettert Abdu Kiar, eine weitere lokale Grösse, seinen 2003-Hit «Addis Abeba». Die Ode an die Hauptstadt verwandelt das Cave sogleich in eine kollektive Karaokebar. Alle singen mit. Die Äthiopier lieben ihre Musik und kaufen diese fleissig - auf dem Schwarzmarkt. Im September 2005 wurde auf langjähriges Insistieren der Ethiopian Musicians Union ein Copyright-Gesetz in Kraft gesetzt. In ihrer Kampagne gegen die blühenden Raubkopien war die Musikervereinigung weniger um die Eigentumsrechte anderer als um die verlorenen eigenen Profite besorgt. Heute investiert ein Sänger durchschnittlich 10 000 Franken in die Produktion eines neuen Albums. Die Originalaufnahmen werden für 25 000 bis 45 000 Franken an eine Plattenfirma verkauft, die sich damit gleich sämtliche Rechte sichert. Gewinnbeteiligung und Tantiemen sind Fremdwörter im äthiopischen Musikbusiness. Die Plattenfirma dupliziert das Master und verkauft dessen Kopien als Kassetten und CDs den zahlreichen Musikläden im Lande. Doch die «musicabets» (Musikhäuser) bringen sowohl Original- wie Schwarzkopien unters Volk. «Der Schwarzmarkt», versichert uns der Topproduzent Dagmawi Ali, «ist seit Beginn des Copyright-Gesetzes geschrumpft, funktioniert jedoch hervorragend!»
Vor dem Cave bieten später schläfrige Bauchladenverkäufer Zigaretten, Taschentücher und Kaugummi feil. Filimon hat uns erspäht und bringt den Lada vor unseren Füssen zum Stillstand. Auf der Fahrt zum nächsten Klub Razzmatazz umzirkelt er die Schlaglöcher. Aus dem Radio rauscht ein Lied.
Staatlich kontrollierte Radiosender
Seit vier Jahren gibt es in Äthiopien FM-Radiosender. Die drei Stationen sind alle staatlich kontrolliert und spielen überwiegend nationale Musik. «Liebeslieder», wie der Musikjournalist Henok Semaegzer von der äthiopischen, auf Amharisch wie Englisch erscheinenden Zeitung «The Reporter» präzisiert. «Nach dem Motto: Lasst das Volk tagsüber in Romanzen schwelgen – das Politische regeln wir schon selbst.» Trotz gegenteiliger Beteuerung hat die äthiopische Regierung wenig Verständnis für ihre Kritiker. Das erlebt derzeit Superstar Teddy Afro, denn einige seiner Songs sind vom Radio verbannt. Auf seinem letzten Album «Yasstesseriyal» («Gott vergibt») beschwört Teddy den Traum eines vereinten Äthiopien, in dem sich politische Gegner vergeben. «Wann löst die Dämmerung die Dunkelheit ab?», fragt er im Titelsong und bedient sich damit einer alten lyrischen Tradition, die auf Amharisch «Wachs und Gold» heisst: Unter dem Wachs der wörtlichen Bedeutung liegt das Gold der tieferen Botschaft. Teddys Fans haben die böse Anspielung auf die Regierung sofort verstanden und dem Album einen Verkaufsrekord beschert. Denn während die Politik Salz in die Wunden streut, heilt die Musik Blessuren.
Interview: «Ich singe ausschliesslich für die Liebe»
Die Sängerin Tsedenia Gebre Markos ist ein Shootingstar der jungen äthiopischen Popszene. Über Politik zu singen, hält sie für keine gute Idee.
[Tobias Hagmann & Rahel Leupin]: Sie gehören zu einer neuen Generation von Sängerinnen, die stark von westlichem Pop beeinflusst sind. Wo bleibt das Äthiopische in Ihrer Musik?
[Tsedenia Gebre Markos]: Das Äthiopische kommt nicht zu kurz! Ich singe in meiner Muttersprache Amharisch, andere Interpreten singen in Oromo. Weiter dominieren einheimische Rhythmen und Skalen unseren Sound. Die äthiopische Musik baut auf Fünftonreihen auf, so genannten pentatonischen Tonleitern. Davon gibt es vier Varianten, die nach verschiedenen äthiopischen Ortschaften benannt sind: Tizita, Bati, Ambasel und Anchihoy. Aber auch, wie wir die Lieder singen, mit diesem Vibrato in der Stimme, macht unsere Musik unverwechselbar. In der Zukunft möchte ich vermehrt traditionelle Elemente wie die Krar-Laute in meinen Songs aufnehmen. Aber viel Spielraum habe ich nicht. Ich muss mich dem Markt anpassen.
[TH/RL]: Genau das kritisieren Musikveteranen wie Mulatu Astatke, der dem heutigen Pop vorwirft, die musikalischen Wurzeln des Landes zu vernachlässigen.
[TGM]: Die alte Generation behauptet immer, dass die Jungen es zu nichts brächten. Tatsache ist, dass das Publikum heute westliche und einheimische Musik hört. Bereits zu Beginn meiner Karriere coverte ich deshalb regelmässig englische Songs. Das war damals eine Neuheit, ich war damit fast alleine. Heute verdiene ich monatlich stolze 800 Franken, indem ich fünfmal die Woche in einem Nachtklub auftrete. Zuvor arbeitete ich für die staatliche Musikagentur. Die liess mich in sämtlichen Militärcamps des Landes auftreten. Ich musste mir meine Karriere hart verdienen und weiss, was es heisst, untendurch gehen zu müssen.
[TH/RL]: Wie hat sich die Popszene in den letzten Jahren entwickelt?
[TGM]: Die gesamte Musikbranche ist im Umbruch, und die Anzahl Sänger hat rapide zugenommen. Das hat zwei Gründe. Einerseits boomt die Wirtschaft. Immer mehr Künstler können von ihrer Musik leben. Andererseits haben sich die Leute an westliche Musik wie Hiphop oder Reggae gewöhnt. Sie wollen deshalb einen zeitgenössischen äthiopischen Sound, der diese Tendenzen aufnimmt. Das Problem ist jedoch, dass wir derzeit nur drei, vier Produzenten in Addis Abeba haben, die diese Verbindung schaffen. Hat das neue Copyright-Gesetz etwas bewirkt? Ganz und gar nicht, weil es die Regierung nicht durchsetzt. Das betrifft nicht nur die Musikverkäufer: Auch unter den Sängern wird viel voneinander kopiert (lacht). Wir klauen alle voneinander!
[TH/RL]: Und wie wirkt sich das politische Klima auf die Popszene aus? Können Sie singen und sagen, was Sie wollen?
[TGM]: Nein. Diese künstlerische Freiheit besteht nicht. Das beste Beispiel ist Teddy Afro. Mit seiner indirekten Kritik an der Regierung hat er sich auf ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel eingelassen. Politik in Afrika ist nicht zum Spassen. Darum kümmere ich mich nicht um Politik. Mit Ausnahme von einigen Songs, in denen es um Aids geht, singe ich ausschliesslich über die Liebe. Es lohnt sich nicht, politische Themen aufzunehmen. Das bringt nur Ärger.
Biography
Biography
Published on November 09, 2010
Last updated on June 03, 2021
Topics
From political music in the GDR, the trouble of punk musicians in China and the dangerous life of kurdish folk singers in Turkey.
About fees, selling records, and public funding: How musicians strive for a living in the digital era.
From westernized hip hop in Bhutan to the instrumentalization of «lusofonia» by Portuguese cultural politics.